Afrikas Teams bei der WM: Kein Rückschritt trotz Debakel

Es ist paradox: Einerseits sind erstmals seit 1982 alle afrikanischen Teilnehmer in der Vorrunde gescheitert. Andererseits war es dennoch kein Rückschritt. Wir blicken auf die fünf Teams des ersten Kontinents, für den die WM in Russland vorbei ist. Die reine Punkte-Ausbeute ist mit 11 Punkten aus 15 Spielen fast gleich wie jede bei den letzten paar Turnieren – vor vier Jahren waren es zwölf Zähler gewesen.

Anders, als es in der Vergangenheit üblich war, zerfleischten sich die Teams diesmal nicht in aller Öffentlichkeit selbst – die Ägypter hielten die Spannungen zumindest bis nach dem letzten Spiel unter der Decke. Die Gründe, warum es nach Marokko (1986), Kamerun (1990), Nigeria (1994 und 1998), dem Senegal (2002), Ghana (2006 und 2010) sowie Nigeria und Algerien (2014) diesmal kein afrikansiches Team geschafft hat, liegen diesmal nicht an amateurhafter Organisation, einer korrputen Funktionärs-Kaste und individualistischen Ego-Shootern der Marke Eto’o im Spielerkader.

Die Reorganisation der Setzliste bei der Auslosung aber hat keinen Kontinent so hart getroffen wie Afrika. Dass erstmals nach FIFA-Ranking und nicht nach Geographie gelost wurde, bescherte Marokko und Tunesien Gruppen, aus denen sie realistischerweise unmöglich rauskommen konnten. Nach Papierform wäre das auf Nigeria genauso zugetroffen.

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LINK-TIPP: Afrikas Teams bei der WM 2014 in Brasilien.

Senegal: Simpel, solide, mit Potenzial

Aliou Cissé, der einzige schwarzafrikanische Teamchef bei dieser WM, hatte im Vorfeld einige System-Experimente absolviert, beim Turnier selbst spielte er aber in allen drei Spielen mit einem recht handelsüblichen 4-4-1-1 durch. Auch das Spielprinzip war relativ simpel: Umsichtige und körperstarke Innenverteidigung mit Koulibaly und Sané, kampfstarke Mittelfeld-Zentrale mit den England-Legionären Gueye, N’Diaye und Kouyaté, und nach vorne das Tempo und die Dribblings von Sarr und (vor allem) Sadio Mané.

Die Lions de la Téranga sind eine gut organisierte, sehr solide Mannschaft. Die Kehrseite der Medaille: Das Team ist auch relativ berechenbar und im offensiven Umschalten oft nicht konsequent genug. Das nützte Kolumbien im letzten Spiel – da konnte der Senegal nicht die nötigen Chancen kreieren.

Zeitweise war auch das Mitelfeld ein wenig offen (wie beim 2:2 gegen Japan) und obwohl er eine grundsätzlich recht ordentliche Figur abgegeben hat, war es auch ein Patzer des in Guinea spielenden Keepers Khadim N’Diaye gegen Japan, der zum Aus beigetragen hat. Am Ende waren es weder Punkte noch Tore, sondern zwei gelbe Karten gegenüber Japan, die den Unterschied zwischen Achtelfinale und Vorrunden-Aus gemacht haben.

Dennoch: Man darf mit dem ersten Auftritt auf der ganz großen Bühne seit 16 Jahren zufrieden sein. Das Team hat auf jeden Fall noch einen WM-Zyklus drin. Spieler wie Niang, Sarr und Wagué sind noch sehr jung und haben Entwicklungspotenzial. Für Aliou Cissé, der seit 2015 Teamchef ist, steht nun ein Afrikacup-Viertelfinale 2017 (Elferschießen-Aus gegen den späteren Sieger Kamerun) und eine sehr anständige WM-Gruppenphase zu Buche.

Nigeria: Gegen den Ball gut, mit Ball – naja

Das Team aus Nigeria verließ sich fast ausschließlich auf die defensive Stabilität. Gernot Rohr fehlte auch das Mittelfeld-Personal für ein gezieltes, offensives Ballbesitzspiel.

