Europas zweite Reihe: Allgemeine Stagnation

Drei Teams aus Asien im Achtelfinale, zwei aus Afrika, eines aus der Concacaf-Zone: Die Bilanz der fußballerisch „kleinen“ Kontinente nahm reichlich Platz in der K.o.-Runde ein. Leidtragende waren vor allem die Teams aus der zweiten Reihe Europas: Gute Mittelklasse-Teams wie Serbien und Dänemark blieben schon in der Vorrunde hängen, ein belgisches Team am absteigenden Ast ebenso, Wales hatte nie eine ernsthafte Chance aufs Weiterkommen. Und selbst die Teams aus der Schweiz und Polen, die ihre Gruppen überlebt haben, fahren nicht gerade mit einem ganz breiten Lächeln nach Hause.

Link-Tipps:
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Belgien: Schlusspunkt mit Enttäuschung

Belgien, kein Großer mehr? Der (Noch)-Zweite im FIFA-Ranking, der Dritte der letzten WM, der ewige Geheimfavorit? Tatsächlich sieht es so aus, als wäre mit dem Vorrunden-Aus eine Ära zu Ende gegangen. Teamchef Roberto Martínez hat sich schon verabschiedet, der alternde und von Verletzungen geplagte Eden Hazard ebenso, die betagte Abwehr wird folgen. Bei der EM 2016 hatte man den falschen Trainer, bei der WM 2018 waren es die Fine Margins, die im Halbfinale fehlten, ebenso im EM-Viertelfinale von 2021. Die WM jetzt war das eine Turnier drüber.

Von den Kanadiern wurde man trotz des 1:0-Sieges hergespielt und dass man gegen Marokko 0:2 verlieren kann, hat der spätere Turnierverlauf gezeigt. Und ja, hätte Lukaku eine seiner vielen Chancen gegen Kroatien genützt, hätte es zumindest noch ein Achtelfinale gegeben. Und doch: Das Abwehrzentrum hat im Ganzen zu viel hergegeben, die Offensive war zu statisch. Belgien hatte schon große Probleme, überhaupt gewinnbringend den ersten Pass zu spielen; den Schlüssel zu Pässen ins Angriffsdrittel fand man erst in der zweiten Halbzeit des letzten Spiels.

Kevin de Bruyne wurde herumgeschoben und entfaltete nirgendwo annähernd die Wirkung wie bei Man City, Martínez setzte wohl zu viel auf einen deutlich nicht fitten Eden Hazard; Witsel war ballsicher, aber brachte kaum Impulse. Meunier und Castagne hielten defensiv gut dicht, brachten offensiv sehr wenig. Michy Batshuayi konnte den angeschlagenen Lukaku in keinster Weise ersetzen.

Es ist nicht so, dass jetzt für Belgien alles vorbei wäre, im Gegenteil. De Bruyne hat noch einige gute Jahre vor sich, das Milan-Duo De Ketelaere (21) und Saelemaekers (23, gar nicht im Kader) sowie die Talente Onana (Mittelfeld) und Doku (offensive Außenbahn) haben Potenzial, von Verteidiger Zeno Debast (19) erzählt man sich Wunderdinge. Ob es genug ist, wieder in die Sphären der letzten acht Jahre zurück zu kehren?

Schweiz: Achtelfinale, wie immer

Ein mit Belgien absolut vergleichbares Land hat es auf bewundernswerte Weise geschafft, seit zwei Jahrzehnten fast immer auf Achtelfinal-Niveau zu sein und dabei schon einen Generationswechsel hinter sich zu haben. Auch hier wird bald der nächste anstehen. Das Trio, welches von den U-17-Weltmeistern von 2009 den Durchbruch geschafft hat (Xhaka, Rodriguez, Seferovic) und das gemeinsam mit den etwa gleich alten Sommer und Shaqiri das Team getragen haben, kommt in den Herbst ihrer Karrieren.

