Südamerika bei der WM 2018: Zu wenig echte Weltklasse

Zum vierten Mal hintereinander kommt der Weltmeister nicht aus Südamerika – Rekord. Schon im Viertelfinale war für den letzten des Conmebol-Quintetts Endstation – erstmals seit 2006. Brasilien muss sich einerseits ärgern, dass man die sicher größte Chance seit langem nicht genützt zu haben.

Andererseits aber festigte dieses Turnier die Vormachtstellung der Seleção, die bis zum Amtsantritt von Teamchef Tite vor zwei Jahren geraume Zeit nicht gegeben war. Argentinien ist am Ende, Kolumbien stecken geblieben, Chile nicht einmal qualifziert. So heißt der erste Verfolger am Kontinent derzeit Uruguay.

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LINK-TIPP: Südamerika bei der WM 2014

Brasilien: Ausgewogen und stark genug – eigentlich

2006 war Brasilien zu statisch, 2010 zu vorsichtig, 2014 mental nicht für die Heim-WM gerüstet (vor allem die längst in China untergetauchten Oscar und Hulk). Diesmal hat eigentlich alles gestimmt. Bis auf die Chancenauswertung im Viertelfinale. Denn obwohl Belgien einen perfekten Plan hatte: Was die Chancen und deren Qualität betrifft, hätte Brasilien dieses Spiel dennoch gewinnen können bzw. müssen.

Es ist argumentierbar, dass dies die beste brasilianische Mannschaft seit dem Titel von 2002 ist. Die Abwehr ist routiniert und lässt praktisch nichts zu, im Tor gibt es zwei Weltklasse-Optionen (neben Alisson noch Éderson von Man City). Im Mittelfeld gibt es die richtige Balance aus Absicherung und Vorwärtsgang, und vorne einen Neymar. Dieser hat seinem Image zwar mit seiner übergroßen Theatralik keinen Gefallen getan, grundsätzlich aber ein gutes Turnier gespielt. Er hat zwei Tore erzielt (darunter das wichtige 1:0 im Achtelfinale gegen Mexiko), ein weiteres augfelegt, hat im Schnitt 4,6 Torschüsse pro Spiel vorbereitet. Gemeinsam mit Coutinho (der aus dem Mittelfeld heraus ähnlich produktiv war, aber weniger Risiko einging – logisch, wenn man seine Position berücksichtigt) bestimmte er den brasilianischen Angriff.

Man kann durchaus hinterfragen, ob Gabriel Jesus (statt Firmino) und Willian (statt Douglas Costa) wirklich die Optimalbesetzungen waren. Fagner ist nur dritte Wahl als Linksverteidiger (hinter den verletzten Dani Alves und Danilo) und das sah man auch. Weil aber auch alle anderen Teams ihre Schwächen hatten, hätte das vollauf zum Titel reichen können. Wenn man nur das Belgien-Spiel überstanden hätte.

Nach den peinlichen Auftritten bei den letzten drei Copa-América-Turnieren (Viertelfinale 2011 und 2015, Vorrunde 2016) hat sich Brasilien unter Tite – der nach dem 2016er-Turnier von Dunga übernommen hat – eindrucksvoll an der Spitze der südamerikanischen Hackordnung zurückgemeldet. Unter dem auch in der Heimat hochgeschätzten Tite, der als Trainer bereit bestätigt wurde, gab es bis zum unglücklichen 1:2 gegen Belgien in 16 Spielen 13 Siege und drei Remis.

Uruguay: Unspektakulär und kaum zu bezwingen

Glücklich, wer als Nationalteam über die Stamm-Innenverteidigung von Atlético Madrid verfügt. Godín und Giménez haben auch im Trikot der Celeste de facto nichts zugelassen, sind ohne Gegentor durch Vorrunde marschiert und sind danach nur von einem Eckball, einem Freistoß und einem Fehler von Keeper Muslera bezwungen.

