Michael Cox-Interview (auf Deutsch): „Zidane ist der einzige Spieler, der nicht gut wegkommt“

Wenn es so etwas wie einen internationalen Star-Fußballblogger gibt, dann ist das Michael Cox. Der englische Fußball-Journalist hat gerade sein zweites Buch herausgegeben (wenn ihr es kaufen wollt, dann doch bitte über diesen Partnerlink, der euch nicht mehr kostet aber uns ein paar Cent bringt (hier für eBook und Taschenbuch-Version)). Dieses Buch heißt „Zonal Marking“ und das ist vor allem deshalb ein praktsicher Name, weil dies auch der Name seines Blogs ist, den er 2009 ins Leben gerufen hat und auf der er seither taktische Analysen bietet.

In seinem neuen Buch – das im Herbst auch in deutscher Sprache erscheinen soll – behandelt Cox die Entwicklungen im europäischen Fußball seit 1992, wofür er jeweils in Vier-Jahres-Abschnitten die Phasen der Dominanz eines Landes präsentiert: Holland, Italien, Frankreich, Portugal, Spanien, Deutschland und England. Wir haben mit Michael Cox im Ballverliebt Fußball Podcast Podcast ein Gespräch geführt.

Hier ist eine Abschrift davon in deutscher Übersetzung.

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Ballverliebt: Wenn man sich Fußball heute ansieht: Wer hat gewonnen, Johan Cruyff oder Louis van Gaal?

Michael Cox: Ich tendiere dazu, Van Gaal zu sagen. Das erste Kapitel des Buches dreht sich um diese beiden. Ihnen schwebte zwar eine recht ähnliche Spielanlage vor, aber sie hatten völlig unterschiedliche Ideen, wie man mit Stars umgeht – Van Gaal glaubte an das Kollektiv, Cruyff an individuelle Genies. Wenn man sich Europas Top-Teams heute ansieht und wie sie strukturiert sind, sieht man darin eher Van Gaals Philosophie.

Ajax hat 2019 viele begeistert, hat Real Madrid und Juventus in der Champions League eliminiert und wäre fast ins Finale gekommen. War dieses Team eher Van Gaal oder Cruyff?

Ein wenig von beiden. Das Interessante an diesem Ajax-Team ist, wie sie die Außenbahnen überladen und wie die Flügelspieler miteinander spielen. Das ist zwar genau, was Van Gaal nicht wollte – er hatte sie gerne sehr hoch und sehr weit außen – aber ich denke, dass dies so ein wenig die modernisierte Version von Van-Gaal-Fußball war. Aber in diesem Ajax-Team ging es nicht um die individuelle Klasse, sondern um das Kollektiv. Vor allem im Angriffsspiel.

Wenn man betrachtet, wie Cruyff den FC Barcelona in den 1990ern mit Stars ausgestattet hat und ihnen auch Macht und Einfluss verliehen hat und andererseits betrachtet, welche Star-Kultur bei Real Madrid herrscht – wäre Cruyff nicht womöglich bei Real Madrid noch besser aufgehoben gewesen, oder wäre das ein zu blasphemischer Gedanke?

Das ist ein guter Punkt, das muss ich zugeben. Das hatte ich nicht bedacht, weil man Cruyff einfach so sehr mit Barcelona in Verbindung bringt. Aber sein Umgang mit Stars passt in der Tat eher zu Real Madrid, wo es immer eher um Spieler und Präsidenten ging und der Trainer oft nur ein austauschbarer Mittelsmann war.

Nochmal zurück zu Ajax: Würde sich Trainer Erik ten Hag in der Premier League zurecht finden und wenn ja, bei welchem Klub?

Ich wüsste nicht, warum er in der Premier League nicht funktionieren sollte. Er ist ein toller Trainer, arbeitet viel am Positionsspiel und lässt einen ballbesitzorientierten Fußball spielen. Von den großen Klubs würde wohl Arsenal am Besten zu ihm passen, vom Spielstil und der Klubphilosophie her.

