Ein Jahr vor der EM im eigenen Land herrscht in Fußball-Deutschland die blanke Panik. Das zweite WM-Vorrunden-Aus in Folge hat seine mentalen Spuren hinterlassen, eine ganze Reihe von peinlichen Resultaten in Testspielen lassen nun die Alarmglocken schrillen, Pundits und Medien sägen am Stuhl von Bundestrainer Hansi Flick.
Die WM sorgte in Deutschland für Wehklagen und Irritationen, die zum Vorrunden-Aus passen, aber nicht so recht mit den gezeigten (und eigentlich gar nicht sooo schlechten) Leistungen korrelieren wollten. In den fünf Spielen seither – einem krampfigen 2:0 gegen Peru, einem Last-Minute-3:3 gegen die Ukraine sowie Niederlagen gegen Belgien, Polen und Kolumbien – hat die Mannschaft von Hansi Flick mit der allgemeinen Negativ-Stimmung eindrucksvoll nachgezogen.
Lähmend statisch in der Offensive
Die Beobachtung bei der WM war, dass man (vor allem gegen Japan) das Spiel problemlos im Griff hatte, auch in Führung gegangen ist, sich aber schwer tat, bei allem Ballbesitz – 76 Prozent in diesem Spiel – in gute Abschlusspositionen zu kommen. Ähnliches war auch beim einzigen unmittelbaren Testspiel vor dem Turnier, einem späten 1:0 im Oman, zu erkennen. Gegen ein Spitzenteam wie Spanien war Deutschland zumeist einen halben Schritt hintennach und im Gegenstoß etwas ungenau, aber annähernd auf Augenhöhe und in der Schlussphase mit mehr Reserven.
Das Problem mit der Kreativität gegen ein defensives Team hat sich verschärft. Das Angriffsspiel ist extrem statisch geworden, mit jedem Spiel gefühlt ein wenig mehr. Es gibt im Grunde immer exakt einen logischen Pass und der kommt dann auch. Kein Wunder, dass dies von einer einigermaßen patenten Abwehrreihe (wie etwa jener von Polen) ohne allzu großes Schwitzen verteidigt werden kann. Es fehlen die löcherreißenden Laufwege, es fehlen unvorhersehbare Aktionen, es fehlt das Tempo.
Und es fehlen die Tiefenläufe – in diesem Punkt dem ÖFB-Team unter Foda nicht gänzlich unähnlich. Wirtz und Musiala, die in Warschau auf auf den offensiven Halbpositionen im 3-4-2-1 gespielt haben, sind eher Wusler, aber keine besonders vertikalen Spieler und Havertz auch eher eine Falsche Neun.
Bei allem deutschen Ballbesitz, denn exakt wie im Japan-Spiel waren es auch in Polen 76 Prozent: Es gab 26:2 Torschüsse und da waren eine Handvoll halbwegs vernünftiger Abschlüsse dabei, einige Verlegenheits-Versuche aus der Distanz, aber vor allem ganz viele harmlose Flanken in die grobe Richtung von Szczęsnys Gehäuse.
Fehlende Abstimmung in der Defensive
Gerade beim 3:3 gegen die Ukraine im tausendsten DFB-Länderspiel, bei dem die Gäste in Bremen bis zehn Minuten vor Schluss 3:1 geführt hatten, offenbarte eine weitere Schwäche: Die Defensive. Auch das war bei der WM zu erkennen, auch das hat sich nicht gebessert.
Dabei muss man zwei Aspekte beachten. Der eine ist ganz banal: Antonio Rüdiger ist der einzige deutsche Verteidiger von gehobener internationaler Klasse. In seiner Auflistung der besten zehn IV der Bundesliga hat der „kicker“ nur drei Deutsche: Tah spielt bei Flick nicht mal eine Nebenrolle, Hummels fehlt das Tempo und Ginter ist eh dabei.
Der andere Aspekt ist die fehlende Abstimmung, vor allem wenn Nico Schlotterbeck spielt. Der Dortmund-Verteidiger ist einer, der nach vorne denkt und dabei oft einen Mehrwert bietet, dabei aber einen entsprechenden Anker neben sich braucht, der ihn genau kennt und im Zweifel für ihn mitverteidigt. Das war Philipp Lienhart in Freiburg, das ist Mats Hummels in Dortmund, das ist aber keiner der ständig wechselnden Partner im DFB-Team.
Die Ukrainer (und dann auch die Polen) spielten gezielt die Pässe in die Schnittstelle zwischen Dreierkette und den im Ballbesitz weit aufgerückten Wing-Backs. Schlotterbeck wurde nach einer katastrophalen ersten Halbzeit gegen die Ukraine ausgewechselt und kam in den folgenden zwei Spielen nicht mal mehr zu einem Kurzeinsatz. Viel besser wurde das Experiment Dreierkette ohne ihn aber auch nicht.
Ständig wechselndes Personal
Ein weiterer Kritikpunkt, mit dem sich Flick konfrontiert sieht, sind die vielen Wechsel von einem Spiel zum nächsten. Die permanenten personellen Rochaden verhindern, dass sich ein Team bzw. auch nur der Kern eines Teams einspielen kann. In den fünf Matches 2023 kamen 31 verschiedene Spieler zum Einsatz, 23 davon in der Startformation.
Und nicht alles davon erschließt sich. Gegen Kolumbien, im letzten Spiel des Juni-Triples, spielte Emre Can, ein Sechser, zentral in der Dreierkette, während drei echte Verteidiger auf der Bank saßen. Ilkay Gündogan war im offensiven Halbraum wirkungslos, der von dort eine Etage nach hinten geschobene Musiala auf der Acht ebenso.
