WM-Semifinals von 7:1 bis fade 120 Minuten und alles dazwischen

In der kollektiven Erinnerung von WM-Turnieren bleiben natürlich vor allem die Endspiele. Logisch: Hier geht’s um den Cup, hier werden die ganz großen Geschichten geschrieben. Wenn es nicht gerade ein 1:7 von Brasilien gegen Deutschland ist, verschwinden die Halbfinals aber oft ein wenig im Nebel der Geschichte. Bei manchen dieser Spiele ist das verständlich, andere haben sich schon ein wenig mehr Liebe verdient, als ihnen zuteil wird.

Hier die Übersicht über die 22 Halbfinal-Partien der letzten 40 Jahre, seit sie für die WM 1982 wieder eingeführt wurden.

2022 in Katar

Die Halbfinal-Spiele der Winter-WM in der Wüste werden in Erinnerung bleiben, weil erstmals ein afrikanisches Team den Sprung unter die Letzten Vier geschafft hat – allerdings nicht für das große Drama, dazu waren die Verhältnisse dann doch zu klar. Die Marokkaner, vor allem mit höchster defensiver Disziplin und Gegenstößen in Mannschaftsstärke so weit gekommen, gerieten gegen Frankreich früh durch ein Flipper-Tor in Rückstand und bekamen die Aufgabe der Spielgestaltung aufgebürdet. Es gab zwar eine Handvoll Chancen, aber mit dem 2:0 in der Schlussphase machte Frankreich den Deckel drauf. Tags zuvor kontrollierte Kroatien zwar die erste halbe Stunde gegen Kroatien, ein Messi-Elfer und ein Álvarez-Solo brachten das Spiel aber für die Albiceleste auf Schiene. Messis Wunder-Solo als Assist zum 3:0 krönte die Leistung.

WM 2018 in Russland

Frankreich und Belgien lieferten sich ein intensives Duell, absolut auf Augenhöhe und höchst interessant, wenn auch nicht mit dem ganz großen Spektakel. Die Chancen standen gut, dass das 0:0 der faszinierenden Sorte bis zum Schluss bestand gehabt hätte, wenn nicht Fellaini bei einem Eckball nach einer Stunde ein kleines bisschen zu spät zum Kopfball gegen Umtiti gegangen wäre, das 1:0 war das französische Endspiel-Ticket. Im zweiten Spiel begann England quasi mit einer Führung, Trippier hatte gleich zu Beginn per Freistoß das 1:0 erzielt, und eine Stunde lang kontrollierte man Kroatien ohne gröbere Probleme. Dann aber krallten sich Modric und Co. zurück, Perisic glich aus und in der Verlängerung hatten die Kroaten mehr Reserven. Mario Mandzukic erzielte den Siegtreffer.

Im Finale setzte sich Frankreich gegen Kroatien 4:2 durch.

2014 in Brasilien

Ein Spiel, über das man noch Generationen reden wird – und eines, über das schon am Tag danach niemand mehr reden wollte. Die brasilianische Implosion, bei der man ohne den verletzten Neymar und ohne den gesperrten Thiago Silva gegen Deutschland schon zur Halbzeit 0:5 im Rückstand war, ist neben dem verlorenen Entscheidungsspiel 1950 eine der beiden großen Fußball-Katastrophen des Rekord-Weltmeisters auf heimischem Boden. Bei Argentinien und Holland lag der Fokus vor allem darauf, die Kreise von Sneijder und Robben bzw. jene von Messi einzuengen, was 120 zähe Minuten lang hervorragend gelang. Ron Vlaar und Wesley Sneijder konnten im Shoot-Out nicht verwerten.

Deutschland gewann das Finale gegen Argentinien 1:0 nach Verlängerung.