Das nächste Kapitel im Buch beschäftigt sich mit Italien. Die Serie A war in den 1990er-Jahren ganz klar die beste Liga der Welt. Das ist sie heute nicht mehr. Was fehlt der Serie A, abgesehen vom Geld für die großen Stars?

Es gibt drei Problemfelder. Zum einen natürlich, wie schon in der Frage erwähnt, das Geld. Das zweite ist, dass Italien mit der Trainer-Ausbildung in Coverciano damals fast ein Monopol auf perfekt ausgebildete Coaches hatte, da waren die Italiener den anderen um Lichtjahre voraus, aber heute machen das alle anderen Länder auch. Und der dritte Punkt, und das ist ganz eindeutig: Das Tempo in der Serie A ist erheblich langsamer als in den anderen Top-Ligen und das sieht man oft auch im Europacup. Es ist aber schwierig zu sagen, warum das so ist. Es kann das warme Klima sein, oder das Ambiente halbleerer Stadien – aber das fehlende Tempo ist international ein Problem.

Italien hatte damals genau wie heute, ausgehend von Coverciano, eine Unmenge an spannenden Trainern. Aber warum – wenn man von wenigen Ausnahmen wie Carlo Ancelotti absieht – sind sie außerhalb von Italien nie lange im Amt?

Im italienischen Fußball gibt es eine Kultur des kurzfristigen Denkens und Planens. Nicht selten wechseln Klubs ihre Trainer dort drei-, viermal in einer Saison. Damit gibt es auch keinen Anreiz für Trainer, mit einem langfristigen Plan zu arbeiten oder junge Spieler mit Geduld einzubauen, weil sie längst wieder weg sind, bevor man die Ergebnisse ernten könnte.

Das war etwa bei Antonio Contes Amtszeit bei Chelsea gut zu sehen: Mit seiner Dreierkette hat er die Premier League völlig revolutioniert und innerhalb eines halben Jahres hat ihn die halbe Liga kopiert. Aber er zeigte überhaupt keine Ambition, das Team auf ein breiteres, personelles Fundament zu stellen. Nach zwei Jahren war Contes Chelsea ausgebrannt und er ist wieder gegangen.

Zusätzlich wird in Italien kein Fokus auf unterhaltsamen Fußball gelegt, sondern nur auf das Einfahren von Resultaten. Capello war zweimal bei Real Madrid, ist zweimal Meister geworden und ist zweimal als Meister gefeuert worden, weil sein nüchterner Spielstil einfach nicht goutiert wurde.

Wenn man sich an die Serie A der 1990er erinnert: Welches war das unterhaltsamste Team, welches das frustrierendste?

Das coolste Team war aus meiner Sicht Alberto Zaccheronis Udinese. Zac ließ ein 3-4-3 mit drei echten Sturmspitzen spielen, zu einer Zeit, als das sehr unüblich war. Als Zaccheroni zu Milan ging und Bierhoff und Helveg mitnahm, formte er ein sehr ähnliches Team, nur mit mehr Flair, etwa mit Zvonimir Boban. Das frustrierendste Team dieser Zeit war vermutlich Inter. Dort gab es so viele tolle Stürmer, aber es fehlte ihnen völlig die Bindung zum Rest des Teams, weil dieses sehr destruktiv ein- und aufgestellt war. Der klassischen Zehner war zu dieser Zeit völlig aus der Mode gekommen und ein offensives Mittelfeld fehlte völlig.

Es gab ein Champions-League-Spiel von Inter 1998 bei Sturm Graz. Inter spielte in einem 3-5-2, vorne Ronaldo und Djorkaeff. Und wer war der am höchsten positionierte Mittelfeldspieler? Diego Simeone.

Das sagt alles, ja. Der offensivste Mittelfeldspieler ist ein Sechser.

