Weltmeister Frankreich weg. Europameister Portugal weg. WM-Finalist Kroatien weg. Deutschland weg. Holland weg. Die großen Namen purzelten in überwiegend attraktiven und spannenden Achtelfinal-Spielen reihenweise aus der EM raus. Sechs der acht Teams hadern mit dem Ausscheiden an sich, eines mit der Art und Weise – nur in Österreich konnte man nach dem knappen Aus gegen Italien lächeln.
Frankreich: Zu viel Handbremse, interner Zwist
Mit zurückhaltendem Abwarten und dem Tempo von Kylian Mbappé ist Frankreich vor drei Jahren Weltmeister geworden. Genauso hatte es Treainer Didier Deschamps auch bei der EM angelegt. So kontrollierte man Deutschland beim 1:0 ohne groß gefährdet zu werden. Das 1:1 in Ungarn wurde als Resultat eines unglücklichen Spielverlaufs abgehakt, das 2:2 gegen Portugal wiederum als selbstsicheres „Nur so hoch springen wie man muss“.
Der lasche Auftritt gegen die Schweiz – bei dem man noch von der Schippe zu springen schien, um dann doch zu kollabieren – offenbarte aber nicht nur die Probleme, wenn man es scheibar allzu sehr überzeugt von der eigenen Unschlagbarkeit angeht. Es offenbarte auch große zwischenmenschliche Differenzen innerhalb des Teams: Rabiot gegen Pogba, Varane gegen Pavard, beide gegen Pogba – und alle gegen Mbappé, wie es nach seinem entscheidenden Fehlschuss im Shoot-out schien.
Was funktionert hat? Die Rückholaktion von Karim Benzema hat für je zwei Tore gegen Portugal und Frankreich gesorgt. Paul Pogba hat den Platz, der ihm im Gegensatz zum schnelleren Klubfußball geboten wurde, für einige großartige Performances gesorgt – wiewohl er gegen die Schweiz abgetaucht ist. Wie es mit Didier Deschamps weitergeht? Der Verband wird ihn nicht liefern. Und er wird nicht so abtreten wollen.
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Deutschland: Schlusspunkt nach ziellosen Jahren
„Nicht so abtreten“ wollte auch Jogi Löw nach dem peilichen Vorrunden-Aus bei der WM 2018. Der in den Sand gesetzte Generationswechsel und drei Jahre ohne erkennbare inhaltliche Entwicklungsrichtung gipfelten nun aber in einem EM-Turnier, das irgendwo zwischen „eh okay“ und „nicht besonders“ angesiedelt ist. Keine Blamage eines Vorrunden-Aus (wobei man nur knapp daran vorbeigeschrammt ist), kein Befreiungsschlag in Form einer positiven Überraschung.
Das 0:2 im Wembley, die erste Pflichtspiel-Niederlage in Englands Fußball-Nationalheiligtum seit 55 Jahren, wird den DFB schmerzen, aber es wurde damit kein möglicher EM-Titel versenkt. Bis 2018 hatte man geglaubt, dass das Team in sich so gefestigt wäre, dass es über die verloren gegangene Avantgarde-Stellung der Bundesliga erhaben wäre. Spätestens 2021 weiß man, dass Löw es nicht schaffte, dem DFB-Team in der Post-Guardiola-und-Klopp-Ära bei Bayern und Dortmund eine starke Identität zu verleihen.
In drei Jahren steht für Deutschland eine Heim-EM an. Eigentlich muss Löws Nachfolger Hansi Flick der Mannschaft aber schon bis zur WM in eineinhalb Jahren ein neues Gesicht verliehen haben.
Portugal: Ronaldo UND Bruno? Schwierig.