Der routinierte Ex-Chelsea-Spieler John Obi Mikel, der talentierte Wilfred Ndidi von Leicester, der auch noch sehr junge Oghenekaro Etebo (der vom spanischen Absteiger Las Palmas zum englischen Absteiger Stoke wechselt): Gut im Spiel gegen den Ball, aber nicht gerade kreative Köpfe.

Selbst gegen Kroatien, als Mikel nominell einen Zehner im 4-2-3-1 spielte, war dies eher als Abwehr-Maßnahme gegen Modric und Rakitic gedacht, nicht als Spielgestalter (was Mikel, bei aller Routine, nicht kann). Das 3-5-2, das gegen Island und Argentinien zum Einsatz kam, betonte die Stärken des Teams: Defensive Disziplin, Robustheit, Umschaltspiel.

Man wurde nur aus einem Eckball, einem Elfmeter, einem genialen Moment von Messi und einmal einer schlecht verteidigten Flanke bezwungen. Wie vor vier Jahren unter dem mittlerweile verstorbenen Trainer Stephen Keshi gilt aber auch 2018: Selbst ein Spiel aufziehen kann Nigeria nicht, und als Argentinien am Ende blind anrannte, gab es auch keinerlei offensive Entlastung.

Die Schwäche der Argentinier ermöglichte es Nigeria, in einer laut Papierform nicht zu überstehenden Gruppe nach dem Achtelfinale zu greifen. Es hat nicht ganz gereicht – aber man blieb ein fairer Verlierer und zerrüttete sich nicht intern. Und man hat nun den Kamerun als punktbestes afrikanisches Team der WM-Geschichte überholt. Immerhin.

Marokko: Spielerisch großartig, aber kein Stürmer

Hervé Renard heißt nicht nur „Fuchs“, er ist auch einer. Der Franzose, der schon Sambia und die Elfenbeinküste zu Afrikacup-Triumphen geführt hat, machte aus Marokkos Team in Rekordzeit die sicherlich aufregendste Mannschaft auf dem ganzen Kontinent. Vor ein paar Jahren war Marokko ein No-Name-Team, das außer einem Serie-A-Spielgestalter und einem Premier-League-Stürmer (Kharja und Chamakh) nichts hatte.

Heute ist Marokko ein Team, das alles hat – nur keinen Stürmer. Der wild rotierende Mittelfeld-Wirbel, der eine Halbzeit lang über den Iran hinweg fegte, war atemberaubend. Der Wille, mit dem man gegen Portugal den Ausgleich jagte, war beeindruckend. Und die Coolness, mit der man als bereits eliminiertes Team Spanien beinahe besiegt hätte, bestätigte den starken Eindruck, den Marokko hinterlassen hat.

Hätte Marokko am Ende sieben Punkte auf dem Konto gehabt und wäre Gruppensieger geworden – niemand hätte sagen können, es wäre unverdient gewesen. Aber: Trotz aller Dominanz wurde gegen den Iran und Portugal kein eigenes Tor erzielt und jeweils 0:1 verloren. Weder El Kaabi noch Boutaïb sorgten für die nötige Präsenz im Strafraum. Und so reichte es eben nicht zu sieben Punkten, sondern nur zu einem.

Anders als beim Senegal oder Nigeria ist diese marokkanische Mannschaft aber am Ende ihres Zyklus angekommen. Bis auf den hochveranlagten, aber schwierigen Hakim Ziyech von Ajax und Real-Madrid-Nachwuchs-Linksverteidiger Achraf Hakimi ist das komplette Team an die 30 Jahre alt oder schon drüber. Schade eigentlich.

Tunesien: Mit wehenden Fahnen, aber auch Pech

Erst war da die Auslosung, die den Tunesiern in der Gruppe Belgien und England beschert hat. Das war ein wenig Pech – denn so war das Vorrunden-Aus schon mehr oder weniger programmiert.

Und es kam auch noch Verletzungspech dazu. Der Kreuzbandriss von Kaptiän und Spielgestalter Youssef Msakni im Mai. Dann die Verletzung von Torhüter Moutaz Hassen im ersten Spiel. Die von Rechtsverteidiger Bronn im zweiten Spiel. Die von Ersatzkeeper Ben-Mustapha vor dem dritten Spiel. Die Tunesier konnten einem wirklich leid tun.