Einstweilen war die Schweiz unter Murat Yakin, was die Schweiz auch zuvor war: Gut organisiert, schwer aus dem Weg zu räumen (missglückte Experimente außen vor gelassen), effizient. Und in hitzigen Spielen – wie 2018 auch diesmal gegen Serbien – war es die Eidgenossen, die ihre Emotionen besser in sportliche Leistung kanalisieren können. Dabei war die Schweiz aber auch weiterhin etwas phantasielos im Vorwärtsgang, wie man vor allem im ersten Spiel gegen Kamerun sah. Da tat man sich ungeheuer schwer, einen kreativen Gedanken gegen ein anständiges Team auch ausgeführt zu bekommen. Das ging gegen die Serben besser, weil diese ihre Abwehr zehn Meter weiter vorne postiert hatten, angriffiger spielten, die Räume hergaben.

Die Umstellung auf die Dreierkette im Achtelfinale gegen Portugal ging spektakulär in die Hose, weil die Abstimmung, die Abstände und die Abläufe in keinster Weise passten, womöglich erfolgte die Umstellung auf 3-4-1-2 auch in der Erwartung auf den statischen Ronaldo statt auf den quirligen Gonçalo Ramos. So ist es wie es fast immer ist bei den Eidgenossen: Man hat objektiv mit dem Achtelfinale einiges erreicht, mault aber wieder, dass man sich selbst um noch ein Viertelfinale gebracht hat.

Serbien: Verlorene WM für die Weltmeister

Die Schweiz war U-17-Weltmeister 2009, Serbien war U-20-Weltmeister 2015 – in einer Altersgruppe, die ja viel mehr über die Stärke des Jahrgangs im Erwachsenen-Bereich aussagt. Die Spieler von damals sind jetzt im besten Fußballer-Alter und genau das jetzt wäre die WM gewesen, wo Serbien mit dieser Generation wirklich was anfängt. Die Realität: Ein Punkt aus drei Spielen, Gruppenletzter.

Ja, man muss erstmal als Quali-Gruppensieger vor Portugal das WM-Ticket lösen, Sieg im entscheidenden Spiel in Lissabon inklusive. Dort hat Serbien einen sich allzu weit zurück ziehenden Gegner immer mehr bearbeitet, Angst geschürt und am Ende entscheidend zugeschlagen. Dergleichen war nun bei der WM nur in Ansätzen zu sehen. Über das Brasilien-Spiel kam man ohne Schrammen drüber und gegen Kamerun zeigten die Serben, was sie stark macht: Breite durch verkappte Stürmer als Wingbacks im 3-4-1-2, ein ballsicheres Zentrum, Lukić als immer anspielbarer Sechser, Miliković-Savić als Offensiv-Gestalter mit Freiraum. Keine Unruhe nach dem überraschenden Rückstand, dranbleiben, Chancen erarbeiten und diese nützen, 3:1 in Führung gehen.

Aber auch: Nachlässig werden, durch Leichtsinnigkeiten den Ausgleich zum 3:3-Endstand kassieren. So war man zum Sieg gegen die Schweiz gezwungen. Nach einer Halbzeit des offenen Schlagabtausches verlor man zunächst die Führung, dann die Struktur, dann die Köpfe. Was für ein verlorenes Turnier! Denn was in den Weltmeistern (Veljković, Maksimović, Živković und die Brüder Milinković-Savić waren hier Stammkräfte) steckt, haben sie auch mit dem Durchmarsch von der Nations-League-Gruppe C in die A-Liga angedeutet. Nächste Chance bei der EM: Hier haben die Serben die wohl leichteste Quali-Gruppe gezogen.

Dänemark: Kein Weg ins Angriffsdrittel

EM-Halbfinale! Sieben Punkte mehr in der Nations-League-Gruppe als Frankreich! Kein Wunder, dass man Dänemark auch bei der WM viel zugetraut hat. Am Ende steht, wie bei den Serben, ein sang- und klangloses Vorrunden-Aus mit nur einem Punkt. Das dänische Dynamit hat so gar nicht gezündet. Aus strukturellem Versagen oder einfach nur ein Un-Spiel gegen Australien mit Leistungsträgern außer Form zur falschen Zeit?

