Südamerika: Krönung für Argentinien, Zwiespalt für Brasilien

36 Jahre nach Maradonas Wunderturnier in Mexiko ist Argentinien wieder Weltmeister. Und wieder war es mit Lionel Messi einer der ganz großen Spieler der Fußball-Geschichte, der die Albiceleste zu einem Titel führt. Die neidischen Blicke aus Brasilien sind den jubelnden Fans in Buenos Aires sicher, zumal die Seleção die hohen Erwartungen zwar spielerisch erfüllen, aber nicht mit dem passenden Resultat untermauern konnte.

Hier der letzte Teil unserer Team-Bilanzen: Der Weltmeister aus Argentinien, die hadernden Brasilianer, das fahrige Team aus Uruguay und die Ecuadorianer, die ihre gute Ausgangslage nicht nützen konnten.

Link-Tipps:
Südamerika bei der WM in Brasilien 2014
Südamerika bei der WM in Russland 2018

Argentinien: Einer für alle, alle für einen

César Luis Menotti ging es vor allem um das schöne Spiel, die Unterhaltung im Sinne von „La Nuestra“, der großen River-Mannschaft der 1950er. Carlos Bilardo wurde von Osvaldo Zubeldía sozialisiert, in der Mannschaft von Independiente in den 1960ern, wo für das Gewinnen jegliche Regeln des Anstands buchstäblich mit Füßen getreten wurde. Diese beiden Antipoden, die 1978 und 1986 die bisherigen zwei argentinischen WM-Titel geholt haben, bestimmen die beiden großen Denkschulen in Argentinien. Marcelo Bielsa bot mit seinem manischen Pressing-, Angriffs- und Manndeckungsspiel einen dritten Weg, weil er aber (außer Olympia-Gold 2004) mit der Albiceleste nichts gewonnen hat, ist er auch nicht wirklich ein Teil dieser Dichtome.

Und nun kommt Lionel Scaloni daher, Teamchef von Messis Gnaden – er hat sich persönlich dafür eingesetzt, dass Samapolis Co-Trainer nach der Implosion von 2018 übernimmt – und er hat geschafft, was Diego Maradona nicht geschafft hat, Alejandro Sabella nur zu einem gewissen Grad und woran Jorge Sampaoli in grandioser Form gescheitert ist. Er hat aus Messi und den anderen ein Team gemacht: Unter Scaloni – einst ein guter, aber kein weltbewegender Außenverteidiger bei Deportivo und Lazio – ist Messi nicht der Fremdkörper, der die zehn anderen mitschleppt. Er hat die Mannschaft zu einer echten Einheit geschweißt.

Mit Fernández und Mac Allister, jung genug, um die Kilometer zu laufen, die Messi nicht läuft und die ihm so ermöglichen, Messi zu sein. Mit De Paul und Paredes, die die Drecksarbeit der Zweikämpfe für Messi erledigen. Mit Julián Álvarez, gefühlt eine junge Version seiner selbst, bei Manchester City unter den Fittichen eines gewissen Pep Guardiola. Die Mitspieler sind bei Scalonis Amtsantritt einen Deal eingegangen: Nicht mehr Messi schleppt das Team, sondern das Team trägt Messi. Die Folge: Sieg bei der Copa América, Italien in der Finalissima geradezu vernichtet, 36 ungeschlagene Spiele in Folge. Und nun: Weltmeister. Unter Scaloni widerfährt Messi – der an 58 Prozent der Torschüsse im Turnier beteiligt war, die selbe Zahl wie Maradona 1986 – endlich auch in Argentinien die Liebe, die im zusteht. En Argentina nací, tierra de Diego y Lionel.

Scaloni ist weder Menotti noch Bilardo und schon gar kein Bielsa, er ist kein Dogmatiker. Er ist das ultimative Gegenteil davon: Mal reagieren auf den Gegner, mal dem Gegner eine unerwartete Aufgabe stellen. Mal Überladungen links, dann Überladungen rechts. Dann einfach mal ohne Flügelspieler links, sondern mit einem schrägen 4-3-3, in dem Alexis Mac Allister einfach Achter UND Linksaußen spielt. Oder ohne Flügelspieler rechts, mit De Paul in dieser Rolle. Oder beides, wie im Semifinale. Das Meisterstück war die Aufstellung von Enzo Fernández, im dritten Gruppenspiel gegen Polen erstmals von Anfang an: Mit dem Gestalter aus der Tiefe konnte Messi, der gerade gegen Mexiko (als Argentinien in einem 5-3-2 spielte und die schlechteste Turnierleistung ablieferte) völlig verloren aussah, weiter nach vorne rücken, ohne dass spielerische Qualität im Zentrum abging. Ab da ging es dahin, Argentinien steigerte sich von Spiel zu Spiel.

