Afrika: Gute Figur mit einheimischen Trainern

Endlich ist mal einer durchgekommen: Marokko löste mit dem erstmaligen Halbfinal-Einzug eines afrikanischen Teams das Versprechen ein, das Kamerun vor 32 Jahren gegeben hat. Auch der Senegal überstand die Gruppenphase und selbst die Ausgeschiedenen haben entweder eine gute Figur abgegeben und/oder einen prestigeträchtigen Sieg eingefahren – und zwar allesamt mit einheimischen Trainern. Das kann ein Turnaround sein; ein Fingerzeig ist es in jedem Fall.

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Marokko: Disziplin, Klasse, Wille, Erfolg

Die Spieler sind bekannt, aber „Marokko“ als Namen bei einer WM hatte man nicht wirklich auf der Rechnung. Für Freunde des Offensiv-Spektakels war das Team von 2018 unter Hervé Renard schöner, aber die unglaubliche Disziplin und der Teamgeist unter dem erst vor ein paar Monaten installierten Teamchef Walid Regragui brachten die Resultate – und zwar nicht irgendwie zufällig, sondern erarbeitet und verdient.

Man brauchte den Ball nicht, sondern war zufrieden damit, dem Gegner den Zutritt zum eigenen Verteidigungsdrittel zu verwehren – kein Team dieser WM hat weniger gegnerische Pässe im eigenen Drittel zugelassen wie Marokko. Man verbunkerte aber nicht den eigenen Strafraum, sondern stand wesentlich höher. Belgien fehlte die Idee, verlor 0:2. Spanien traute sich im Achtelfinale nicht über Chip-Bälle in den Rücken der Abwehr und hohe Außenverteidiger drüber, aus Angst, ausgekontert zu werden, verlor im Elfmeterschießen. Portugal machte im Viertelfinale genau das, kam auch nicht durch und verlor die Duelle im Zentrum, ging 0:1 geschlagen vom Feld. Kein Gegner konnte gegen Marokko treffen.

Sechser Sofyan Amrabat, bei der Fiorentina der Anker in einem taktisch sehr speziellen 4-3-3, saugte alles auf und dirigierte; die rechte Seite mit Hakimi und Ziyech ließ hinten nichts zu und war nach vorne gefährlich. Boufal links konnte mit Dribblings Bälle ebenso halten wie nach vorne tragen. Nach Ballgewinnen rückte das Team in Mannschaftsstärke auf. En-Nesyri – als Strafraum-Poacher eigentlich ein Paradox in einem auf Gegenstöße ausgerichteten Team – war oft kaum involviert, brauchte aber nicht viele Chancen und erzielte die Sieg-Treffer gegen Kanada und Portugal.

Nicht mal die Verletzungen von Aguerd und Saïss brachten das Werk zum Wanken, El Yamiq und Dari sprangen ohne defensive Reibungsverluste ein; allenfalls beim ersten Pass war hier ein Unterschied zu merken. Erst der frühe Rückstand im Halbfinale gegen Frankreich und die damit verbundene Notwendigkeit, gegen ein hochklassiges, defensivstarkes Team selbst zu kreieren, brachte Marokko ein wenig aus der taktischen und qualitativen Komfortzone, am Willen fehlte es aber nie.

Marokko hat in den letzten Jahren extrem viel in die Infrastruktur investiert und ist gut ausgerüstet, um sich als Nummer eins auf dem Kontinent zu etablieren. Den Halbfinal-Einzug und den vierten Platz kann den Atlaslöwen niemand mehr nehmen. In Afrika sind sie nun eindeutig die Gejagten – eine neue Rolle, mit der man auch erstmal umgehen können muss.

Senegal: Auch ohne Mané das Optimum geschafft

Im Schatten von Marokko ist die sehr anständige WM, die der Senegal gespielt hat, ein wenig untergegangen. Der Achtelfinal-Einzug gegenüber Ecuador und dem Gastgeber ist umso erstaunlicher, weil Sadio Mané gar nicht mithelfen konnte: Der beste Spieler dieser Generation hatte sich ja kurz vor dem Turnier verletzt.

Doch auch ohne den Bayern-Legionär war die Truppe von Aliou Cissé defensiv gut organisiert, wenn auch im Vorwärtsgang ein wenig eindimensional. Der Senegal hätte sich im ersten Spiel gegen Holland (spätes 0:2) durchaus einen Punkt verdient, man war clever genug und körperlich ausreichend stark, um Katar in zwei derbe Abwehrschnitzer zu zwingen. Der Sieg im entscheidenden Spiel gegen Ecuador war der Beweis, dass man sich mit Geduld die Chancen erarbeiten kann und Schwächen des Gegners, so dieser welche anbietet, zu erkennen und zu nützen. Totpressen kann man den Senegal nicht, dafür ist die durchgängig in den Top-Ligen Europas beschäftigte Mannschaft zu gut, zu clever.