An sich war nämlich weder das 0:0 gegen Tunesien noch das 1:2 gegen Frankreich per se problematisch: Dass man Australien besiegen muss, um einen Achtelfinal-Anspruch zu haben, war immer klar. Die beiden Spiele, vor allem das gegen Tunesien, deuteten aber schon die großen Probleme an, die in der zweiten Halbzeit gegen Australien schlagend werden sollten: Immer hatten die Dänen Probleme, aus dem Sechserraum ins Angriffsdrittel zu kommen. Durch die frühe Verletzung von Delaney im ersten Spiel musste Eriksen, zuvor Zehner/Linksaußen-Hybrid, ins Mittelfeld-Zentrum. Mikkel Damsgaard (der bei der EM so stark war) stand als Linksuaßen komplett neben sich, der bei Frankfurt so starke Jesper Lindstrøm war (wenn er links statt rechts aufgestellt war) immer anspielbar, fand aber keine Bindung zum Angriffszentrum. Dort überzeugten weder Dolberg noch Braithwaite oder Cornelius.

Und weil auch Mæhle die Gala-Form von 2021 nicht reproduzieren konnte, schlich das Spiel gegen Australien, umso mehr nach dem Rückstand, ohne Elan einem leisen Tod entgegen. „Man kann ein Spiel verlieren, aber nicht sich selbst“, meinte Hjulmand, „wir habe nicht mehr gearbeitet als Australien, wir waren kein Team mehr und das darf nicht sein.“ Der Teamchef, der aus der langweiligen Truppe von Åge Hareide so ein inspirierendes, offensives Kollektiv gemacht hat, bleibt im Amt.

Polen: Mit Arbeitsverweigerung ins Achtelfinale

Ach, Polen war auch da? „Die einzigen Statistiken sind Ergebnisse und Tabellen. Andere sind nicht für eine Bewertung zulässig“, gab sich Polens Teamchef Czesław Michniewicz trotzig. Denn was sein Team auf dem Rasen zeigte, war teilweise weniger als nichts. Und ja, das brachte Polen ins Achtelfinale und Robert Lewandowski bei seiner zweiten WM-Teilnahme seine ersten Tore auf dieser Bühne.

Statistisch hatte Polen die schlechteste Abwehr aller 16 Achtelfinale-Teilnehmer, man kam in der Vorrunde im Schnitt auf 34,7 Prozent Ballbesitz (gegen Saudi-Arabien, Mexiko und Argentinien) und im Achtelfinale waren es nur deshalb mehr, weil es ja nix bringt, in einem K.o.-Spiel eine knappe Niederlage zu verwalten. Gegen Mexiko im ersten Spiel verteidigte man das 0:0 runter, und gegen Argentinien konnte man zufrieden sein, sich beteiligungslos ein 0:2 abzuholen, weil man gegen jeden Spielverlauf zu einem Sieg gegen Saudi-Arabien gekommen war.

Der polnische Pragmatiker sagt: Auch wenn’s knapp war, aber man hat erstmals seit 1986 eine WM-Vorrunde überstanden. Der polnische Romantiker sagt: Robert Lewandowski hat jetzt auch eine WM, auf die er mit sportlichem Erfolg verweisen kann (auch wenn er in den Matches ein armer, vom Spielgeschehen weitgehend abgeschnittener Hund war). Der polnische Realist muss aber sagen: Wenn Michniewicz sein Team nicht mit etwas mehr Substanz in Spiele schickt, war das eher ein einzelner Blitz als eine nachhaltige Strategie für die nahende Zeit nach Lewandowski.

Wales: Mit praktisch gar nichts raus

„Ein Team aus durchschnittlichen Zweitliga-Spielern und einer Handvoll Erstliga-Reservisten, am Leben gehalten von der einsatzfreudigen Omnipräsenz von Gareth Bale und der guten Balltechnik von Aaron Ramsey“ – so hieß es vor eineinhalb Jahren an dieser Stelle nach der EM über Wales. Subtrahiert man einen Ramsey, der weit über seinem Zenit ist und Bale, der seit Monaten nur darauf achtete, seinen geschundenen Körper nur ja irgendwie zu dieser WM zu schleppen, bleibt nun mal nichts übrig. Daran ändert auch der Aufstieg genannter Zweitliga-Kicker in der Zwischenzeit (Fulham, Bournemouth) nichts.