Ist Bruno Fernandes nun der Nachfolger von Cristiano Ronaldo als offensives Gesicht und als „Spiritus Rector“ von Portugal? Was dieses Turnier jedenfalls deutlich gemacht hat: Dass es nicht mit Ronaldo UND Bruno Fernandes geht. Ob auf der Zehn (wie in Ungarn) oder auf der Acht (wie in Deutschland) oder auf der rechten Seite (wie nach seiner Einwechslung gegen Frankreich): Das Spiel läuft an Fernandes vorbei. Manchmal hatte man das Gefühl, er wird von den Mitspielern bewusst geschnitten. Die Zahlen scheinen das zu untermauern: Wurde Renato Sanches 68 Mal pro 90 Minuten angespielt und Moutinho, der dann statt Fernandes auf der halbrechten Acht spielte, 53 Mal, waren es bei Bruno Fernandes nur 38 Mal pro 90 Minuten.
Wie seit der K.o.-Phase der EM 2016 immer war das Spiel Portugal darauf basierend, keinen Blödsinn zu machen; aber doch spürbar mehr auf Ballkontrolle ausgelegt – dafür hat man ja grundsätzlich auch Spieler, sogar mehr als genug. Dieses Überangebot sorgte für ein Ungleichgewicht, das das sichtbar Ronaldo treu ergebene Team phasenweise aus der Balance kippen ließ, vor allem, als man gegen Belgien einem Rückstand hinterher jagen musste.
Die Defensivstruktur mit einer Sechserkette hinten (Jota und Bernardo Silva rücken weit zurück) und einer Raute davor war eine interessante Variante, welche die aber gerade auf den Außenbahnen bestehende defensive Wackeligkeit nicht kaschieren konnte. So war Portugal bei dieser EM defensiv nicht immer sattelfest und offensiv berechenbar, weil fast nichts ohne Renato Sanches im Mittelfeld ging und weil alles auf Ronaldo ausgelegt war.
Kroatien: Ein Turnier zu viel
Ohne erkennbare Gegenwehr haben die Kroaten gegen England 0:1 verloren, gegen Tschechien nach einer ebenso ambitionslosen ersten Hälfte noch ein 1:1 gerettet und im entscheidenden Gruppenspiel in Schottland war es vor allem die individuelle Klasse, die zum Sieg und damit zumindest noch zum Achtelfinal-Einzug geführt hat. Dort wurde man nach dem Geschenk zur 1:0-Führung zwar durchaus mutig, aber letztlich brauchte es doch wieder spanische Einladungen, um in die Verlängerung zu kommen.
Dieses kroatische mit Luka Modrić im Herzen ist drei Jahre nach dem WM-Finale, und das hat sich schon seit einiger Zeit angedeutet, über dem Zenit. Dejan Lovren war nur noch in zwei Spielen dabei, Sime Vrsaljko wurde nach zwei Matches von Polen-Legionär Juranović verdrängt, Vida ist auch nicht mehr der Jüngste, Perišić ebenso. Dem Team fehlte es massiv an Dynamik und Spritzigkeit. Man wirkte im ganzen, nun ja… alt.
Zu den Lichtblicken gehörte Joško Gvardiol, der nun zu Leipzig gehen wird und die Lösung für die langjährige Problemstelle links hinten sein dürfte. Nikola Vlašić (23) zeigte gute Ansätze, Mario Pašalić (26, bei Atalanta eher nur Mitläufer) war auch ganz okay, Luka Ivanušec (22) durfte phasenweise neben bzw. statt Modrić Regie-Luft schnuppern. Für Nachschub ist in der nahenden Post-Modrić-Ära also gesorgt. Wie gut dieser sein wird, muss sich erst noch zeigen.
Niederlande: Hoch gehandelt, früh gefallen
Die Rückkehr zum Turnierfußball nach sieben Jahren war für die Niederlande, wenn schon sonst nichts, dann wenigstens eine Standortbestimmung. Die relativ problemlose Gruppe überstand man ohne große Schrammen, was aber auch daran lag, dass Österreich schnell die Waffen streckte und Nordmazedonien schon vor dem Match ausgeschieden war. Einem farblosen tschechischen Team im Achtelfinale begegnete man auf Augenhöhe, zumindest bis zum Ausschluss von De Ligt.
