Was uns die EM 2021 gezeigt hat: Die große Abschluss-Bilanz

Die zweite EM mit 24 Teams ist vorüber, Italien hat sie gewonnen und es waren unerwartet viele attraktive Spiele dabei. Ein Turnier, dass vor Beginn „niemand so ganz dringend gebraucht hat“, wurde zu einer flotten Angelegenheit, von der man such – sportlich betrachtet, denn volle Stadien wirken in Corona-Zeiten immer noch befremdlich bis beklemmend – gerne mitreißen ließ.

Und was hat uns dieses Turnier gelehrt? Hier unsere gewohnte Abschluss-Bilanz.

Offensive sorgt für attraktive Spiele

142 Tore. Nach der historisch zähen EM vor fünf Jahren folgte nun die torreichste, seit sie 1980 als echtes Endrunden-Turnier ausgetragen wird. Und das nach einer super-vollgepackten Saison, in der die gleiche Anzahl Spiele in ein bis zwei Monaten weniger Zeit durchgepeitscht worden war. Was ist da los?

Banal gesagt: Der Nationalteam-Fußball folgt tendenziell dem Klubfußball. Die Ausschläge sind wegen der geringen Sample Size größer, aber die Tendenz bleibt. In den großen vier Ligen ist die Zahl der Tore pro Spiel von 2,72 (2001) bis auf die Marke von 2,49 (2007) gesunken, ehe sie bis 2017 wieder auf 2,84 hochschnellte – seither pendelt die Zahl zwischen 2,7 und 2,8.

Bei den Großturnieren war der Höhepunkt 2000 mit 2,74 bis zur Trendwende 2010 mit 2,27 gesunken, seither geht sie wieder nach oben – bis eben nun auf 2,78. Es gab einen Ausschlag nach oben (2014 mit 2,67) und einen nach unten (2016 mit 2,12). Ob die Tatsache, dass nach einem ganzen Jahr mit Geisterspielen wieder Zuseher in den Stadien waren und die Spieler womöglich dadurch animiert wurden, müsste man psychologisch untersuchen. Fix ist jedenfalls, dass die Anzahl der Tore in der Corona-Saison 2020/21 in den großen Ligen gegenüber der letzten komplett „normalen“ Saison 2018/19 etwas geringer geworden ist (in England -0,13 und in Spanien -0,08 und in Deutschland -0,15)

Einzige Außnahme: Italien (+0,38).

Der Europameister: Auf fruchtbarem Boden

Der Quantensprung, den die Serie A bei den Toren in der Liga seit der verpassten WM-Teilnahme 2018 gemacht hat, ist zu einem großen Teil auf die konsequente Offensivausrichtung von Atalanta und Sassuolo zurückzuführen. Von dem Plus von 146 Toren pro Saison ligaweit seit 2018 sind alleine die Teams von Gian Piero Gasperini und Roberto de Zerbi für 68 verantwortlich.

Zwar waren kaum Spieler dieser Klubs ernsthaft an der italienischen EM-Kampagne beteiligt – im Grunde nur Berardi und Locatelli von Sassuolo – aber dieser Trend zu mehr Offensive wurde von Mancini nur allzu gerne aufgegriffen. Es ist nicht so, dass das mit vergangenen Spielergenerationen nicht auch möglich gewesen wäre. Aber dieser Kulturwandel, der sich in Italien in den letzten Jahren vollzogen hat, sorgte dafür, dass die angriffigere, kreativere Spielweise auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Die Squadra Azzurra ist nach dem Finale bereits seit 34 Spielen ungeschlagen.

Finale: Italien – England 1:1 n.V und 3:2 i.E.

Der Pool an Spielern wird zwar immer kleiner – von 70 Prozent Einsatzzeit für Italiener in der Serie A in der Saison 2005/06 (vor dem WM-Titel) über 41 Prozent im Jahr 2017 (als das WM-Ticket vergeben wurde) ist der Anteil nun auf 33 Prozent geschrumpft. Aber die nachrückenden Spieler, die in Frage kommen, sind von ansprechender Qualität: Alleine bei den letzten drei U-21-EM-Turnieren, bei denen Italien immer dabei war, sind bereits neun nun Europameister geworden (und es wären zehn, wenn nicht Pellegrini coronabedigt im letzten Moment aus dem Kader gestrichen worden wäre).

Der Erfolg von Italien ist kein Zufall und Italien sollte auch mit der nun nachgekommenen Generation – Leute wie Tonali und Zaniolo sind auch noch in der Hinterhand – eine gute Rolle spielen können. Nur: Auf allzu breiten strukturellen Füßen steht er immer noch nicht.

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Comeback der Außenspieler

Überhaupt hat sich die Spielanlage der Teams gegenüber 2016 massiv verändert. Damals war man unter dem Eindruck der gerade abgeflauten Pressingwelle der frühen 2010er-Jahre, die buchstäblich müde Beine bekommen hat und auf Nationalteam-Ebene auch schwierig zu implementieren war. So setzten 2016 viele Teams auf Mannorientierungen im Mittelfeld und daruf, die Spielgestalter im Zentrum – von Modric über Iniesta bis Krychowiak – aus der Gleichung zu decken. Auch bei der WM 2018 waren die Außenverteidiger eher Mitläufer ohne entscheidende Rolle im Aufbauspiel.