Glücklich auch, wer Luis Suárez und Edinson Cavani als Stürmer aufbieten kann. Vor allem Cavani zeigte ein großartiges Turnier, war nach vorne stets brandgefährlich und arbeitete stark auch nach hinten. Im Viertelfinale bestätigte sich aber der Eindruck von der Copa Centenario vor zwei Jahren: Es geht nur mit beiden. Damals war nur Cavani dabei (neben ihm versuchten sich Rolán, Stuani und Hernández), Uruguay schied sang- und klanglos in der Vorrunde aus. Diesmal war im Viertelfinale gegen Frankreich ohne den verletzten Cavani nur Suárez dabei, die Offensiv-Power war gleich Null.

Dazwischen hat Óscar Tabárez, mit 71 Jahren der älteste Trainer des Turniers, den fälligen Generationswechsel aber vollzogen. Mit Bentancur (20), Torreira (22) und Nández (22) spielten drei ganz junge Spieler im Mittelfeld, das im Turnierverlauf auch in der Anordnung verändert wurde. Die ersten zwei Matches absolvierte Uruguay im flachen 4-4-2, dann kam Torreira auf die Sechs und Bentancr übernahm die Spitze einer Raute.

Mit dem verdienten Viertelfinale-Einzug etabliert sich Uruguay nach dem zweiten Platz in der Qualifikation weiterhin als zweite Kraft auf dem Kontinent. Dass es nicht für mehr reicht, liegt auch an den ein wenig fehlenden personellen Alternativen. Aber hey, Uruguay hat kaum halb so viele Einwohner wie Österreich.

Argentinien: Der komplette Kollaps

Viel erinnerte an Frankreich 2010. Eine Revolte unter den Spielern, ein entmachteter Trainer, internes Chaos und sportlicher Kollaps. Der Finalist von WM 2014, Copa América 2015 und Copa Centenario 2016 zerfiel in seine Einzelteile.

Man wirkte auch nie wie eine von Jorge Sampaoli – einem Apostel des Offensivspiels, des wütenden Pressings, der ungewöhnlichen Formationen – gecoachtes Team. Lahm und einfallslos in einem 4-2-3-1 beim 1:1 gegen Island. Komplett kollabierend gegen Kroatien in einem nicht funktionierenden 3-4-3, das völlig an Messi vorbei lief. Eine Halbzeit lang gegen Nigiera solide in einem 4-4-2, das danach dem Panikmodus wich. Man kämpfte aneinander vorbei, erzwang aber noch den nötigen Sieg. Im Achtelfinale (im 4-3-3 spielend) stemmte man sich mit Einsatz gegen die Niederlage, aber Frankreich konnte stets einen Gang höher schalten. Das von Sampaoli angekündigte 2-3-3-2 blieb eine Ankündigung.

In vier Spielen war nie erkennbar, was die Spielidee bei Argentinien sein soll, welche Rolle Messi einnehmen soll, wer nun eigentlich die Kommandos gibt. Mascherano geht das Spiel mittlerweile viel zu schnell, Di María war gegen Frankreich sagenhaft schlecht. Die in der durch 30 teilnehmende Klubs katastrophal verwässerten heimischen Liga spielenden Maximiliano Meza und Cristian Pavón haben kein internationales Format. Enzo Pérez ist kaum mehr als ein Mitläufer, Éver Banega spielt gute Pässe, aber ist zu langsam. Und Torhüter von Weltformat hatte Argentinien ohnehin nie.

Eine große Generation ist in Russland mit einem Knall abgetreten. Messi, Mascherano, Higuaín, Di María, Agüero, Banega, Otamendi – für sie alle war dies höchstwahrscheinlich ihre letzte WM. Mehr als zwei, drei Spieler aus dem aktuellen Team werden 2022 nicht mehr dabei sein. Oder muss man sich gar um die Teilnahme für Katar sorgen? Ohne Messi ist Argentinien nur das achtbeste Team in Südamerika. Achtmal trat man in der Quali ohne ihn an, sieben Punkte gab es in diesen Spielen.

