Asien bei der WM 2022: Raus aus der Lethargie

Zum ersten Mal überhaupt brachte der Asien-Verband drei Teams aus der Vorrunde in ein WM-Achtelfinale. Japan, Südkorea und Australien überstanden – teilweise sehr überraschend – die Vorrunde; der Iran war knapp dran, auch Saudi-Arabien gab eine vorzeigbare Figur ab. Nur der amtierende Kontinental-Meister und Gastgeber Katar zeigte so gut wie nichts. Ist Asien nach einigen teil arg schwachen WM-Zyklen nun also wieder auf dem Weg nach oben?

Link-Tipps:
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Japan: Zwei große Namen düpiert

Zum vierten Mal nach 2002, 2010 und 2018 war Japan im Achtelfinale, und wieder ging dort ein Spiel verloren, das absolut gewinnbar war. Ist diese WM für die Samurai Blue also ein Erfolg oder doch „nur“ eine Stagnation? Angesichts des Umstandes, dass man Spanien und Deutschland besiegt hat und sogar als Gruppensieger in die K.o.-Runde eingezogen ist – erstmals seit der Heim-WM 2002, als man eine recht leichte Gruppe hatte – kann man trotz des enttäuschenden Endes in Form eines kraftlosen Elfmeterschießens gegen Kroatien mit Stolz auf das Turnier zurückblicken.

Der in der Heimat vielgescholtene Hajime Moriyasu erwies sich entgegen seiner Gepflogenheiten als durchaus flexibel und seine Umstellung auf Fünferkette im ersten Spiel gegen Deutschland – als man eine Halbzeit lang klar unterlegen war – ließ das Match zu Japans Gunsten kippen. Gegen Spanien ging man es gleich in einem 5-4-1 an, man war (wie schon gegen Deutschland) absolut zufrieden mit minimalem Ballbesitz. Nur als man gegen ein ausgesprochen passives Costa Rica zur Eigeninitiative gezwungen war, agierte man tempo- und ideenlos. Aller Offensiv-Klasse von Frankfurts Kamada und Freiburgs Doan zum Trotz: Dieses japanische Team ist eher eine Arbeitertruppe, ohne das große Flair, jedoch widerstandsfähig und effizient.

Vom reinen Talent her ist diese japanische Mannschaft sicher schwächer als jene, die 2011 in spektakulärer Manier zum Asien-Titel gewirbelt ist; sie ist aber sowohl auf dem Feld als auch in den Köpfen stabiler als es Zaccheronis Wundertruppe um Kagawa, Honda und Okazaki war

Der Erfolg riss die Fans in der Heimat, deren Zuneigung zum Fußball generell in den letzten Jahren spürbar ein wenig der Apathie gewichen ist, wieder voll mit, die Einschaltquoten waren selbst in der japanischen Nacht sehr stark. Auf dem Schwung dieser WM kann Japan sicher aufbauen.

Südkorea: Zwischen aufmüpfig und naiv

Nach zwei fast schon verstörend ambitionslosen Auftritten 2014 und 2018 ist auch Südkorea wieder zurück in der K.o-Runde gewesen. Dort war man gegen Brasilien ziemlich naiv unterwegs und bekam schon in der ersten Halbzeit die Bude kräftig angefüllt, aber vor allem das willige und vor allem erstaunlich robuste Auftreten in der Gruppenphase war ein starkes Lebenszeichen nach einigen verschwendeten Jahren. Damit spielte man um die eklatanten Schwächen in der eigenen Spielgestaltung herum, die zwischendurch auch sehr augenfällig wurden.