Dafür ließen sie sich nie entmutigen, und das ist ihnen hoch anzurechnen. Nach einer halben Stunde Verwirrung gegen England stellte man taktisch um, hielt bis zur Nachspielzeit das 1:1. Gegen Belgien bekam man zwar die Bude angefüllt, aber versteckte sich nicht und spielte mit. Ja, das war sicher ein wenig naiv. Aber Tunesien ging lieber mit fliegenden Fahnen unter, anstatt sich nur devot die zwei Niederlagen abzuholen.

Mit der selbstbewussten und vorwärtsgewandten Spielanlage zeigte auch Teamchef Nabil Maâloul, das er durchaus etwas bewegen kann, wenn er das Spielermaterial dazu hat. Beim Asien-Cup 2015 betreute er die völligen Blindgänger aus Kuwait, die selbst 5-Meter-Pass kaum auf die Reihe bekamen, bei drei Vorrunden-Niederlagen. Als eines von wenigen Teams switchte Tunesine zwischen mehreren Systemen (Grundlage war ein 4-1-4-1, zweite Halbzeit gegen England war es ein 5-3-2, gegen Belgien ein klares 4-2-3-1).

Die Belohnung für all das war der hochverdiente 2:1-Sieg zum Abschluss gegen Panama – nach einem frühen Rückstand. Es war der erste volle Erfolg nach 13 sieglosen WM-Spielen seit 1978. Die (in Europa überwiegend völlig unbekannten) Spieler sind auch durch die Bank noch so jung, dass dieses Team noch einige Jahre zusammenbleiben kann.

Ägypten: Harmlos auf dem Feld, unruhig im Umfeld

Nur Ägypten ist wirklich auf ganzer Linie gescheitert. Die Hoffnungen, dass Mo Salah dem Team den verblassten Glanz von drei Afrikacup-Siegen in Folge (2006, 2008, 2010) im Alleingang wieder zurückgibt, waren maßlos überzogen. Wahrscheinlich hätte das selbst ein vollkommen fitter Salah nicht geschafft. Drei Wochen nach der Schulterverletzung im Champions-League-Finale erzielte Salah zwar die einzigen beiden Tore. Die beste Leistung zeigte Ägypten aber im ersten Spiel gegen Uruguay, als Salah noch fehlte.

Die ägyptische Liga, von deren beiden Spitzenklubs Zamalek und Al-Ahly sich das Grundkorsett des Teams rekrutiert, ist laut Ranking die stärkste in ganz Afrika. Aber am Weg nach vorne fehlte es dem Nationalteam schon massiv an Tempo, Idee und Alternativen zum Plan „Gib Salah den Ball, der wird’s schon richten.“ Fünf der ohnehin nur acht Tore (in sechs Spielen) in der Qualifikationsgruppe hat Salah erzielt, ein weiteres hat er aufgelegt.

Wenn dann auch noch atmosphärische Störungen hinzu kommen, wie sie im ägyptischen Lager in Grosny im Nachgang des Turniers bekannt wurden, kommt man denn selbst in der leichtesten der acht Gruppen mit null Punkten aus dem Turnier heraus. Héctor Cúper, der Ägypten als erster Trainer nach dem großen Hasan Shehata wieder zu einigermaßen sinnvollen Resultaten geführt hat, wurde gleich nach dem 1:2 im letzten Spiel gegen Saudi Arabien entlassen.

Wer hat gefehlt?

Nicht dabei waren von den großen Namen der amtierende Afrikameister Kamerun, deren Vorgänger aus der Elfenbeinküste, dazu Ghana, Algerien und auch Südafrika. Sie haben den Cut zum Teil deutlich verpasst.

In Algerien hat nach der Trennung von Christian Gourcuff (der  Vahid Halilhodzic nach dem WM-Achtelfinale 2014 nachgefolgt war) wieder Chaos eingesetzt, man hat in den letzten zwei Jahren drei Teamchefs verbraucht und hat aktuell gar keinen – zudem steht alsbald ein Generationswechsel an. Von Schalkes Nabil Bentaleb abgesehen, gibt es aber kaum vielversprechende Talente.