Und es kommt auch zu wenig nach. In den letzten fünf U-20-Weltmeisterschaften hat Argentinien nur einmal die Vorrunde überstanden, ist 2015 gegen Österreich ausgeschieden, war zweimal nicht einmal qualifiziert. Die neuen Zentralfiguren in den kommenden Jahren werden wohl Paulo Dybala (der aber teamintern offenbar überhaupt keine Lobby hat) und Giovanni Lo Celso sein. Rundherum gibt es einige Kandidaten – Mauro Icardi von Inter, Manuel Lanzini von West Ham, eventuell Lucas Alario von Leverkusen. Aber längst nicht so viele, dass man automatisch von einem WM-Titelkandidaten sprechen könnte.

Kolumbien: Kein eindeutiges Urteil möglich

Juan Quintero wurde nach vier Jahren wieder ins kolumbianische Team zurückgeholt, spielte eine ansprechende WM. Radamel Falcao, der 2014 verletzt gefehlt hatte, machte endlich sein erstes WM-Tor. Yerry Mina und Davínson Sánchez gaben die Visitenkarte ab, nach dem nahenden Karriereende von Godín das beste Verteidiger-Duo Südamerikas zu werden.

Und doch: Es hing bei Kolumbien zu viel an James Rodríguez. Wenn der von Real zu den Bayern abgeschobene Kreativ-Spieler dabei war, war Kolumbien eine Macht – wie beim 3:0 gegen Polen. Wenn er fehlte, wie beim Achtelfinale gegen England, gibt es zwar immer noch einen Plan B (Dreierkette, um gegnerische Wing-Backs zu beschäftigen) und einen Plan C (Härte, um den Rhythmus und die Nerven des Gegners runterzuziehen). Aber spielerisch ist dann nicht mehr viel los.

Natürlich ist es auch Pech, dass man im ersten Spiel gleich nach fünf Minuten in Unterzahl ist – wiewohl Kolumbien dennoch Gruppensieger wurde. Natürlich ist es Pech, dass der wichtigste Spieler schon nicht fit zum Turnier kommt und sich nach anderthalb Spielen wieder verletzt. Natürlich ist es auch Pech, wenn man im Elfmeterschießen rausfliegt.

Darum sind die Kolumbianer einerseits unter Wert geschlagen worden, weil ein Halbfinal-Einzug genauso möglich gewesen wäre. Und andererseits haben sie auch wieder bekommen, was sie verdienen, wenn am Ende eben doch zu viel mit einem Spieler steht und fällt. Ein eindeutiges Urteil über dieses Turnier ist bei Kolumbien also nicht zu fällen. Aber: Dieses Team ist noch nicht am Ende. In den kommenden vier Jahren wird kaum ein Spieler aus Altersgründen rausfallen.

Peru: Gut, aber es fehlte Durchschlagskraft

Für Peru war es schon das Größte, erstmals seit 36 Jahren überhaupt an einer WM teilnehmen zu können. Mit einem verdienten Sieg gegen Australien im Gepäck ging es nach der Vorrunde wieder nach Hause, wirklich böse ist den Peruanern auch offenbar keiner. Dabei wäre eine Achtelfinal-Teilnahme nicht nur möglich, sondern eigentlich auch verdient gewesen.

Gegen Dänemark scheiterte man im ersten Spiel an der fehlenden internationalen Cleverness, aber keineswegs an einem besseren Gegner. Die sowohl auf einem solidem Defensiv-Block und einem ballbesitzorientierten Kurzpass-Spiel angelegte Strategie sorgte dafür, dass man im Grunde alle drei Spiele über weite Strecken unter Kontrolle hatte. Peru zeigte keinen Hauruck-Fußball, aber es fehlte die Durchschlagskraft.

Das Team hat nicht nur in der Qualifikation, sondern auch nun bei der WM selbst gezeigt, dass eine klare Philosophie und ein guter Teamgeist es ermöglichen, mehr zur erreichen, als eigentlich drin ist. Die Semifinal-Einzüge bei Copa América 2011 und 2015 wurden eher glücklichen Umständen zugeschrieben. Aber spätestens, als man 2016 bei der Centenario Brasilien eliminierte und danach zum WM-Ticket stürmte, zeigte sich echte Substanz. Viele Spieler werden auch noch einige Jahre für Peru spielen können.