Frenkie de Jong glänzte als Verbindungsspieler zwischen Abwehr und Angriff, aber die völlige Abwesenheit von strukturierter defensiver Unterstützung für die Dreierkette in der Abwehr ließ bei aufmerksamen Beobachtern schon beim 3:2-Auftaktsieg gegen die Ukraine die Alarmglocken schrillen. Denzel Dumfries glänze als Wing-Back im Vorwärtsgang, offenbarte aber große Schwächen in der Abwehrarbeit.
Die Truppe des mittlerweile zurückgetretenen Frank de Boer war eine nicht ausgewogene Mischung aus vielen Stilelementen. Flinke Offensivkräfte, aber versehen mit dem 1,97-m-Schrank Weghorst (bzw. dem international unerfahrenen Malen). Von hinten nach vorne kombinieren mit einem klar definierten Aufbauspieler, aber ohne einen Absicherung hinter ihm. Gerne mit Breite auf den Außenbahnen, aber mit viel Luft im Rückraum. Damit gewinnt man, wenn alles soweit nach Plan läuft. Das lässt einen aber schnell umfallen, wenn man mit Unwägbarkeiten konfrontiert wird.
Schweden: Sie könnten, wenn sie wollten
Die 25 Prozent Ballbesitz, mit denen sich Schweden beim 0:0 zum Start gegen Spanien begnügte, werden in Erinnerung bleiben – zumal man dank des trickreichen Isak das Match auch 2:0 gewinnen hätte können. Das todlangweilige 1:0 gegen die Slowakei, das folgte, war die ideale Berieselung für ein Nachmittagsschläfen. Nein, eine aufregende Mannschaft ist Schweden wahrlich nicht.
Aber dass die Schweden durchaus einen gepflegten Ball spielen können, zeigten sie schon auch. Wie Emil Forsberg das Achtelfinale gegen die Ukraine an sich gerissen hat und neben seinem Tor noch zweimal Latte bzw. Stange getroffen hat, war stark – unterstützt von bemerkenswert gut gedrillten Angriffsstrukturen um ihn herum. Diese taktische Disziplin ist generell, wie schon beim Viertelfinal-Einzug bei der WM 2018, die hervorstechende Eigenschaft der Schweden. Es wird einfach getan, was getan werden muss. Im Block verteidigen gegen Spanien. Gegner überrumpeln wie gegen Polen. Selbst nach vorne gehen wie gegen die Ukraine.
Der Gruppensieg, der den Schweden durch das Last-Minute-Siegtor gegen Polen und die zwei spanischen Punktverluste in den Schoß gefallen ist, bescherte den Trekronor die Ukraine. Dass man ausschied, lag eher am Schusspech und der roten Karte in der Verlängerung, denn das schlechtere Team war man nicht. „So fühlt sich das also an“, bilanzierte Aftonbladet-Kolumnist Simon Bank, „wenn man ein Spiel dominiert, es eigentlich in der Tasche hat und es von in gelb spielenden Glücksrittern weggeschnappt bekommt. Normalerweise sind das ja Schweden…“
Wales: Am Tropf von Gareth Bale
Ein Team aus durchschnittlichen Zweitliga-Spielern und einer Handvoll Erstliga-Reservisten, am Leben gehalten von der einsatzfreudigen Omnipräsenz von Gareth Bale und der guten Balltechnik von Aaron Ramsey: Bei allem Respekt, aber viel mehr ist Wales nicht. Spielte man sich vor fünf Jahren mit einem geschickten System, in dem die beiden mit Joe Allen alle Freiheiten hatten, ins Halbfinale, war das 2021 nichts Außergewöhnliches mehr.
Wie sehr allerdings Gareth Bale im walisischen Team-Dress aufgeht, ist sehr wohl sehenswert. Er ist nicht nur auf dem Flügel zu finden, sondern rückt auch ein, lässt sich fallen, geht in den Zehnerraum oder zuweilen sogar in die Spitze; er erkennt den Raum und stößt hinein, er sieht gut postierte Mitspieler und setzt sie ein. Bales Auftritt beim überzeugenden Sieg über die Türkei wird eine der großen individuellen Leistungen bei diesem Turnier bleiben.
