Mit 13 von 15 möglichen Punkten hat Österreich das EM-Ticket schon vor dem Quali-Endspurt schon so gut wie sicher. Einerseits. Andererseits hätten drei der fünf Spiele leicht auch mit einem statt sieben Punkten enden können, dazu gab es das 1:1 im Test gegen Moldawien. Die Entwicklung in den anderthalb Jahren unter Ralf Rangnick macht einen optimistisch, die Erinnerung an die 2016er-EM vorsichtig.
„Immer Glück ist Können“, sagte Hermann Gerland einst. Die Frage ist: Trifft dieses Zitat des legendären Nachwuchs- und Co-Trainers von Bayern München auf das ÖFB-Team (schon) zu?
Nicht *nur* Glück
Nein, natürlich war das 2:1 in Linz gegen Estland nicht (nur) Glück, sondern ein hochverdienter, wenn auch hart erkämpfter Last-Minute-Sieg in einem Match, wo der Spielverlauf gegen Österreich sprach. Der Umstand, dass man nie in Hektik verfiel und stets weiter andrückte, war ein Zeichen für die Resilienz des Teams.
Nein, natürlich war auch der 3:1-Sieg in Stockholm nicht (nur) Glück, sondern das Produkt von höherer Effizienz vor dem Tor, höherer individueller Qualität und dem Umstand, dass – anders als in Linz gegen Estland – der Spielverlauf mit einigen ausgelassen schwedischen Chancen in jener Phase, als der Gegner klar gefährlicher war, dem ÖFB-Team entgegen kam.
Und nein, natürlich war auch das 1:1 in Brüssel nicht (nur) Glück, sondern der Lohn für eine starke erste Halbzeit auswärts beim Gruppenkopf und -favoriten. In der letzten halben Stunde lag ein belgischer Führungs- bzw. Siegestreffer zwar absolut in der Luft, aber er fiel eben nicht.
Die große EUROphorie
Erinnern wir uns acht Jahre zurück. Auf dem Weg zur EM 2016 in Frankreich hat die Truppe von Marcel Koller 28 von 30 möglichen Punkten geholt. Das grandiose 4:1 in Schweden gilt noch heute (zu recht) als einer der glanzvollsten Siege der österreichischen Fußball-Geschichte und war der Höhepunkt der Koller-Generation. Die Siegesserie sorgte für ein Euphorie-Ballon, der die Luft bei der Endrunde auf geradezu dramatische Weise entwich.
Die andere Seite der EM-Quali für 2015 war nämlich: Beide Siege gegen Russland und beide Siege gegen Montenegro kamen mit einem Tor Differenz. In Moskau zeigte das ÖFB-Team zwar eine Halbzeit lang ein ähnlich tolles Match wie in Stockholm, aber beim 1:0-Heimerfolg gegen Russland war Österreich ganz klar nicht das bessere Team und das 1:0 gegen Montenegro wurde ob vieler ausgelassener Chancen beinahe noch verschenkt. Schweden und (vor allem) Russland krachten bei der EM schmählich in der Vorrunde raus.
Kollers kleiner Kern
Kollers Mannschaft von 2014/15 war das erste österreichische Nationalteam seit Ewigkeiten, auf das man sich im Ernstfall verlassen konnte. Zur Wahrheit gehörte aber auch: Über 90 Prozent der Einsatzzeit in der Quali für die EM 2016 entfielen auf nur 12 (!) Spieler und die einzige Position, die nicht unumstritten besetzt war, war die des linken Innenverteidigers.
Der Kern der Mannschaft war damals sehr klein. Das hatte den Vorteil, dass sie extrem eingespielt war. Das hatte aber den Nachteil, dass sie anfällig war für Formschwankungen oder Verletzungen. Praktisch der ganze Stamm hatte in der Saison 2014/15 zumindest im ÖFB-Dress ein durchgängiges Hoch. Aber zur EM selbst kamen vor allem Harnik und Alaba im Formtief, Junuzovic wurde im ersten Spiel gegen Ungarn rausgetreten, Dragovic versank daraufhin im Treibsand. Die Alternativen fehlten völlig, Koller stellte im entscheidenden dritten Spiel gegen Island auf ein zuvor nie im Ernstkampf geprobtes Dreierketten-System um.