Man hat den ganz harten Weg genommen. Auftaktniederlage gegen Saudi-Arabien, zäher Glückssieg gegen Mexiko, profitiert vom nicht existenten Gegner gegen Polen. Gut gegen Australien, aber am Ende gezittert. Besser gegen Holland, aber in der Schlussphase ein 2:0 hergegeben. Ungefährdet gegen Kroatien, ja, und dann dieses Finale, ein 2:0 hergegeben, ein 3:2 nicht drüber gebracht. Und doch: Weltmeister. Und zwar ein verdienter.

Brasilien: Tites zweigeteiltes Team

Hätte das Experiment mit einem Erfolg geendet, alle hätten Tite zugejubelt. Gleichermaßen defensiv unglaublich stabil und das ungemeine, individuelle offensive Potenzial aus seiner Truppe herausgeholt – Chapeau! Denn Brasilien spielte effektiv mit zwei Fünfer-Teams. Hinten die (nominelle) Viererkette und Sechser Casemiro, die im Ballbesitz zu einer 3-2-Staffelung werden: Linksverteidiger Danilo rückt neben Casemiro in den Sechserraum, dafür bleibt Éder Militão, ohnehin gelernter Innenverteidiger, auf der rechten Seite hinten, bildet mit Marquinhos und Thiago Silva eine Dreierkette. Die Breite ist abgesichert, die Tiefe ist abgesichert, ideal.

Davor machten die fünf Offensivkräfte ihr Ding. RIcharlison ganz vorne, Vini Jr. und Raphinha auf den Außenbahnen, Neymar halblinks als Zehner, daneben Lucas Paquetà ein wenig aus der Tiefe als Achter. Die Gegner narren, schnelles Tempo, schnelle Tricks, gerne auch mal ein Seitfallzieher zu einem Tor. Nicht vollends befreit von allen Defensiv-Aufgaben, aber doch in ihrer Kernkompetenz bestärkt.

Und eigentlich ging es ja auch gut. Serbien machte der Seleção das Leben eine Zeit lang schwer, streckte aber nach einer Stunde die Waffen. Die Schweizer schienen nicht mal ein Interesse daran zu haben, Nadelstiche zu setzen. Das Last-Minute-0:1 der Reservisten gegen Kamerun kann man ohnehin nicht zählen – und dann überrollte man ein in Ehrfurcht erstarrtes Team aus Südkorea, lag schon zur Halbzeit 4:0 in Front. Nur: War Brasilien wirklich so gut oder wurde man einfach nicht getestet?

Es dauerte bis zum Viertelfinale, bis sich ein Team traute, die fehlende Unterstützung auf den brasilianischen Flügeln – Außenverteidiger halfen den Flügelstürmern nicht und vice versa – anzubohren. Und siehe da, Brasilien hatte sichtlich zu kiefeln. Als aber nach einer Stunde frische Außenstürmer gegen die müdegelaufenen Kroaten ins Spiel kamen, wurde Brasilien sicherer, Neymars Tor in der Verlängerung war verdient, der kroatische Ausgleich eine Mischung aus Zufallstor und arroganter Nachlässigkeit. Und dann war’s im Elfmeterschießen auch schon wieder vorbei.

Hätte Brasilien im Halbfinale den Argentiniern mehr Gegenwehr geleistet als Kroatien? Ziemlich sicher. War Brasilien eines der besten Teams des Turniers? Zweifellos. Ist Brasilien mit dem Aus im Viertelfinale – der fünften Niederlage im fünften K.o.-Spiel gegen ein europäisches Team in den letzten fünf Turnieren – unter Wert geschlagen? Ja und nein: Ja, weil selbstverständlich das Potenzial für mehr da ist. Nein, weil es dann halt doch der erste Gegner von seriöser Qualität war, der die Limits in Tites Taktik aufzeigte.