Nach dem etwas glücklichen 1:1 gegen die Schweiz, dem angesprochenen 2:0 gegen die Türkei und dem 0:1 gegen Italien (wo Wales in einem 5-2-1-2 mit Bale neben James in der Spitze spielte) hielt man so das Achtelfinale gegen Dänemark eine halbe Stunde lang offen; einmal in Rückstand, hatte man aber nichts mehr zuzusetzen. Nach dem Aus im Achtelfinale grämt man sich über die zwei späten Gegentore, die aus einem entschiedenen Spiel ein 0:4-Debakel werden ließen. Aber mehr als das Achtelfinale hat Wales in dieser Form auch nicht verdient.
Österreich: Die Kurve bekommen
Nach dem 0:4-Debakel im März gegen Dänemark und kreuzbiederen Vorbereitungsspielen war die Euphorie auf dem Nullpunkt und die Erwartungshaltung gering. Zumindest das Match gegen Mazedonien sollte man bitteschön gewinnen, dann hätte man sich wenigstens nicht blamiert. Dann gab es diesen 3:1-Erfolg über den Debütanten sogar. Es folgte ein 0:2 in Holland, in seiner ganzen Ideen- und Antriebslosigkeit eine geradezu erschütternde Vorstellung.
Aber das ÖFB-Team hat die Kurve noch bekommen. Man überrannte ein ukrainisches Team, das sich auf einen gemütlichen Nachmittag eingerichtet hatte, an dem ein Remis beiden Mannschaften zum Aufstieg reichen würde. Und nachdem man erstmals seit 39 Jahren die Vorrunde einer WM- oder EM-Endrunde überstanden hatte, lieferte man Italien einen großen Kampf mit offenem Visier, den man genauso gut gewinnen hätte können.
David Alaba glänzte als Linksverteidiger, indem er seinen Gegenspieler abmontierte. Grillitsch glänzte auf der Sechs, Marcel Sabitzer arbeitete viel, Konrad Laimer gefiel auf ungewohnter Position; Aleksandar Dragovic versöhnte sich dank starker Darbietungen nach seiner individuellen Katastrophe von 2016 mit der EM.
Obwohl das bloße Resultat das Erreichen des Minimalzieles war – also das Achtelfinale – kann Österreich zufrieden auf das Turnier zurückblicken, zumal nach dem Kollaps von 2016. Ob der plötzliche Mut, den Franco Foda seinen Spielern gegen die Ukraine und Italien zugestand, nun der Beginn eines Trends ist oder doch nur ein Strohfeuer, wird der anstehende WM-Quali-Herbst zeigen.
Fazit: Viele Favoriten weg, dennoch einige übrig
Da können die beiden letzten Weltmeister, der Vize-Weltmeister und der EM-Titelverteidiger den Sprung unter die letzten Acht verpassen – und es sind immer noch mit Italien, Spanien, Belgien und England vier echte Schwergewichte übrig; die sich nun mit den auf der Welle reitenden Dänen, den nimmermüden Schweizern sowie den Überraschungsgästen Ukraine und Tschechien um den Titel streiten. Europa ist ohnehin im Weltfußball in den letzten 15 Jahren so dominant wie noch nie zuvor, und dann zeigt diese EM auch noch die Tiefe auf.
Da reichen auch für große Namen gegen vermeintlich in Relation schwächere Teams wie Schweiz oder Tschechien Nachlässigkeiten, um zu Stolpern. Wenn die klare Idee von der eigenen Spielweise fehlt oder wenn ein eigentlich guter Spieler nicht ins Teamgefüge aufgenommen wird. Manche, wie Italien und Spanien, haben sich noch einmal aus dem teilweise selbstverschuldeten Sumpf herausgezogen.
Darum sind diese Mannschaften auch noch im Rennen um den EM-Titel.