Bis auf Son Heung-Min und Einwechselspieler Hwang Hee-Chan war bei Teamchef Paulo Bento niemand mehr von den Stammkräften der letzten WM dabei. Der Rekord-Trainer Südkoreas (viereinhalb Jahre bzw. 57 Matches) hatte keine Truppe von Superstars zur Verfügung, aber ein angemessen talentiertes Team, das vor allem im aggressiven Spiel gegen den Ball sehr vorzeigbar agierte. Damit hielt man ein nicht gerade mit einem kohärenten Plan spielendes Team aus Urguay beim 0:0 in Schach und durch den vollen Einsatz und auch einen individuellen Genie-Moment von Son Heung-Min gab es das Last-Minute-2:1 gegen ein portugiesisches B-Team, was den Achtelfinal-Einzug sicherte.

In den Matches gegen Ghana und Brasilien traten aber auch die Unzulänglichkeiten deutlich zum Vorschein. Gegen Ghana war Südkorea zur Spielgestaltung gezwungen und man war langsam, ideenlos und auf Fehler des Gegnern angewiesen (dass Ghana gegen die Koreaner zwei Kopfball-Tore kassierte, ist sehr… erstaunlich) und gegen die fußballerische Klasse und das Tempo von Brasilien war Südkorea defensiv einfach heillos überfordert.

Südkorea musste sich für den Achtelfinal-Einzug kräftig nach der Decke strecken und das erreichte ist das Maximum des aktuell erreichbaren. Aber immerhin, das wurde auch erreicht.

Australien: Gunst der Stunde genützt

Es ließe sich argumentieren, dass seit dem großen australischen Team von 2006 (mit Kewell, Viduka, Cahill und Schwarzer) die Socceroos bei jedem Turnier mit einem immer schwächeren Kader aufgekreuzt sind. Jene Truppe, die nun in Katar war, bildet da keine Ausnahme. Nach so gut wie allen statistischen Gesichtspunkten war Australien eines der schlechtesten Teams dieser WM. Und doch hat man es irgendwie geschafft, ins Achtelfinale zu kommen.

Dafür hat man es genützt, dass einem in zwei Matches der Spielverlauf entgegen gekommen ist. Die Socceroos von 2022 sind kampfstark, willensstark und (wenn nicht gerade Mbappé und Co. daherkommen) auch abwehrstark. Nach vorne fliegen im 4-4-2 die langen Bälle hoch nach vorne oder es wird flach durch die Mitte gepasst, wo einer der Sechser auf die Außenbahnen klatschen lässt. Gegen den Ball wird vorne mit einem Mann die Eröffnung angelaufen und man verdichtet hinten vor der eigenen Box im Zentrum, wenn der Gegner in den australischen Sechserraum kommt. Das ist alles ziemlich simpel und es sieht alles so ein wenig aus wie von einem guten Mittelklasse-Team aus der an Klasse nicht gerade reichen schottischen Liga – ein naheliegender Vergleich, da zahlreiche Socceroos tatsächlich in Schottland spielen.

Nach dem 1:4 gegen Frankreich überraschte man mit forschem Spiel die Tunesier, ging mit 1:0 in Führung und brachte den Sieg über die Zeit; im dritten Spiel hielt man die Dänen bei 0:0, ehe man nach einer Stunde selbst zum 1:0 traf und wartete bis zum Schlusspfiff auf eine dänische Reaktion, die nie kam. Und selbst im Achtelfinale gegen Argentinien, wo man 80 Minuten lang nicht stattfand, gab es durch ein Zufallsprodukt von Tor sogar noch die Chance auf eine Überraschung.

Noch viel mehr als in Japan rutschte der Fußball in Australien in den letzten zehn Jahren in der Zugkraft beim Publikum ab, die A-League fliegt selbst in der Heimat unter dem Radar und anders als früher gibt es auch keine Stars, die in Europa für Aufsehen sorgen. Diese Mannschaft hat die Lethargie etwas gelöst, wie die Aufstiegsparty mitten in der Nacht am Federation Square in Melbourne zeigte. Nur: Kampfkraft und Spielglück alleine werden auf Dauer nicht reichen.