Zum nächsten Schritt fehlt aber einiges, mit oder ohne Mané. Dass man im Vorwärtsgang von der individuellen Klasse von Krépin Diatta und Ismaïla Sarr (und natürlich von Sadio Mané) abhängig ist, erkannte man an der Leichtigkeit, mit der England im Achtelfinale die Senegalesen neutralisierte. Mit dem Afrika-Titel 2022, dem WM-Achtelfinale jetzt und dem auch sehr brauchbaren Auftritt bei der WM 2018 zeigte sich jedoch, dass es sinnvoll ist, langfristig zu denken. Aliou Cissé in der erste Trainer überhaupt, der mit einer afrikanischen Mannschaft bei zwei WM-Turnieren in Folge arbeiten durfte.

Der Verband würde gerne mit ihm weitermachen, Cissé selbst überlegt aber, sich eine neue Herausforderung zu suchen.

Ghana: Mega-Defensiv und volle Offensiv-Wucht

Beim Afrika-Cup zu Beginn des Jahres ist Ghana in der Vorrunde ausgeschieden, von Fußball-Zwerg Komoren eliminiert. Nun besiegte Ghana Südkorea und hätte beinahe gegen Portugal remisiert. Ein erstaunlicher Turnaround, ebenso wie die Spiele bei der WM geprägt waren von erstaunlichen Turnarounds.

Denn eigentlich hatte Ghana über weite Strecken gar kein Interesse, an den Spielen aktiv teilzunehmen. Gegen Portugal versuchte man in einem sehr tiefen 5-4-1, das 0:0 über die Zeit zu bringen, was eine Stunde lang gelang – und kaum im Rückstand, brach durch Ghanas Offensiv-Switch das Chaos auf dem Feld aus. Ähnlich gegen Südkorea: Nach der 2:0-Führung lehnte man sich zurück und der Gegner konnte mit all dem Ballbesitz nicht viel anfangen. Auch hier aber, als Südkroea doch ausglich, schaltete Ghana in den Wirbelwind-Modus, belohnte sich mit dem 3:2-Sieg.

Denn Ghana hat durchaus einige offensive Waffen: Der schnelle Bukari, der routinierte André Ayew, der quirlige Spanien-Import Inaki Williams, dazu Kudus mit seinem gewaltigen Schuss. Und: Ghana braucht nicht viele Chancen, ist extrem effizient. Das hilft aber alles nichts, wenn man – wie im letzten Spiel gegen Uruguay – gar nichts produziert und auch noch einen Elfer vergibt. Immerhin, man riss die Urus mit ins Aus.

Eine Beurteilung fällt schwer. Einerseits war Ghana sehr gut darin, den Gegner nicht in gefährliche Zonen kommen zu lassen, ähnlich wie Marokko. andererseits strahlte man große offensive Wucht und grandiosen Willen aus, wenn man gefordert war – basierend auf Einzelaktionen. Nach der Katastrophe beim Afrikacup (unter Milovan Rajevac, der Ghana 2010 ins Viertelfinale geführt hatte), brachte der in Deutschland geborene und aufgewachsene Addo die WM mehr als respektabel über die Bühne, das war sein Auftrag. Für alles weitere ist er nun nicht mehr zuständig.

Tunesien: Viel Leidenschaft und Disziplin, wenig Phantasie

Wie so viele Teams bei dieser WM gehört auch Tunesien zu jenen, die sich willig zeigten, alles versuchten, aber sich wesentlich wohler fühlten, wenn sie reagieren konnten. Gegen Dänemark sah Tunesien gut aus, der Gegner war Favorit und hatte mit dem Ball die selben Probleme, man konnte mit Einsatz und Disziplin dagegen halten, verdiente sich das 0:0.

Als man gegen Australien aber in Rückstand geriet, fehlten massiv die Ideen. Tunesien verfügt über keinen Spieler, der im Mittelfeld die zündende Idee hätte oder einen Verbindungsspieler, der sich nach vorne dribbelt – das war Msakni vor acht, zehn Jahren; aber heute nicht mehr und Hannibal Mejbri, dem viel Talent nachgesagt wird, kam nur einmal für ein paar Minuten zum Einsatz (gegen Dänemark war das). So war Tunesien gezwungen, entweder die langen Bälle nach vorne zu schlagen oder über die Wing-Backs. Dräger und Abdi spielten gute Turniere, aber die Spielanlage war zu vorhersehbar.