Der ungeliebte Nachbar hat sich den Titel in Messis letztem Turnier geholt. Mehr als eine Chance hat Neymar auch nicht mehr.

Uruguay: Spielerische Flaute trotz spielerischen Potenzial

Diego Alonso heißt der Mann, der den ewigen Óscar Tabárez als Teamchef von Uruguay abgelöst hat. Die Magie und die Gesundheit des 75-jährigen Maestro haben nach 15 Jahren fraglos nachgelassen, sein Nachfolger konnte mit der Qualität, die ihm ebenso fraglos zur Verfügung steht, aber nicht allzu viel anfangen. Was Uruguay bei der WM zeigte war – im negativen Sinne – sehr südamerikanisch.

Zum Auftakt gegen Südkorea agierte Uruguay in einer Weise, wie man es in den frühen Phasen der Copa Libertadores gerne sieht: Extremer Wille, volle Intensität, aber ohne die Fähigkeit, im Spiel mit kühlem Kopf auf einen Gegner zu reagieren, der es recht ähnlich anlegt. Die Bälle flogen fröhlich über Mannschaftsteile hinweg, um den Adressaten sofort in einen knochenharten Zweikampf zu schicken. Ein stringenter spielerischer Plan war nicht zu erkennen – erstaunlich, hat Alonso doch Spieler wie Vecino, Bentantur und Valverde in seinem Mittelfeld-Zentrum, mit De Arrascaeta in der Hinterhand.

Die Idee, Darwin Núñez von der linken Seite nach innen ziehen zu lassen, war wohl eine gute, hier kann er seine Wucht mit Tempo reinbringen, aber dem alten Luis Suárez fehlte der Biss (pun intended), die Frische und die Pace, einen Unterschied zu machen; auch Cavani ist weit über seinem Peak. Was Alonso in der Heimat aber richtig an den Kopf geknallt wird, ist die ambitionslose Vorstellung gegen Portugal. Mit einem extrem defensiven 5-3-2 schien Uruguay nur die Uhr ablaufen lassen zu wollen, verlor 0:2 und war damit auf Schützenhilfe angewiesen. Gegen Ghana kam man gegen einen destruktiven Kontrahenten zweimal durch, ja, aber auf der Jagd nach dem dritten Tor ließ man erst die Urgenz vermissen (das Parallelspiel stand ja passend), auch ein wenig den Plan, und als man drückte und wohl nicht ganz zu Unrecht auf einen Elfmeter in der Nachspielzeit pochte, war es zu spät. Uruguay war raus.

Seine beste Zeit als Trainer verlebte Alonso in Mexiko, wo er zwischen 2016 und 2019 mit Monterrey und Pachuca viel gewann. Es folgte ein erfolgloses Aufbau-Jahr mit dem damals neuen MLS-Team von David Beckham in Miami, gefolgt von der letztlich gescheiterten Mission in Uruguay. Wie so oft verbrennt sich der Nachfolger eines großen, langjährigen Trainers die Finger: Der Verband sucht bereits einen Nachfolger. Die Fans träumen von Marcelo Gallardo.

Ecuador: Selbstfaller nach zwei starken Auftritten

Das giftige Angriffspressing war einfach zu viel für Katar. Die Bürde des Eröffungsspiels gegen den Gastgeber wurde für Ecuador schnell zu einem beflügelnden Element: Man führte Katar regelrecht vor und hatte die Zuseher aus dem Gastgeberland schon zur Halbzeit aus dem Stadion gespielt. Enner Valencia traf doppelt, man kontrollierte das Spiel komplett. Aber hey, war ja nur Katar.

Den Mythos, nur daheim auf 2.900 Meter Seehöhe konkurrenzfähig zu sein, hat Ecuador schon vor vielen Jahren widerlegt, diese Annahme ist auch 2022 Blödsinn, zumal bis auf Torhüter Galíndez eh keiner der Stammkräfte in der Heimat spielt, sondern in Europa oder bei guten Klubs aus Nordamerika. Wie zum Beweis zog man Holland im zweiten Spiel phasenweise nach Laune durch das Stadion und musste sich grämen, nur 1:1 gespielt zu haben, anstatt einen verdienten Sieg eingefahren zu haben. Dennoch: Ein Remis gegen ein senegalesisches Team ohne Sadio Mané für das Achtelfinal-Ticket sollte doch kein Problem sein. Oder?