Iran: Zwischen den Fronten

Mit normalen, sportlichen Gesichtspunkten ist das Turnier für den Iran nicht zu bewerten. Die politische Lage in der Heimat, wo sich die Bevölkerung gegen das Mullah-Regime auflehnt und dieses die Mahsa-Amini-Proteste mit höchster Brutalität niederzuschlagen versucht, war auch im 200 See-Kilometer entfernten Katar allgegenwärtig. Auf den Tribünen, wo die Schergen der Mullahs mit aktiver Duldung der katarischen Behörden die eigenen Fans bespitzelten, sowieso. Aber auch auf dem Spielfeld.

Das demonstrative Schweigen bei der Hymne vor dem ersten Spiel, einem 2:6-Untergang gegen England, war das stärkste politische Zeichen der WM, das höchstwahrscheinlich erzwungene Mitsingen im zweiten und dritten Auftritt wurde mit ebenso demonstrativer Halbherzigkeit abgeleistet. Einem spielerisch recht schwachen Team war aber umso mehr die volle Wucht, sich in jedes Spiel hineinzubeißen und so die protestierenden Landsleute zu motivieren, deutlich anzusehen. Der Iran erzwang mit zwei Toren in der Nachspielzeit den 2:0-Sieg gegen Wales und war nahe dran, auch gegen die USA den zum Achtelfinal-Einzug nötigen Ausgleich zu erzielen.

Trainer Carlos Queiroz changierte zwischen einem 4-1-4-1 (mit dem zu Turnierbeginn nicht ganz fitten Azmoun entweder auf der Bank oder, wenn nicht, mit Taremi auf dem Flügel) und einem 4-4-2. Man bunkerte sich nicht ganz so destruktiv ein, wie man das vom Iran unter Queiroz kennt, der große Wille überdeckte so manche spielerische Schwäche und über mehr als zwei, drei Klassespieler verfügt man nun mal nicht. Das ist aber angesichts der Lage in der Heimat die geringste Sorge: Die Mullahs sind sauer auf das Team, weil es sich nicht bedingungslos gefügt hat. Viele der Protestierenden sind sauer auf das Team, weil es unter dem Druck der Mullahs einzuknicken schien.

Saudi-Arabien: Der größte Sieg

Immerhin: Saudi-Arabien hat den Status, als einziges Land aus dem Nahen Osten jemals eine WM-Gruppe überstanden zu haben (1994) behalten. Aber auch sonst war der Auftritt im kleinen Nachbarland für die Saudis recht vorzeigbar: Man spielte positiven Fußball, kam zu einem sensationellen Sieg über Argentinien – der mit Abstand bemerkenswerteste Sieg der eigenen WM-Geschichte – und hätte gute Argumente gehabt, selbst ins Achtelfinale einzuziehen.

Was hat Hervé Renard mit den Saudis inhaltlich gemacht? Schon beim Auftakt gegen Argentinien war die engagierte Herangehensweise auffällig, indem man dem an sich klar besseren Kontrahenten die Zeit am Ball nahm, sich nicht scheute in die Zweikämpfe zu gehen und, als man in Führung war, die planlosen argentinischen Angriffe stark kontrollierte. Das eigentlich beste Spiel war aber jenes gegen Polen: Die Saudis präsentierten sich passsicher und mit einem guten Gefühl nach Ballgewinnen, ob Raum für einen schnellen Konter da ist oder man den Ballbesitz erst mal sichert. Mit Diagonalbällen wurden die offensiven Mittelfeld-Außen gesucht, man hatte das Spiel im Griff – nur verlor man völlig entgegen den Spielverlaufes 0:2, vergab beim Stand von 0:1 sogar noch einen Elfmeter.

Dass gegen Mexiko die Akkus merklich nur noch halbvoll waren, mag der fehlenden Tempohärte aus der eigenen Liga geschuldet sein, in der der komplette Kader aktiv ist. Es gibt keine Anreize, woanders hin zu gehen und es wird auch gar nicht gewünscht. Andererseits spielt der Kern der Stammformation bei Abo-Meister Al-Hilal zusammen, man kennt sich, und das merkte man. Dass dem Land, dessen Regime und damit auch der Fußballmannschaft die internationalen Sympathien nicht gerade zufliegen, ist logisch. Dass die Saudis auf dem Feld aber eine gute Figur abgegeben haben, lässt sich kaum bestreiten.