Auch die Elfenbeinküste hat derzeit keinen Nationaltrainer. Der aus seiner Zeit als Belgien-Coach berüchtigte Marc Wilmots die Qualifikation gegen den gerissenen Renard und dessen Marokkaner verbockt und wurde entlassen, ein kolportiertes Interesse an Frank de Boer war offiziell nicht vorhanden. Aktuell leitet U-21-Teamchef Ibrahim Kamara das Team. Nach dem Ende der Generation um Drogba und die Touré-Brüder sind die Hoffnungsträger nundSerge Aurier (Tottenham), Franck Kessié (Milan) und Eric Bailly (Man Utd). Es fehlt aber ein wenig an der Breite.

Das selbe Problem hat auch der neue Kamerun-Teamchef, die Spieler-Legende Rigobert Song. Der Titel beim Afrikacup 2017 sieht mittlerweile eher wie ein Ausrutscher nach oben aus. Song hat einige starke Spieler zur Verfügung (Aboubakar von Porto, Zambo-Anguissa und N’Jie von Marseille und dem in China spielenden 2017er-Shooting-Star Bassogog), aber wie bei den Ivorern gibt es sonst nicht mehr als Durchschnitts-Qualität.

James Kwesi Appiah, der Ghana bei der WM 2014 eher suboptimal geführt hatte, ist seit einem Jahr wiederum Teamchef, konnte die schon unter Vorgänger Avram Grant verhaute WM-Quali aber nicht mehr retten – die Resultate dort und in Testspielen (2:0 gegen Japan, 1:1 gegen Ägypten, 3:0 gegen Saudi-Arabien) sehen aber okay aus. Unter ihm ist auch der Ex-Lustenauer Raphael Dwamena zum Teamspieler geworden.

Und Südafrika wird wohl so lange nicht aus der Talsohle kommen, solange niemand aus der gut organisierten und finanziell realtiv soliden, sportlich aber bestenfalls mittelmäßigen heimischen Liga den Sprung nach Europa wagt. Seit der WM von 2002 hat sich die Bafana Bafana für keine WM auf sportlichem Weg qualifizieren können, beim Afrikacup war man im gleichen Zeitraum nur einmal im Viertelfinale, aber gleich dreimal nicht qualifziert.

So geht es weiter

Im Sommer 2019, also in genau einem Jahr, steigt im Kamerun der erste Afrikacup nach der Turnierreform: Erstmals werden 24 statt wie bisher 16 Teams dabei sein, dazu wird das traditionell im Jänner bzw. Februar ausgetratene Turnier in den Juni verlegt. Die Qualifikation dafür (zwölf Vierergruppen, in denen jeweils die Top-2 das Ticket buchen) hat bereits mit einem Spieltag begonnen. Im September geht’s weiter.

Mit der Erweiterung ist quasi sichergestellt, dass keiner der großen Namen das Turnier verpassen wird. In den letzten Jahren hatten stets vermeintliche Favoriten die Qualifikation in den Sand gesetzt – wie Ägypten (2012, 2013, 2015), Nigeria (2012, 2015), Kamerun (2012, 2013), Algerien (2012), Südafrika (2010, 2012) und der Senegal (2010, 2013).

Die Erweiterung würde es theoretisch erlauben, dass Teams bzw. Trainer längerfristig etwas aufbauen können, ohne bei einem verpassten Afrikacup gefeuert zu werden und gleich wieder bei Null anfangen zu müssen. Die allgemeine Qualität des Turniers wird vermutlich nicht dramatisch sinken. Zum einen waren schon die letzten vier, fünf Turnier phasenweise kaum anzusehen, zum anderen besteht zwischen den Teams auf den Rängen 10 bis 25 in Afrika kaum ein nennenswerter Niveau-Unterschied.

Andererseits – und das ist beispielsweise im arabischen Raum ähnlich – wird die Chance zum langfristigen Aufbau so oder so nicht ergriffen. Der letzte Trainer, der in einem großen Land über mehrere Jahre hinweg arbeiten durfte, war Hasan Shehata in den Nuller-Jahren in Ägypten.

Das wird nun auch für den Senegal mit Cissé, für Nigeria mir Rohr, für Marokko mit Renard und für Tunesien mit Maâloul die größte Frage in der mittelfristigen Zukunft sein: Dürfen sie weitermachen?

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Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.