2010 in Südafrika

Revanche für das EM-Finale von 2008? Nicht wirklich: Spanien dominierte gegen Deutschland fast erdrückend den Ballbesitz, ohne den gelbgesperrten Müller (für ihn spielte Trochowski) gab es für das DFB-Team kaum Entlastung und als Puyol in der zweiten Hälfte einen Eckball ins Tor wuchtete, war das die Entscheidung. Die Holländer waren gegen Überraschung-Team Uruguay durch einen Distanz-Hammer von Gio van Bronckhorst früh in Führung gegangen und hatten danach nur noch die Zeit runterlaufen lassen, die Urus brachten (bis auf den Ausgleich ebenfalls per Weitschuss) wenig zu Stande. Oranje kam per abgefälschtem Sneijder-Schuss (70.) und Robben-Kopfball (73.) ein bisschen aus dem Nichts zur 3:1-Führung, das 3:2 tief in der Nachspielzeit änderte nichts mehr.

Spanien gewann das überhart geführte Finale 1:0 nach Verlängerung.

2006 in Deutschland

Erst zum vierten Mal (nach 1934, 1966 und 1982) waren 2006 unter den Top-4 einer WM nur europäische Teams. Und wohl nie zuvor und danach war die reine Qualität der beiden Semifinals höher: Italien hatte gegen Gastgeber Deutschland tendenziell mehr vom Spiel und erarbeitete sich immer mehr Vorteile, traf in der Verlängerung auch noch den Pfosten, ehe Grosso in der 119. Minute den Knoten löste; Del Pieros Konter zum 2:0 wenig später war nur noch Kosmetik. Im zweiten Halbfinale spielten Zidane und Figo nicht nur gegeneinander, sondern auch gegen eine mögliche Gelbsperre im Endspiel. Nach einer halben Stunde verwertete Zidane einen korrekten Elfmeter zum 1:0, danach versuchten die Franzosen erfolgreich, die portugiesischen Angriffe im Keim zu ersticken.

Italien setzte sich im Endspiel nach einem 1:1 letztlich im Elferschießen durch.

2002 in Japan und Südkorea

Die Fernost-WM bekam gleich zwei Halbfinalisten, mit denen nicht zu rechnen war. Die Südkoreaner kamen dank energiegeladenem Pressing-Spiel über Portugal und Italien sowie dank eines bemerkenswerten Referees über Spanien drüber, im Halbfinale gegen ein holzgeschnitztes deutsches Team waren die Akkus aber leer. Ballack traf und sah jene gelbe Karte, die ihn für das Finale sperren sollte. Tags darauf leisteten die Türken in einem der wenigen großartigen Spiele einer eher seltsamen WM viel mehr Widerstand gegen die ohne den rotgesperrten Ronaldinho angetretenen Brasilianer, Ronaldos Tor mit dem Spitz konnten sie aber nicht mehr kontern.

Brasilien gewann das Finale gegen Deutschland 2:0.

1998 in Frankreich

Der Elferschießen-Sieg im Achtelfinale gegen Rumänien sorgte noch nicht für die große Aufmerksamkeit, das 3:0 im Viertelfinale gegen Deutschland sehr wohl. Und Kroatien klopfte auch im Halbfinale gegen Gastgeber Frankreich an die Tür zur Sensation, führte durch ein Šuker-Tor 25 Sekunden nach Beginn der zweiten Halbzeit schon 1:0. Lange währte die Führung nicht, nur 15 Sekunden nach Wiederanpfiff glich Thuram aus, in der 70. Minute stellte der Rechtsverteidiger den 2:1-Endstand her – seine einzigen beiden Tore in 142 Länderspielen. Dieses Match war mehr spannend als hochklassig, das andere Semifinale war beides: Es ist zu argumentieren, dass bei Brasilien und Holland die beiden eigentlich besten Teams des Turniers aufeinander trafen. Ronaldos Führung glich Kluivert kurz vor Schluss aus, mit dem 1:1 ging es ins Elferschießen, dort vergaben Ronald de Boer und Phillip Cocu.

Frankreich gewann das Finale gegen Brasilien 3:0.