An diesem Tag gegen Island war Österreich überlegen, drängte auf den Sieg, der aber nicht gelang; das Nachspielzeit-Gegentor zum 1:2 setzte dem gefühlten Fiasko die Krone auf. In der Quali für die EM 2016 gab es viele knappe Siege, in jener für die WM 2018 drei Niederlagen mit einem Tor Differenz (2:3 Serbien, 0:1 Irland, 0:1 Wales), dazu Remis gegen Wales, in Irland und dann auch gegen Georgien. Man spielte tatsächlich signifikant schwächer als zwei Jahre zuvor, aber es fielen auch auffällig viele Punktverluste sehr knapp aus.
Ein Grund dafür war auch die fehlende Fähigkeit, auf einen Spielverlauf zu reagieren – das wurde 2016 und 2017 sehr deutlich. Rangnick scheut sich nicht, auch schon nach 20 Minuten einen Plan über den Haufen zu werfen – wie beim 3:0 in seinem ersten Spiel in Kroatien oder beim 4:1 gegen Aserbaidschan. Die Spieler sind clever und flexibel genug, dass diese Switches ohne Reibungsverluste über die Bühne gehen.
Der Vergleich macht vorsichtig
Zeitsprung, das Jahr 2023. Österreich hat Schweden in Wien 2:0 und in Stockholm 3:1 besiegt, der Lärmpegel vom Fan-Jubel war vor allem beim späten Führungstreffer im Happel-Stadion ohrenbetäubend. Das kommende Heimspiel gegen Belgien war innerhalb von drei Stunden restlos ausverkauft, die Euphorie um das Team hat im Juni ähnliche Sphären erreicht wie in Koller-Zeiten.
Schweden war in zweieinhalb der drei bisherigen Spiele gegen Belgien und Österreich teilweise eklatant unterlegen. Man beklagt zwischen Malmö und Umeå den Umstand, dass man vom nordischen Quartett aktuell am schlechtesten dasteht und aktuell sogar von den Finnen ausgelacht wird, letztes Jahr ist man in die C-Liga (!) der Nations League abgestiegen, hinter Norwegen und Slowenien.
Sprich: Anders als 2014/15 kann man sich 2023 nicht einreden, dass Schweden ein starker Gegner gewesen wäre. Estland schon gar nicht. Und Belgien hatte deutlich sichtbar mehr Reserven, obwohl der mit Abstand beste Spieler, Kevin de Bruyne, im Hinspiel gefehlt hat und das im Rückspiel auch wird.
Stimmungsdämpfer Moldawien-Test
Dass der Weg zur EM 2024 glanzvoller wäre als der zur EM 2016, kann man also nicht sagen. Und dann war da ja noch das Testspiel gegen Moldawien. Das Publikum in Linz, von dem man im ÖFB-Lager im März noch so geschwärmt hatte und das gerade in der auf der Kippe stehenden Partie gegen Estland den Funken auf die Spieler überspringen hat lassen, war ob der dünnen Darbietung hörbar ungehalten.
Rangnick probierte personell aus, Bachmann – ein Torhüter, der seine Stärken auf der Linie und seine Schwächen in der Ballbehandlung hat, damit bei Rangnick ohnehin nicht hoch im Kurs steht – patzte schon nach dreieinhalb Minuten schwer und fing sich ein Gegentor. Das nicht eingespielte Team fand nie in den gewünschten Rhythmus, es lief alles ein wenig aneinander vorbei, vieles war umständlich, wenig war zwingend. Anstatt noch weitere Reservisten bzw. Debütanten bringen zu können, musste Rangnick Alaba, Arnautovic, Baumgartner und Schlager bringen, später auch Sabitzer. Es gab zwar immerhin den Ausgleich, es war aber eher ein Stimmungskiller als ein Warmschießen.