Dazu ließ sich das deutsche Team, einmal mehr bestenfalls mit Ansätzen von Automatismen aufgetreten, von Kolumbien schnell den Schneid abkaufen. Das robuste Spiel der Gäste ließ man über sich ergehen, hohe Ballgewinne wurden nicht gesucht, in Defensiv-Zweikämpfen waren die Deutschen zumeist Verlierer. In der Schlussphase wechselte Flick auf 4-2-3-1, ohne Effekt, Kolumbien legte das zweite Tor nach.
Ist das DFB-Problem ein Bayern-Problem?
Das Gerede vom „besten Bayern-Kader aller Zeiten“, der dem mittlerweile entlassenen Münchner Sportdirektor Hasan Salihamidzic vor allem im Laufe einer chaotischen Bayern-Rückrunde wiederholt um die Ohren flog, wirkt auch ins deutschen Nationalteam hinein.
Spieler wie Kimmich, Goretzka und Gnabry stehen zwar für das Triple mit den Bayern, gemeinsam mit Leroy Sané (der während des Bayern-Triples noch bei Man City seinen Kreuzbandriss ausheilte) aber im Nationalteam vor allem für fehlende Konkurrenzfähigkeit. Der Vorwurf: Das Potenzial, das diesen Spielern zugeschrieben wird, hält zumeist mit der Realität nicht stand.
Erstens haben die Bayern ohne Alaba, Boateng, Thiago und Lewandowski auch nicht mehr ganz die Durchschlagskraft wie noch 2020, zum anderen sind die Nationalteam-Nachfolger von Schweinsteiger, Lahm und einem Müller am Zenit seines Schaffens in drei Turnieren eben zweimal in der Vorrunde ausgeschieden und einmal fast.
Was das konkret mit der Nationalmannschaft zu tun hat? Einer der Talking Points bei den Bayern war die fehlende Chemie zwischen Goretzka und Kimmich, wobei Letzterer lieber mit Sabitzer an seiner Seite spielte als mit Goretzka, wie es letzten Herbst hieß – wegen der defensiven Stabilität, die mit Sabitzer höher wäre.
Was Kimmich meinte, wurde im März in der ersten halben Stunde des Heimspiels gegen Belgien deutlich. Die beiden besetzten das Zentrum im 4-4-2 und es gab kaum eine sichtbare Abstimmung zwischen den beiden. Die Belgien konnten genussvoll durch die beiden durchspielen, ein ums andere Mal, schon nach zehn Minuten waren die Belgier 2:0 voran und als Goretzka nach einer halben Stunde angeschlagen ausgewechselt wurde und Flick auf ein 4-3-3 umstellte, hatte man 30 der unterlegendsten Minuten seit langer Zeit hinter sich.
Der einzige verbleibende deutsche Bayern-Feldspieler ist Jamal Musiala, der seiner Form wie die Teamkollegen hinterher läuft und nicht an seinen überragenden Herbst anschließen konnte. Seine Stärken im Dribbling auf engem Raum konnte er gegen Polen nicht wie gewünscht einbringen, gegen Kolumbien startete er von der Acht.
„Die ärmste Sau, bei diesen Spielern!“
In Ermangelung eines starken Bayern-Blocks sind andere Spieler gefragt, die in ihren Vereinen aber international nur zweite Geige spielen. Vermutlich ist es das, was Rudi Völler meinte, als der neue DFB-Sportdirektor Flick „die ärmste Sau“, nannte, „weil er diese Spieler zur Verfügung hat. Das ist definitiv auch eine Qualitätsfrage!“
Dass „die Dreierkette nicht funktioniert“, gestand Flick nach den drei Tiefschlägen im Juni ein, sie wird wohl nicht mehr zur ersten Wahl bei der Frage der Formation gehören. Das 4-2-2-2 mit einem mal mehr (wie gegen Peru) und mal weniger (wie gegen Belgien) aufrückenden Kimmich im Zentrum wurde defensiv einmal nicht getestet und einmal besorgniserregend ausgehebelt.
Der Countdown läuft
Die beiden Lehrgänge im März und Juni wirkten, als wollte Flick das Pferd von hinten aufzäumen und an den Feinheiten feilen, bevor überhaupt die Basics festgezurrt sind. Dass fußballerisch rückwärtsgewandte Schreihälse wie Didi Hamann nun medienwirksam Flicks Rauswurf und die Installierung von Julian Nagelsmann – der im Gegensatz zu Flick noch nie im Nationalteam-Kontext gearbeitet hat – fordern, kann man als populistischen Schwachfug abtun, abgesondert, ohne tiefer in die Materie gegangen zu sein.
Klar ist aber: Flick steht nun massiv unter Zugzwang. Er kündigte an, ab Herbst mit einem deutlich kleineren Stamm arbeiten zu wollen, das wird auch nötig sein. Hinten fehlt die Sicherheit, in der Mitte die Abstimmung und vorne die Kreativität. In der Offensive ist vieles schematisch, aber wenig flüssig und schon gar nichts einfallsreich. Daran kann man arbeiten.
In der Defensive, wo die individuelle Qualität fehlt, wird es schwieriger. Flick kann sich keine Weltklassie-Außenverteidiger herzaubern und wer die Idealbesetzung neben Rüdiger ist, scheint unklar. Flick ist als Co-Trainer Weltmeister geworden und hat die Bayern zum Triple 2020 geführt, er ist kein Idiot. Aber der Countdown zur Heim-EM läuft und so richtig ist noch nicht klar, wie genau die Herangehensweise konkret aussehen soll.