Dennoch steht hinter der Nachhaltigkeit der Entwicklung ein Fragezeichen. Die peruanische Liga ist extrem schwach, in der Copa Libertadores – der südamerikanischen Champions Leauge – gewannen Perus Klubs nur 6 der letzten 60 Spiele. Zum fünften Mal in Folge findet 2018 das Achtelfinale ohne peruanische Beteiligung statt. Sogar die Klubs aus Venezuela und Bolivien haben bessere Bilanzen. Das sind keine guten Voraussetzungen, neues Talent an die Spitze heranzuführen.

Wer hat gefehlt?

In erster Linie hat man natürlich Chile vermisst. Der Sieger von Copa América 2015 und Copa Centenario 2016 sowie Finalist des Confed-Cups 2017 wurde hinter Peru nur Sechster in der Eleminatoria Sudamericana.

Zum Verhängnis wurde den Chilenen wohl vor allem die Altersstruktur. Da viele maßgeblichen Spieler praktisch gleich alt waren (und 2007 bei der U-20-WM vor Österreich Dritter wurden), verfügte Chile praktisch ein Jahrzehnt lang über ein extrem eingespieltes Team von gutklassigen Spielern. Nun sind sie allerdings alle gleichzeitig alt geworden. Bravo (35), Valdivia (34), Beausejour (34), Jara (32), Vidal (31), Medel (30), Isla (30), Alexis Sánchez (29): Diese acht Spieler alleine kommen auf 840 Länderspiel-Einsätze.

Marcelo Bielsa hat das Team aufgebaut, Jorge Sampaoli hat es zum Höhepunkt des Copa-Sieges im eigenen Land getrieben, Juan Antonio Pizzi hat mit dem Titel 2016 für das letzte Hurra gesorgt. Jetzt ist es die Aufgabe von Reinaldo Rueda, eine völlig neue Mannschaft zusammen zu stellen. Mit Namen, die man in Europa (noch?) nicht kennt und wohl auch mit einer anderen Spielweise. Rueda, der 2010 mit Honduras und 2014 mit Ecuador bei der WM war, steht eher für staubigen Fußball. Die Zeit der chilenischen Kunst ist vermutlich erst einmal vorbei.

Ein ähnliches Problem, also ein abrupt erzwungener Generationswechsel, macht Paraguay zu schaffen. Das Team, die von 1998 bis 2010 bei jeder WM dabei war (2x Achtelfinale, 1x Viertelfinale), 2004 Olympia-Silber holte und 2011 noch im Finale der Copa América stand, hatte keine Nachfolger. In der Quali für diese WM hatte man zwar bis zum letzten Spieltag eine Chance zur Teilnahme, verschenkte sie aber leichtfertig. Statt Legionären in Spanien, England und Deutschland tummeln sich die Spieler heute vor allem in der eigenen Liga. Der prominenteste Spieler in Europa ist Antonio Sabaría von Betis Sevilla.

Ähnliches gilt auch für Ecuador (WM-Teilnahme 2002, 2006 und 2014), wo die mittelfristige Prognose nicht so gut aussieht. Venezuela (viele Legionäre in Europas zweiten Ligen und in der MLS) hat derzeit ohnehin andere Probleme als Fußball und Bolivien (fast alle Spieler in der eigenen Liga aktiv) ist seit Jahrzehnten irrelevant.

So geht es weiter

Wie auch Asien, Afrika sowie Nord- und Mittelamerika geht es auch in Südamerika 2019 mit der nächsten Kontinentalmeisterschaft weiter. Im kommenden Sommer rittern die zehn Conmebol-Teams um den Titel. Turnusmäßig ist nun Brasilien mit der Austragung dran. In den WM-Arenen von Rio de Janeiro, Sao Paulo, Belo Horizonte, Porto Alegre und Salvador wird gespielt, zum Auffüllen – es wird in drei Vierergruppen gespielt – hat man sich diesmal Japan und Katar eingeladen.

Danach wird umgestellt. Ab 2024 findet die Copa dann stets parallel zur Europameisterschaft statt. Als sportlich wie finanziell hochwertigen Pausenfüller schiebt man 2020 erneut ein gesamt-amerikanisches Turnier ein. Diese Copa Panaméricana wird, wie schon die baugleiche Copa Centenario 2016, in den USA stattfinden.

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Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.