Die Frage nach der Kadertiefe
Dennoch blieb der Test gegen Moldawien blieb nicht ohne Erkenntnisse. Die größte davon: Auf gar zu viele der Chefitäten kann Rangnick nicht verzichten, auch wenn der Kader 2023 um Welten tiefer ist als jener von 2015.
Waren damals zehn Startplätze de facto fix vergeben, sind es nun gefühlt nur drei – nämlich jene von David Alaba, Nicolas Seiwald und Michael Gregoritsch. Baumgartner war nach dem Wechsel zu Leipzig, wo er noch nicht wirklich zum Einsatz kommt, im September-Fenster Bank-Spieler und das Außenverteidiger-Trio mit Posch (rechts) und Mwene bzw. Wöber (links) verbreitet kein Bauchweh, aber auch nicht immer offensiv-spielerische Wucht.
Dennoch: Deutlich mehr Spieler als 2015 haben eben kein Dauer-Hoch. Sabitzer war im April und Mai verletzt, Arnautovic ebenso. Baumgartner kämpft um Minuten und war auch nicht zu 100 Prozent fit, Wöber ist mit Leeds abgestiegen, Lainer und Lindner haben bzw. hatten einen viel wichtigeren Kampf zu führen als den mit Gegenspielern.
21 Akteure haben in den bisherigen fünf Spielen zehn Prozent der möglichen Minuten (also 45 Minuten) auf dem Platz gestanden, vor acht Jahren waren es nur 16 Spieler mit zehn Prozent oder mehr gewesen. Haben die zwölf Spieler mit der meisten Einsatzzeit damals über 92 Prozent der möglichen Minuten gespielt, sind es in der laufenden Qualifikation keine 78 Prozent für das Top-Einsatzzeit-Dutzend. Anders als Koller damals kann Rangnick nun nicht nur Verletzungen und Formschwankungen ausgleichen, sondern auch je nach Kontrahent und eigener Spielanlage aufstellen.
Mit Schlager, Laimer oder Grillitsch im Zentrum? Mit Danso oder Lienhart hinten? Mit Wimmer oder Sabitzer im linken Halbfeld? Das ist ein Luxus, den Rangnicks Vor-Vorgänger nicht hatte. Das Moldawien-Spiel hat aber auch die Grenzen des Durchtauschen-Könnens aufgezeigt.
Unterschiedliche Erwartungshaltung
Ein ganz großer Unterschied in der Wahrnehmung ist die gestiegene Erwartungshaltung. Die frühen Koller-Jahre sind vor allem deswegen in so geradezu verkitscht schöner Erinnerung, weil man als Österreicher davor über ein Jahrzehnt von einer Misere in die nächste getaumelt war, man Hans Krankl und Didi Constantini als Teamchef ertragen musste, man inhaltlich selbst an die Mittelklasse den Anschluss verloren hatte und man realistisch nur auf das Ausbleiben einer Blamage hoffte. Der Fatalismus gehört(e) in Österreich einfach dazu: Mehr als Zufallssiege geht gegen die Guten nun mal nicht aus.
Dann kam Koller, führte modernes Pressing ein – oder mal grundsätzlich überhaupt eine konstant erkennbare Spielidee – und verbreitete etwas im österreichischen Fußball geradezu Unerhörtes: Optimismus, der mit Leistungen und Resultaten auch noch untermauert wurde. Es stand auf tönernen Füßen, wie man später merken sollte, aber es stand immerhin mal.