1994 in den USA

Das zweite Halbfinale, in dem Brasilien den Widerstand der dezemierten Schweden (Rot für Thern nach einer Stunde) in der Schlussphase brach und dank Romarios Kopfballtreffer 1:0 gewann, war in Europa nur etwas für die ganz eingefleischten Fans – Anpfiff um 1.30 Uhr nachts unserer Zeit. Erst hatten die gute schwedische Defensiv-Organisation und Torhüter Ravelli hatten für brasilianischen Frust gesorgt, dann Referee Cadena für schwedischen Ärger – dabei hat sich Thern für seinen Revanche-Tritt an Dunga durchaus den Ausschluss verdient. Zuvor hatte Italien dank eines Doppelpacks von Roberto Baggio halb durch die erste Halbzeit den Lauf der Bulgaren gestoppt. Stoitchkov gelang nur noch der Anschlusstreffer.

Brasilien gewann das Finale nach 120 torlosen Minuten im Elfmeterschießen.

1990 in Italien

Wohl nie haben zwei WM-Halbfinals so nachhaltige Wirkung entfacht wie die beiden in Italien 1990. Zunächst forderte der für Napoli spielende Maradona die Fans in Neapel auf, in Italiens Halbfinale Argentinien anzufeuern, da die restlichen Italiener die Neapolitaner doch als Abschaum sähen. Die Argentinier gewannen das Elferschießen, aber der Verlierer war Maradona, weil Italiens Medien nach diesem Eklat nicht mehr mit Maradonas Eskapaden hinter dem Berg hielten – der Anfang vom Ende für den Goldjungen. Einen Tag später begann das englische Elfmeter-Trauma: Die Three Lions, unüblich auch mit Libero unterwegs, gerieten unglücklich in Rückstand, retteten sich in die Verlängerung, wo Jungstar Paul Gascoigne unter Tränen und Verzweiflung jene gelbe Karte sah, die ihn für ein Finale sperren sollte. Das erreichte England aber ohnehin nicht, Pearce und Waddle verschossen im Shoot-Out. Es sollte noch viele weitere Pleiten im Elfmeterschießen folgen.

Deutschland gewann die Final-Revanche gegen Argentinien 1:0

1986 in Mexiko

Zwischen dem hitzigen Halbfinale der Franzosen gegen Deutschland 1982 und der WM 1986 lag die EM 1984, bei der Frankreich den Titel holte. Das „Carré Magique“ mit Platini, Giresse, Tigana und Fernández spielte Fußball für’s Auge und ein Finale gegen Maradonas Argentinier schien aufgelegt. Aber ein Fehlgriff von Goalie Bats nach zehn Minuten bei einem Brehme-Freistoß ermöglichte den Deutschen die Führung, Frankreich rannte an, kam nicht durch, in den Nachspielzeit gab’s das 0:2. Ein paar Stunden später versuchte sich Belgien daran, irgendwie Maradona zu stoppen. Vergeblich: Mit zwei genialen Momente kurz nach der Pause brachte der exaltierte Alleskönner Argentinien 2:0 in Front, dabei blieb es.

Im Finale gab Argentinien gegen Deutschland zwar eine 2:0-Führung her, gewann aber noch 3:2.

1982 in Spanien

Schumachers Rambo-Attacke auf den kurz zuvor eingewechselten Battiston ist einer der berüchtigtsten Aktionen der WM-Geschichte und die arrogante Reaktion des deutschen Torhüters („Ich stecke ein und teile aus, wenn es nur die Jacketkronen sind, zahl‘ ich’s ihm gerne.“) nach dem Halswirbelbruch bei Battiston ebenso. Schumacher wurde nicht einmal verwarnt, das Spiel ging mit 1:1 in die Verlängerung, Frankreich ging 3:1 in Führung, die Deutschen glichen aus und gewannen im Elferschießen – wo Schumacher zum Held wurde. Jenes Spiel, das einige Stunden zuvor im Camp Nou über die Bühne ging, ist längst nicht so berühmt: Polen konnte ohne Spielmacher Zbigniew Boniek – der heutige UEFA-Vizepräsident war gelbgesperrt und wurde von Ciolek nur personell ersetzt – keine Gefahr ausstrahlen. Paolo Rossi sorgte nach einem Freistoß für das 1:0 und nach einem Konter für das 2:0.

Italien hatte im Finale die größeren Kraftreserven und gewann 3:1.

Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.