Teamchef Alfaro hat wohl gesehen, dass dem Senegal in deren Match gegen Katar nicht besonders viel eingefallen ist, wie man einen tief stehenden Gegner knackt. Also gar nicht erst auf einen Schlagabtausch einlassen mit den gut konternden Afrikanern, sondern sie arbeiten lassen – was womöglich auch geklappt hätte, wenn man nicht vor der Pause einen dümmlichen Elfmeter hergegeben hätte und danach wiederum selbst zur Kreativität gezwungen war. Dem Ausgleich folgte im direkten Gegenzug der erneute Rückstand, und immer kann es Enner Valencia dann doch nicht richten.

Der Argentinier Alfaro kassiert fürstliche 1,6 Millionen US-Dollar pro Jahr (!), schreibt seit dem WM-Aus fröhliche Kolumnen für „El Clarín“ in seiner Heimat und verlangt für eine Vertragsverlängerung ein Salär von 4 Millionen US-Dollar pro Jahr (!!!). Der Verband würde gerne, weil er wirklich viel aus dem Team herausgeholt hat, kann es sich aber eigentlich nicht leisten. An der Basis wird die Forderung vor allem als eines empfunden: als unverschämt.

Wie lief die Qualifikation?

Wer hat gefehlt?

Dass Brasilien und Argentinien nach Phasen der Schwäche nun doch wieder Lichtjahre vor der kontinentalen Konkurrenz sind, ist unstrittig; ebenso wie der Umstand, dass Bolivien und Venezuela trotz einzelner Erfolgserlebnisse chancenlose Nachzügler bleiben. Erstaunlicher ist, dass Paraguay seit dem Abtritt jener Generation um Barrios und Santa Cruz, die 2010 noch im WM-Viertelfinale war und 2011 im Copa-Finale, überhaupt nicht mehr auf die Beine kommt.

Chile steht vor einem ähnlichen Problem, hier hat die Generation jener Spieler, die in Kanada 2007 Dritter bei der U-20-WM-geworden (Arturo Vidal, Alexis Sánchez, Gary Medel, Mauricio Isla), zwei Copas América gewonnen haben und zweimal im WM-Achtelfinale an Brasilien gescheitert sind, keine Nachfolger gefunden. Auch stilistisch sind die aufregenden Jahre unter Bielsa, Borghi, Sampaoli und Pizzi vorbei.

Das chilenische Scheitern hatte sich abgezeichnet, bei Kolumbien war das nicht so. Aber drei Länderspiel-Fenster mit sieben sieglosen Spielen in Folge zwischen Oktober 2021 und Februar 2022 konnte die Konkurrenz aus Peru (13 Punkte aus den letzten 6 Spielen) nützen, um vorbeizuziehen. Zur zweiten WM-Teilnahme nach 2018 lange es für Garecas Peruaner aber nicht, im Playoff verlor man gegen Australien im Elfmeterschießen.

Wie geht es weiter?

Parallel zur EM steht im Sommer 2024 die nächte Copa América auf dem Programm, Ecuador wäre laut Rotation an der Reihe, hat die Ausrichtung aber zurückgelegt. Neben Peru hat auch die USA Interesse bekundet, Ecuador zu ersetzen, es könnte wieder ein 16-Team-Turnier sein – also mutmaßlich mit den Gästen aus der Concacaf-Zone, so wie bei der Jubiläums-Veranstaltung von 2016.

Schon viel früher, nämlich bereits in drei Monaten, geht es mit der Qualifikation für die WM 2026 los. Wie gewohnt werden die zehn Teams in einer einzelnen Gruppe eine Liga mit 18 Spieltagen absolvieren, die Top-6 sind fix bei der Endrunde mit dabei, der siebente spielt im interkontinentalen Playoff. Sprich: Neben vermutlich Bolivien und Venezuela wird nur ein einziges Team vollends auf der Strecke bleiben.

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Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.