Mehr als lange Bälle in die ungefähre Richtung der Spitzen fiel den Walisern gegen die quirligen Amerikaner nicht ein, durch ein patschertes Elfer-Foul kam man immerhin zu einem 1:1, Bale zu seinem Tor und die zahlreichen Fans zum einzigen Jubel. Gegen den limitierten Iran verlor man spät, aber hochverdient und gegen England, gerade gegen England, war Wales kaum mehr als körperlich anwesend. Dass Österreich im März gegen diese Truppe im WM-Playoff ausgeschieden ist, darf man als letzte, späte Ohrfeige für die Ära von Ralf Rangnicks Vorgänger betrachtet.

Die Zeit dieses Teams, das die größten Erfolge seit den 1950ern mit dem großen John Charles (WM-Viertelfinale, dreimal Home-Nations-Sieger) eingefahren hat, ist nun endgültig abgelaufen. Das Trio Bale-Ramsey-Allen, mit dem Wales 2016 sensationell ins EM-Halbfinale kam und das nach über 60 Jahren den WM-Fluch brach, wird Nachfolger brauchen. Teamchef Rob Page hat schon angekündigt, dass es für die EM-Quali nicht nur personelle, sondern auch stilistische Änderungen geben wird. Realistisch betrachtet wird schon die bloße Teilnahme 2024 angesichts der Quali-Gruppe mit Kroatien und der Türkei ein Kraftakt.

So lief die Qualifikation

Wer hat gefehlt?

Der prominenteste Abwesende bei der WM war natürlich Europameister Italien. Erst verschluderte man den Gruppensieg gegenüber der Schweiz, dann wäre man im selben Playoff-Ast wie Portugal gewesen, aber eine Gaga-Niederlage gegen Nordmazedonien – Weitschuss-Tor in der Nachspielzeit, nachdem die Mazedonier genau null Abschlüsse im italienischen Strafraum gehabt hatten – verhinderte sogar das.

Schweden, vor vier Jahren im Viertelfinale, zog im Playoff gegen Polen den Kürzeren, nachdem die Skandinavier zuvor den EM-Viertelfinalisten Tschechien besieht hatten. Die Ukraine war gegen Wales nah dran, brachte aber den Ball nicht ins Tor und damit die Fußballwelt um zumindest drei sehr emotionale Matches in Katar; Kriegstreiber Russland wurde vor dem Playoff-Spiel gegen Polen ausgeschlossen. Erling Håland wurde mit Norwegen hinter der Türkei nur Gruppendritter, Island versank in einem Missbrauchs- und Vertuschungs-Skandal. Ungarn hatte mit seinem Konterfußball in der Nations League gegen England, Italien und Deutschland mehr Erfolg als zuvor in der WM-Quali (zwei Niederlagen gegen Albanien). Und Österreich bemühte sich nach Kräften, die WM in Katar zu boykottieren und schaffte das auch.

Wie geht es weiter?

Im März startet die Qualifikation für die EM 2024 in Deutschland, der Modus ist fast der selbe wie für die letzten europäischen Titelkämpfe: Zehn Gruppen, die Sieger und die Zweiten sind wie der gesetzte Gastgeber dabei, die restlichen drei Plätze werden per Playoff über die drei Nations-League-Leistungsklassen aus dem Durchgang vom Juni und September 2022 aufgefüllt.

Nach der EM ist im Herbst 2024 die nächste Nations League geplant, ob die angedachte Eingliederung der südamerikanischen Teams tatsächlich zu Stande kommt, ist weit weniger sicher als das vor rund einem Jahr verkauft wurde. Für die WM 2026 hat Europa 16 Startplätze, das sind „nur“ drei mehr als bisher.

Wie sehen die EM-Quali-Gruppen aus?

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Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.