Letztlich war es die Koller-Zeit, die Foda zum Verhängnis geworden ist. Ohne das Koller-Hoch wären die phantasielose Spielweise und die hart an der Minimalgrenze streifenden Resultate unter Foda wesentlich besser angenommen worden. So war aber selbst, als im Herbst 2019 das EM-Ticket gesichert wurde, das Happel-Stadion kaum mehr als halbvoll. Foda wurde zähneknirschend geduldet, das EM-Hoch verpuffte schon im ersten Länderspiel-Fenster nach dem heroischen Kampf gegen Italien auf spektakuläre Weise mit unüberhörbaren „Foda raus“-Rufen, zwei Monate nach dem EM-Achtelfinale.
Die Fußball-Öffentlichkeit sah die Spieler bei Bayern München und Leipzig und mit Salzburg in der Champions League, wusste was sie können könnten und wussten vor allem aus der Koller-Zeit, dass ein strukturierter Offensiv-Plan mit einem Nationalteam bis zu einem gewissen Grad sehr wohl möglich war.
Rangnick kam und bewies das. Das Fußball-Volk sieht sich bestätigt und rennt dem Team die Bude ein, zumindest in Bewerbsspielen.
Und, was ist nun mit dem Gerland-Zitat?
„Immer Glück ist Können“? Nun, in den letzten zehn Monaten hat Österreich Spiele gegen Italien und Schweden (2x) gewonnen, hat in Belgien nicht verloren und späte Siege gegen Andorra und Estland eingefahren, dazu gab es ein 4:1 gegen Aserbaidschan und das matte 1:1 gegen Moldawien. Die Sample Size ist mit acht Partien also nicht sehr groß.
Wo Rangnicks 2023-Team weiter ist als Kollers 2015er-Truppe ist die Kadertiefe: Ausfälle und Formschwankungen können heute besser aufgefangen werden als damals. Die Erfahrungen aus 2016 lassen aber zu, dass man die laufende Qualifikation auch mit einem kritischen Auge sehen darf. Belgien? Ja, die haben Deutschland heuer geschlagen, aber das haben in den letzten Monaten gefühlt eh alle. Schweden? Nur noch ein Schatten der Vergangenheit. Aserbaidschan? Harmlos. Estland? Gerade nochmal gut gegangen.
Vor dem Turnier von 2016 konnten selbst Warnschüsse in Form von schwachen Aufbauspielen (knapper Sieg gegen Albanien, Niederlage gegen die Türkei, Bewegungstherapie gegen Malta) die überbordende Begeisterung nicht einfangen. Wie sich weitere Bodenwellen in Form von verhackten Tests wie dem gegen Moldawien auf die Stimmung vor der EM 2024 auswirken würden, kann man unmöglich vorhersagen.
Einerseits: Wer die rot-weiß-rote Fußball-Seele kennt, kann davon ausgehen, dass auch das die Erwartungshaltung kaum bremsen würde. Selbst unter Foda wäre man ja 2021 beinahe ins Viertelfinale gekommen – na, dann ist das mit Rangnick und diesem Kader doch das Minimal-Ziel! Andererseits ist der Horror der Endrunde von 2016 noch nicht ganz aus der aktiven Erinnerung gewichen, und die Auslosung wird die Erwartungshaltung natürlich beeinflussen. Heißen die Gruppengegner Frankreich, Spanien und Serbien – oder doch Schottland, Albanien und Slowenien?
Die Wahrheit ist: Ob „immer Glück“ beim ÖFB-Team „Können“ ist, kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht letztgültig konstatiert werden. Die EM wird Aufschluss darüber geben, die Art und Weise des Auftritts in Deutschland auch. Kann Österreich nächsten Sommer die Vorrunde überstehen? Sicher. Vielleicht sogar das Viertelfinale erreichen? Wer weiß! Gehört Österreich zu den Top-10 in Europa? Nein, realistischerweise nicht. Aber ist Rangnicks Team von 2023 weiter als Kollers Truppe von 2015?
Nicht in ausnahmslos allen Aspekten. Aber im Ganzen: Ja, sehr wahrscheinlich schon.