Stichwort Sechser, kommen wir zum nächsten Kapitel: Frankreich. Nach der WM 2018 hieß es in unserer Bilanz: „Dafür, ein Spektakel zu liefern, sieht sich Didier Deschamps nicht zuständig. Der Mann war einer der weltbesten Sechser. Und man wird das Gefühl nicht los, dass er genau das in seiner tiefsten Überzeugung auch heute noch ist. Zinedine Zidane, sein Welt- und Europameister-Kollege von 1998 und 2000, war das genaue Gegenteil: Ein individuelles Genie, das sich nicht viel um die Struktur des Teams scherte. Einer, der durch Individualität hilft, nicht durch Mitdenken.“ Ist es dieser Gegensatz, den Frankreich zwischen 1998 und 2006 so gut zu einer Einheit formte?

Deschamps hat die Rolle des Wasserträgers mit offenen Armen angenommen. Was dabei aber vergessen wird: Er war balltechnisch ein wirklich sehr guter Spieler mit einer exzellenten Ballannahme. Er bekommt nicht ganz die Anerkennung, die er verdient, obwohl er den Weg für seine Nachfolger wie Claude Makélélé und N’Golo Kanté ebnete.

Könnte es aber andererseits sein, dass man in der französischen Tradition der Nr. 10 mit Platini und Zidane zu lange nach einem „neuen Zidane“ gesucht hat, dass man darüber die generelle Entwicklung weg von dieser Position übersehen hat?

Leute wie Yohan Gourcuff und Samir Nasri konnten die Erwartungen nach Zidanes Rücktritt nicht Erfüllen. Man kann nur dann sinnvoll ein Team um eine Nr. 10 herum aufbauen, wenn man einen Nr. 10 hat, die gut genug ist, ein Team um diese herum zu bauen. Das ist eine banale Erkenntnis, aber Frankreich ist tatsächlich erst in den letzten drei, vier Jahren wieder in die Spur gekommen, als man das Spiel um die vorhandenen Stärken der vorhandenen Spieler konstruierte – also mit Griezmann als zweiter Spitze und ohne klassische Nummer zehn.

Bei Zidane hat man ja den Großteil seiner Karriere bereits vergessen, man erinnert sich nur noch an die Highlights. Im Buch wird auch auf seine Klub-Karriere eingegangen und über weite Strecken war er da, nun ja, nicht besonders gut. Oder zumindest nicht so gut, wie man das erwarten hätte können.

Natürlich war er ein toller Spieler und bei Turnieren oft grandios und hat große Momente produziert. Aber in seinen zehn Saisonen in Italien und Spanien – er war fünf Jahre bei Juventus und fünf bei Real Madrid – waren da eigentlich nur zwei wirklich starke dabei. Der Rest: Probleme mit Form, mit Verletzungen, kaum Assists, generell kein herausragender Beitrag und sehr unkonstant. Zidane ist wohl der einzige Spieler, der im Buch genauer unter die Lupe genommen wird und nicht besonders gut dabei wegkommt.

Die Stärkephasen von Frankreich und danach jene von Portugal sind mehr geprägt von Nationalteams, aber nicht so sehr von der eigenen Liga; und natürlich von Spielern und Trainern. Der bedeudendste Trainer von Portugal in den letzten Jahrzehnten ist zweifellos José Mourinho. Bei ihm wirkt es aber so, als wäre er über seinem Zenit. Warum ist das so?

Mourinho ist wohl über seinem Zenit, ja. Er ist einer der Trainer, die völlig anders arbeiteten als die Konkurrenten. Er legte einen extremen Wert auf das Scouting von Gegnern, als das sonst kaum einer gemacht hat, zumindest nicht in Mourinhos Intensität. Dann konnte er die Gruppe selbst immer gut managen, wobei heutige Stars wohl etwas anders zu behandeln sind als damals und er nicht zu Sonderbehandlungen bereit ist. Und dann war sein Trainingsmodell, das körperliches, taktisches und technisches Training nicht voneinander trennte. Das war damals selten, heute machen das bis zu einem gewissen Grad fast alle.