Dass Tunesien eine französische B-Elf am falschen Fuß erwischte, dabei bei Ballgewinn die Wing-Backs weit nach vorne schob und sich lange nicht ganz tief hinein drängen ließ, wurde mit einem sehr prestigeträchtigen Sieg belohnt, von dem man Tunesien lange zehren wird. Was das Weiterkommen betrifft, war der Schaden war schon im Australien-Spiel angerichtet worden. Womöglich ist so ein Sieg gegen Frankreich emotional aber ohnehin mindestens genauso wertvoll.

Kamerun: Schwach im Aufbau, gut im Fehler nützen

Er solle doch bitte aufhören, die Bälle hinten raus spielen zu wollen, und die Kugel gefälligst nach vorne dreschen. Der Anweisung von Teamchef Rigobert Song kam Torhüter André Onana nicht nach, für den Schlussmann aus der Ajax-Schule ist so etwas ein No-Go. Song schickte Onana nach Hause – und zwar nach dem ersten Spiel, einer 0:1-Niederlage gegen die Schweiz, mit der das Vorrunden-Aus schon sehr früh besiegelt schien.

Dabei hatte man gegen die Schweizer gar nicht schlecht gespielt, man ließ die Eidgenossen kommen und die spielintelligenten Akteure – André Zambo-Anguissa im Zentrum, Toko-Ekambi und Faï außen, Choupo-Moting vorne – nützten die luftige Restverteidigung der Schweizer zu gefährlichen Gegenstößen. Ähnlich sah es auch im zweiten Spiel gegen Serbien aus, in dem man auftrumpfte, als der Gegner nachlässig wurde. Zu einem eigenen, zielstrebigen Aufbau war Kamerun aber nicht in der Lage.

Dass man im letzten Spiel, ähnlich wie Tunesien, gegen einen nicht in Top-Besetzung angetretenen Favoriten zu einem etwas glücklichen Sieg gekommen ist, war eben auch genau dem Umstand geschuldet, dass es Kamerun leichter fällt, zu reagieren. Dass es schon ein Erfolg war, sich vor knapp einem Jahr als Gastgeber ins Halbfinale des Afrikacup gequält zu haben, wird man beim von Samuel Eto’o geführten Verband nicht gerne hören, ebenso wie die Tatsache, dass der bisher eher erratische Führungsstil des ehemaligen Weltklasse-Stürmers mehr Gegner als Unterstützer produziert hat.

Aber wenn schon sonst nichts, hat Kamerun immerhin erstmals seit 2002 (und erst zum zweiten Mal seit dem Viertelfinale von 1990) ein WM-Spiel gewonnen. Immerhin.

Wie lief die Qualifikation?

Wer hat gefehlt?

Mo Salah war knapp dran, der von der im CL-Finale vor dem Turnier erlittenen Verletzung überschattete WM-Auftritt von 2018 bleibt aber bislang sein einziger: Im Playoff unterlag Ägypten dem Senegal ebenso im Elfmeterschießen wie wenige Wochen zuvor im Finale des Afrikacups. Auch für Nigeria – eigentlich das kompletteste Team beim Afrikacup, aber im Achtelfinale überraschend ausgeschieden – klappte es knapp nicht, die Auswärtstore entschieden im Playoff für Ghana. Die Côte d’Ivoire, auch ein grundsätzlich vernünftiges, wenn auch nicht aufregendes Team, verlor das entscheidende Spiel gegen Kamerun.

Algerien, der Kontinentalmeister von 2019, war auch nicht dabei, ebenso wie Südafrika (ganz knapp gegen Ghana) und Mali (gegen Tunesien) oder der Afrikacup-Halbfinalist Burkina Faso. Das ist die Krux in Afrika: Es gibt relativ viele annähernd gleich gute Teams, denen es aber fast allen an der personellen Dichte fehlt, wirklich etwas Großes entstehen zu lassen. Zudem waren eben bisher immer nur fünf afrikanische Teams bei einer WM – mehr gaben die Leistungen bei den Turnieren nicht her, aber der Flaschenhals ist gemessen an den dafür in Frage kommenden Teams ein recht schmaler.

Wie geht es weiter?

Im kommenden Jahr werden in Afrika jene 23 Teams ermittelt, die im Jänner/Februar 2024 gemeinsam mit Gastgeber Côte d’Ivoire das nächste Kontinental-Turnier bestreiten. Bei der WM 2026 darf Afrika dann mit mindestens neun Teams mitmachen.

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Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.