Katar: Ordentlich abgewatscht

Vor knapp drei Jahren spielte sich Katar durch den Asiencup, gewann das Turnier, besiegte dabei Saudi-Arabien (in der Vorrunde), Südkorea (im Viertelfinale) und Japan (im Finale). Man spielte gepflegten Ballbesitz-Fußball, wie man es von einem Team auch erwartet, das von einem ehemaligen La-Masia-Coach aus Barcelona trainiert wird.

Seit zwölf Jahren arbeitete man im Emirat zielgerichtet daran, bei der Heim-WM eine gute Figur abzugeben und alle Zeichen deuteten darauf hin, dass das auch gelingen kann. Und dann das: Komplett eingeschüchtert vom Anlass und vom robusten Angriffspressing von Ecuador im Eröffnungsspiel, dann hanebüchene individuelle Schnitzer beim 1:3 gegen den Senegal, wo man zumindest in der zweiten Halbzeit halbwegs mithalten konnte. Und damit war man schon vor dem 0:2 gegen Holland, wobei Oranje auch nicht mehr als Halbgas fuhr, schon ausgeschieden.

Null Punkte, 1:7 Tore, nie mehr als 47 Prozent Ballbesitz, den drittniedrigsten xG-Wert aller 32 Teilnehmer. Die internationale Erfahrung aus europäischen Top-Ligen des Senegal und auch die individuelle Klasse von Holland – alles zu viel. Selbst im asiatischen Vergleich war Katar nicht einmal nahe dran an dem Quintett, das sich sportlich qualifizieren musste. Zumindest vorerst bleibt man dem Fußball im eigenen Land aber committed: Katar hat die Ausrichtung des kommenden Asien-Cups im nächsten Jahr übernommen, Trainer Félix Sánchez bleibt offenkundig im Amt.

So lief die Qualifikation

Wer hat gefehlt?

Der massive Geld-Input, den China Mitte des letzten Jahrzehnts in die eigene Liga gesteckt hat – auch, um das eigene Nationalteam zu pushen – ist verpufft, Corona hat dem chinesischen Fußball vorerst den Rest gegeben. International aus eigenem Wunsch isoliert, läuft man der Musik noch weiter hinterher als zuvor, man brauchte schon Glück, um überhaupt die Vorrunde zu überstehen.

Die Vereinigen Arabischen Emirate haben unter Alberto Zaccheronis beim Asiencup 2019 als Gastgeber das Achtelfinale erreicht und sind in der WM-Quali unter Bert van Marwijk nur knapp an Australien gescheitert, alle anderen asiatischen Teams sind nicht der Rede wert. Das hat man beim angesprochenen Turnier 2019 gesehen…

Wie geht es weiter?

…und das wird auch 2023 zu sehen sein, wenn wieder 24 Teams in den Asiencup starten, auf einem Kontinent, der mit Mühe und Not fünf, sechs halbwegs konkurrenzfähige Teams zusammen kratzt. Das eigentlich im Sommer in China geplante Turnier wurde wegen der nach wie vor herrschenden Corona-Beschärnkungen im Reich der Mitte nach Katar verlegt, eine Verschiebung auf den WM-Termin im Winter liegt nahe – womöglich auf auf Jänner/Februar 2024, zeitgleich zum Afrikacup.

Bei der WM 2026 dürfen dann acht Teams vom asiatischen Verband bei der Endrunde teilnehmen. Fünf davon kann man ohne große Phantasie vorhersagen, auch Katar und die VAE haben dann gute Chancen auf die erste sportlich erreichte Endrunde überhaupt bzw., im Falle der Emirate, seit 1990.

Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.