Portugal prodzierte immer großartige Flügelspieler – Figo, Simão, Quaresma, Nani, der junge Cristiano Ronaldo – aber kaum echte Torjäger. Nun geht João Félix zu Atlético Madrid und er fühlt sich wohl auf dem Flügel ebenso wohl wie in der Spitze und als Spielmacher. Hat die Entwicklung von Ronaldo vom Flügelspieler zum Strafraumstürmer womöglich einen Paradigmen-Wechsel zur Folge und ist João Félix das erste Produkt davon?

Es sieht tatsächlich so aus, als wäre João Félix nicht der klassische portugiesische Flügelspieler, sondern tatsächlich überall spielen kann, wenn er körperlich etwas zulegt. Die Ronaldo-Generation wuchs auf mit dem Idol Figo und jeder wollte der nächste Figo sein, der großartig war, nur eben ein echter, klassischer Flügelspieler. Nun eifern die jungen Portugiesen Ronaldo nach und Ronaldo ist der Pionier des ultra-vielseitigen Offensiv-Allrounders.

Das Ende der portugiesischen Ära wurde mit der Installierung von Pep Guardiola als Barcelona-Trainer manifestiert. Sein langjähriger Rivale Mourinho ist, wie erwähnt, wohl eher auf dem absteigenden Ast. Wann wird das bei Guardiola der Fall sein?

Der große Unterschied ist, dass Guardiola permanent seine Methoden und sein Spiel aktualisiert und anpasst – wohl mehr, als notwendig wäre. Pep hat sich verändert, als er 2013 nach Deutschland gegangen ist und noch einmal, als er 2016 nach England gekommen ist. Er hat nicht versucht, überall Barcelona-Fußball zu spielen, sondern hat sich den lokalen Gegebenheiten angepasst. Darum ist er so erfolgreich.

Die spanischen Jahre ab 2008 fallen zusammen mit einem Wiederaufleben der Ideen des holländischen „Total Football“ aus den 1970ern. Kann man Guardiolas Zugang unter dem Schlagwort „Total Midfield“ zusammenfassen – also im Grunde ist jeder Feldspieler ein Mittelfeldspieler – und ist das die logische Weiterentwicklung der Ideen, die mit Rinus Michels damals begonnen haben?

Ja, gut möglich. Schon damals war die Idee, dass sich die Stürmer zurückfallen lassen können und die Abwehrspieler hoch nach vorne schieben und sich allem im Mittelfeld zusammen zieht. Barcelonas Stil, der sich vor zehn Jahren entwickelt hat, ist eine Neuauflage davon. Die Wiederentdeckung eines pass-orientieren Mittelfeld war definitiv die bestimmende Kompenente des spanischen Fußballs und in der Folge des europäischen Fußballs in diesem Zeitraum.

Im Buch geht es auch um den argentinischen Einfluss auf Spanien und um zwei Spieler im Speziellen: Alfredo di Stefano, der in den 1950ern die starre Trennung von Abewehr- und Angriffspersonal aufweichen wollte und Lionel Messi, der im Grunde die Erfindung der „Falschen Neun“ forciert hat. Das wirft die Frage auf: Wird taktische Entwicklung im Fußball generell eher von Spielern oder von Trainern vorangetrieben?

Ich denke… puh, das ist eine schwierige Frage. Ich denke, dass es wohl im Bereich von 50:50 ist. Das ist eine langweile Antwort, aber viele Menschen denken, dass es sich vor allem um Trainer und ihre Ideen handelt. Aber es ist oft so, dass wenn Spieler von einem Land in ein anderes wechseln und einen neuen Stil bringen, dass das viel ausmacht. Messi ist ein gutes Beispiel dafür – er wollte ein Zehner sein und dribbeln, aber beides kommt bei Barcelona eigentlich nicht vor. So traf man sich in der Mitte: Messi ließ sich auf das Barca-Spiel ein und das Barca-Spiel schaffte Raum für Messi und seine Stärken und Vorlieben.

Vermutlich verschiebt sich das Verhältnis aber derzeit zu den Trainern, weil es nicht mehr so große Unterschiede gibt und Fußball von überall zu sehen ist. Eine Schockwelle, wie sie damals Eric Cantona und sein Spielstil nach seinem Wechsel zu Manchester United in der Premier League ausgelöst hat, ist heute nicht mehr so leicht vorzustellen.