Die zunehmende Knubbelung im Zentrum machte die Außenspieler nun aber wieder wichtiger. Leonardo Spinazzola bei Italien, Joakim Mæhle bei Dänemark, Kimmich und Gosens bei Deutschland, Luke Shaw bei England, Andy Robertson bei Schottland, Steven Zuber bei der Schweiz: Sehr viele Mannschaften trugen ihre Angriffe über die Seiten vor, vornehmlich über die linke.

Fröhliche Urständ der Fünferkette

Das geht auch mit dem Umstand einher, dass zehn der 24 Teams quasi Vollzeit eine Dreier-/Fünferkette in der Abwehr gespielt haben, drei weitere zumindest zeitweilig. Zum Vergleich: Bei der WM 2018 in Brasilien waren es nur vier von 32 Teams, davon zwei aus Europa – Belgien und England. Und selbst in der im Jahr 2019 gespielten EM-Quali setzten nur 22 Prozent der Teams vornehmlich auf eine solche Abwehr-Formation: Albanien, Aserbaidschan, Belgien, Estland, Färöer, Israel, Kasachstan, Malta, Moldawien, Nordmazedonien, Schweiz und Zypern. Also zumeist nicht gerade die Creme de la Creme.

Nun war es aber eben bei der EM so, dass es einen Weg nach vorne geben musste, ohne durch das dichte Zentrum zu kommen. Die Benützung von Wing-Backs neben einer Dreier-Kette im Zentrum bietet den bekannten Vorteil, dass diese höher schieben können und weniger akut in der Defensive ihre Aufgaben verrichten müssen. Zudem werden klassische Außenverteidiger in Viererketten-Systemen nach hinten gedrückt.

Der Deal, den man mit einem Wingback-System eingeht, ist das Fehlen eines Spielers entweder im Mittelfeld-Zentrum oder im Zehnerraum. Für viele Trainer bei dieser EM war das aber ein Umstand, den sie in Kauf genommen haben. Diese Herangehensweise hatte auch eine Folge, die sehr auffällig war:

Die vielen Eigentore

Elf Eigentore – das sind mehr, als in allen bisherigen EM-Endrunden zusammen. Sieht man sich diese genauer an, erkennt man aber ein klares Muster: Sieben davon sind aus Stanglpässen entstanden, welche der Verteidiger vor einem Stürmer in seinem Rücken vergeblich zu klären versuchte.

Das ist kein Zufall, denn solche Spielzüge sah man sehr häufig. Rund 25 Prozent aller Tore fielen aus Stanglpässen und Flanken von außerhalb des Strafraums vor das Tor – also mehr als es Treffer aus Standardsituationen gab. Es sind dies Spielzüge, die prädestiniert sind für Turniere mit zusammengewürfelten Mannschaften, weil sie kaum komplizierte Muster brauchen: Hinter die letzte Abwehrreihe kommen, Ball vor das Tor bringen – und irgendwer wird schon seinen Fuß reinhalten, egal ob ein Mit- oder ein Gegenspieler.

Dreimal legten sich Torhüter von Latte oder Pfosten abgeprallte Bälle selbst über die Linie (zweimal davon ungeschickt, einmal unglücklich). Den von Zakaria abgefälschte Weitschuss hätte man genausogut auch Alba geben können – und dann war noch Pedris Rückpass über 50 Meter, der Unai Simón über den Fuß gerutscht ist.

Relativ wenig Tore aus Standards

Bei der WM 2018 fiel in der Gruppenphase fast jedes zweite Tore aus einer Standardsituation, am Turnier-Ende waren es immer noch 41 Prozent. Sprung nach heute: Nicht mal ein Viertel aller Tore resultierte aus einem ruhenden Ball. Gar nur ein einziges der 142 Tore fiel aus einem direkt verwandelten Freistoß – im vorletzten Spiel, Damsgaards Treffer gegen England.

Wie beim generellen Trend nach mehr Toren glich sich der Wert auch hier nach einem Ausreißer wieder der generellen, aus dem Klubfußball bekannten Gegend an. In allen großen Ligen ist der Anteil der Tore aus Standardsituationen in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen: Lag der Anteil 2014/15 noch zwischen 22 und 24 Prozent, war er in der abgelaufenen Saison zwischen 16,5 und 18,6 Prozent angesiedelt.

So gesehen sind die 24 Prozent bei dieser EM sogar noch relativ hoch.

Massive Breite

Man mag über den Modus jammern und der High-End-Qualität einer EM mit 16 Teams nachweinen – und man kann beides mit Berechtung machen – aber klar ist auch: Die grundsätzliche Qualität ist am Kontinent für eine Endrunde mit 24 Teilnehmern durchaus gegeben. Was das Team Nummer 16 kann, kann das Team Nummer 24 auch annähernd, da ist kein dramatisches Gefälle gegeben und einige Länder, die ein höheres Potenzial haben als Finnland – soweit man das objektiv beurteilen kann – haben sich gar nicht qualifiziert.