Drei Paare haben Barcelona in den letzten Jahrzehnten geprägt. Erst Rinus Michels und Johan Cruyff. Dann Cruyff und Pep Guardiola. Dann Guardiola und Xavi. Nun hat Xavi in Katar seine Trainerkarriere begonnen. Reden wir in zehn Jahren vom nächsten Paar mit Xavi als Trainer?

Das wäre der logische nächste Schritt. Wahrscheinlich glaubt niemand so sehr an die Barcelona-Philosophie wie Xavi, er ist ein intelligenter und wissbegieriger Mensch, er zeigte schon früh die Ambition, Trainer zu werden. Ich halte es für ziemlich unvermeidlich. Die Frage ist nur, wie sein Weg aussieht, bis er früher oder später Barcelona-Trainer wird. Ähnlich sieht es mit Xabi Alonso aus, der zwar nicht bei Barcelona gespielt hat, aber ebenso bereits als Spieler wie ein Trainer gedacht hat und ebenfalls gerade seine Coaching-Karriere beginnt.

Aber auch Xabi Alonso hat mit Guardiola gearbeitet, nämlich bei Bayern München. Als sie gekommen sind, war der deutsche Fußball schon zurück an der Spitze, mit dem deutschen CL-Finale 2013 und dem WM-Titel 2014. Eines der zentralen Elemente dieser Rückkehr – und damit kommen wir nach Deutschland – war die Neu-Erfindung seiner selbst. Dazu gehörte auch das unkonventionelle Spiel von „Raumdeuter“ Thomas Müller und das Torhüter-Libero-Spiel von Manuel Neuer. Einer unserer Leser meinte kürzlich, dass Neuer einer der größten Torhüter aller Zeiten hätte werden können, wenn er nicht versucht hätte, seine Position neu zu erfinden. Stimmt das?

Neuers Leistungen in den letzten Jahren waren nicht mehr allzu außergewöhnlich, das stimmt. Aber Neuer war ein großartiger „klassischer“ Torhüter, selbst in der Blütephase seines Sweeper-Keeper-Spiels. Ich mit nicht sicher, ob ich mit dieser These übereinstimme und ich bin mit nicht sicher, ob seine Ausflüge der Grund dafür waren, dass seine Qualitäten auf der Linie nachgelassen haben.

Die deutsche Fußball-Landschaft ist nie mit Guardiola warm geworden, er wurde eher sogar dafür angefeindet, dass er zu wenig Fokus auf den Kampf legte und auch Löw dazu veranlasste, den klassischen Strafraumstürmer kaum mehr zu berücksichtigen. Kann es sein, dass eine Entwicklung wie Jürgen Klopps „Heavy-Metal-Fußball“ mit dem Gegenpressing mit der großen Bedeutung von Kondition, Kraft und Ausdauer die einzig mögliche war, die aus einem Land mit Deutschlands Fußballgeschichte kommen konnte?

Das kann schon sein. Es ist eine Kombination aus einer Weiterentwicklung von fußballerischen Ideen und einem Fokus auf körperlicher Robustheit und harter Arbeit. Das geht sicher mit dem kühleren Klima in Deutschland besser als etwa in Sevilla und das geht auch bei einem Arbeiter-Klub wie Dortmund sicher leichter als bei Bayern München. Erst als Dortmund zweimal damit Meister wurde, kopierten es die Bayern. Aber ja, das ist stilistisch sicher ein sehr deutsches Spiel.

In den Guardiola-Jahren waren die Bayern ein extrem innovatives Team und auch was die taktische Entwicklung angeht führend in Europa. Nun, ein paar Jahre später – wenn man sich etwa das Champions-League-Duell mit Liverpool ansieht – sind die Bayern ein ziemlich gewöhnliches Team ohne irgendeine spezielle Eigenheit. Liegt die aktuelle Schwächephase der Bundesliga nur am Abgang von Guardiola und Klopp?

Das ist wahrscheinlich der Hauptfaktor. Außerdem sind auch viele Spieler einer ungewöhnlich starken Generation alt geworden oder haben die Bundesliga verlassen, wie Toni Kroos. Und die anderen haben gelernt, mit dem Pressing umzugehen. Als Pochettino 2013 nach England kam, gab es in der Premier League de facto kein Pressing. Die deutschen Teams machten auf dem Feld Dinge, welche die englischen nicht einmal versuchten. Diesen Wettbewerbsvorteil hat Deutschland verloren.

Klopps Dortmund hatte mit seinem Gegenpressing-Spiel ein Ablaufdatum von drei, vier Jahren. Nun hat er bei Liverpool diesen Stil mit einem gestiegenen Ballbesitz-Fokus vermengt. Ist damit die Gefahr gebannt, dass auch Liverpool seine Halbwertszeit bald überschritten hat?

Wahrscheinlich hat Klopp die richtigen Lektionen aus seiner Spätphase bei Dortmund gelernt. Außerdem war Dortmund selbst in Klopps letzter Saison dort viel besser als die Resultate aussagen. Liverpool hat auch die Möglichkeit, einen breiteren Kader zur Verfügung zu stellen.

Und damit kommen wir zum letzten Buch-Kapitel, welches England gewidmet ist. Es ist heute häufiger geworden, dass Trainer in andere Länder wechseln, vor allem nach England. Die Premier League ist ein Schmelztiegel verschiedenster Fußballkulturen. Ist das ein Vorzeichen dafür, wie es in Zukunft überall sein wird, oder ist das ein Spezifikum der Premier League, dass es keine nationale fußballerische Identität mehr gibt?

Die Unterschiede werden generell sicher geringer. Aber die Premier League ist dahingehend einzigartig, dass hier fast gar keine eigenen Trainer produziert werden und fast völlig auf ausländische Trainer und ihre Ideen aus der ganzen Welt angewiesen sind.

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Ist das ein Zeichen von Stärke, da man sich die besten Spieler und die besten Trainer leisten kann? Oder ein Zeichen von Schwäche, weil man mit dem eigenen traditionellen Stil seit Jahrzehnten nichts mehr gewonnen hat?

Beides, würde ich sagen. Aber bei all dem Geld, das in der Premier League ausgegeben wird, waren die Europacup-Resultate der englischen Klubs bis zu diesem Jahr einfach nicht gut genug. Das hatte verschiedene Gründe, die meines Erachtens eher mit spezifischen Schwächen der einzelnen Klubs zu tun hatte, nicht so sehr mit einem kollektiven Problem. Auf hohem Level gibt es keine Teams mehr, die das traditionelle englische Spiel fortleben lassen und mit Stoke, West Brom und Cardiff sind in den letzten Jahren einige der letzten Exemplare abgestiegen.

In den letzten Jahren sind ein paar vielversprechende, junge und interessante englische Trainer zu Vorschein gekommen, die nicht direkt alteingesessenen englischen Fußball spielen lassen – etwa Eddie Howe von Bournemouth, Graham Potter bei Brighton und Chris Wilder bei Sheffield United. Ich hoffe, dass sich dieser Trend fortsetzt.

Sieht man einen von denen auch mal bei einem Top-Klub?

Ich mag Eddie Howe und ich glaube, dass eine gute Chance bestanden hätte, dass er den Job bei Tottenham bekommt, wäre Pochettino gegangen. Von den großen kann ich mir aber nicht vorstellen, dass jemand anderer sich trauen würde, Howe zu verpflichten. Der Sprung von einen Klub wie Bournemouth, den er in die Premier League geführt und dort etabliert hat, zu einem der Top-Teams, ist ohne Zwischenschritt wohl etwas zu groß.

Chelsea hat Frank Lampard einen noch großeren Schritt beschert.

Ja, und ich kann diesen Move nicht so reicht einschätzen, um ehrlich zu sein. Ich drücke ihm die Daumen, aber ich fürchte, dass diese Aufgabe für ihn ein wenig zu früh kommt.

Im Buch wird die englische Ära von 2016 bis 2020 angegeben. Ist das mit der Hoffnung auf eine erfolgreiche EM im nächsten Jahr verbunden?

Das Nationalteam ist gegenüber vor fünf, sechs Jahre definitiv besser aufgestellt und inhaltlich ist man viel weiter als etwa 2006 und 2010, als England Weltstars hatte, aber wirklich keine Ahnung taktischer Natur. In den letzten Jahren herrschte große Ernüchterung, aber jetzt wird das Verhältnis zwischen Spieler und Fans deutlich besser und das macht es auch für die Spieler leichter – es gibt diese Versagensängste nicht mehr.

Wie gut ist England?

Bei der EM finden Halbfinale und Finale in London statt. Wenn England da dabei ist, ist womöglich mit dem Heimvorteil vieles möglich. Es gibt aber noch einige Schwachstellen, wie die Passsicherheit im Mittelfeld und ich habe auch leichte Vorbehalte gegenüber Torhüter Pickford. Ich habe das ungute Gefühl, dass die WM letztes Jahr die eine echte Chance war, weil Kroatien im Halbfinale schlagbar gewesen wäre und England auch taktisch ein wenig naiv agiert hat. Was mit bei Southgate aber gefällt ist, dass er Risiken eingeht und Spielern vertraut. Er hat Callum Hudson-Odoi eingesetzt, gerade weil er bei Chelsea keine Chance bekommen hat und damit symbolisiert: Schaut, er ist gut genug, lasst ihn doch spielen.

Einige generelle Fragen noch. Der Widerstand der alten Garde ist eines der Themen, die sich durch fast alle Kapitel ziehen. Der Widerstand gegen die Ideen von Arrigo Sacchi in Italien, der Widerstand gegen die Aufgabe des Liberos in Deutschland, der Widerstand gegen einen weniger körperbetonten Zugang in England. Ist aus solchen Diskussionen jemals etwas Konstruktives entstanden oder waren das nur die letzten Zuckungen einer Generation, deren Ideen aus dem Fußball verschwinden?

Letzteres, in der Regel. Ich persönlich mag verschiedene Stile und hege eine gewisse Sympathie dafür, dass die Italiener stolz auf ihre Philosophie sind. Aber selbstverständlich muss man sich anpassen und mit generellen Entwicklungen Schritt halten, wenn man etwas gewinnen möchte. Es sind fast immer die progressiven Vordenker, die am Ende die Oberhand behalten und ich finde, dafür sollten wir dankbar sein.

Das Buch behandelt den europäischen Fußball und in diesem Zeitraum haben europäische Teams die Klub-WM fast nach Belieben dominiert und die letzten vier WM-Siege sind alle nach Europa gegangen, das hat es davor nie gegeben. Ist es wirklich so, dass man keine maßgebliche Entwicklung verpasst hat, wenn man die anderen Kontinente außen vor lässt?

Das ist leider so und ich finde das sehr traurig. Ich liebe es, dass der Fußball dieser globale Sport ist und es so viele regionale Varianten gibt. Aber alles Talent fließt heute nach Europa. Das Niveau selbst in Südamerika ist leider nicht besonders hoch – früher waren beim Weltcup die Teams aus Brasilien und Argentinien, die es zu schlagen gilt. Vor 20 Jahren hieß es in England, man müsse die WM schnell gewinnen, denn in zwei Jahrzehnten – also jetzt – ist die USA so weit, Australien womöglich auch, Japan ebenso; Nigeria und Kamerun sind gerade Olympiasieger geworden und schickten sich an, echte Kandidaten zu werden. Und nichts davon ist passiert. Im Gegenteil. Und das ist wohl auch einer der Kernpunkte des Buches: Europa bestimmt den Kurs wie nie zuvor.

Mr. Cox, wir bedanken uns herzlich für das Gespräch!

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Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.