Wir reden da von Serbien beispielsweise, von Griechenland oder Norwegen, Island oder Bosnien. Diese Teams hätten die EM vielleicht nicht reicher gemacht. Ärmer aber auch nicht, man denke nur an Erling Håland.

Die (vermeintlich) Großen mussten sich auch gegen (vermeintlich) Kleine kräftig strecken – selbst Mazedonien und Finnland, aber auch die nach altem Modus ohne Teilnahme-Chance gewesenen Ungarn haben ihre Daseinsberechtung mit disziplinierten und/oder couragierten Auftritten bestätigt. Frankreich, Portugal, Deutschland, Holland und Kroatien haben sich im Achtelfinale verabschiedet und es waren immer noch genug Teams übrig, die einen realistischen Claim auf den Titel stellen konnten.

Ob es dennoch gescheit ist, so ein Turnier mit 24 oder gar, wie offenbar angedacht wird, bald mit 32 Teams durchzuführen, sei dahingestellt. Es sollte bei einer EM dann womöglich doch eher wie beim Kapitalismus generell sein: JEDER kann reich werden, aber es können nicht ALLE schaffen.

EM der Teams, nicht der Stars

Wie hieß es in unserer Bilanz zur EM 2016? „Individuelles Genie ist immer noch wichtig und kann in engen Spielen entscheidend sein; aber jeder stellte sich voll in den Dienst der Mannschaft.“ Die EM 2021 ging noch einen Schritt weiter: Es war keine EM der Stars. Die fünf Tore von Ronaldo konnten Portugals Achtelfinal-Aus nicht verhindern, der bei Man United so groß aufspielende Bruno Fernandes war ein Fremdkörper. Kevin de Bruyne schleppte sich verletzt durch das Turnier, konnte seine Klasse nur aufblitzen lassen. Frankreich spielte eine gute Gruppenphase, aber die vielen Stars des Weltmeisters waren in Wahrheit ein zerstrittener Haufen. Lewandowski erzielte drei der vier polnischen Tore, kam aber nicht mal ins Achtelfinale. Modric wirkte phasenweise ausgelaugt. Ja, Bale war sehr gut, aber das Team um ihn herum eben nicht.

Dafür war es schon vor der EM ein oft herausgestrichener Punkt, dass Italien keine echtes Stars hat, sondern als Team funktioniert. Dänemark kann nach dem Eriksen-Vorfall exemplarisch dafür stehen, dass es eine EM der Teams war, keine der Stars. Gareth Southgate und Luis Enrique setzten jeweils (fast) ihren kompletten Feldspieler-Kader ein, rotierten je nach Bedarf, Matchplan und Gegner. Auch der überraschende Viertelfinalist Tschechien funktioniert rein als Team, die Schweizer genauso.

Referees und VAR

Die Vorgabe von UEFA-Schiedsrichter-Chef Roberto Rosetti (der 2008 in Wien das EM-Finale geleitet hat) war ganz klar: Der VAR greift nur bei Abseits-Entscheidungen ein, und wenn eine Entscheidung auf dem Feld komplett daneben ist. Das war sie in 51 Spielen nie – darum wurde auch kein Judgement-Call eines Referees auf dem Feld vom Video-Assistenten kassiert. Die drei Elfmeter-Entscheidungen, die nach allgemeinem Empfinden verkehrt waren (der französische gegen Portugal, der russische gegen Dänemark und der englische ebenfalls gegen Dänemark), waren nun mal keine gänzlich berühungslose Schwalben. Damit blieben die Entscheide bestehen – die Entscheidungsgewalt des Referees auf dem Platz sollte betont werden.

Für die beiden Referees, die ihre zweifelhaften Elfer in der Gruppenphase gaben – Turpin und Mateu-Lahoz – gab es allerdings keine Einsätze mehr. Für Makkelie nach dem Halbfinale sowieso nicht mehr. Wir haben jetzt erst vier Jahre mit dem VAR in den Büchern, dass es ein Jahrzehnt des „mal zu viel, mal zu wenig“ brauchen wird, bis sich alles halbwegs konstakt eingespielt hat, deutet sich immer mehr an.

Die Leistungen waren im Ganzen sehr ansprechend, der VAR hat zusätzlich so gut wie alles ausgebügelt – entgegen dem Empfingen sogar etwas häufiger (alle 2,83 Spiele eine umgedrehte Entscheidung) als etwa in der Premier League (alle 2,97 Spiele). Dafür wurden weniger Fouls gepfiffen als noch 2016 (damals 25,2 pro Spiel, diesmal 23,3).

Die unmittelbare Zukunft

Im September, Oktober und November werden die sieben verbleibenden Spieltage für die WM-Quali ausgespielt, die im März begonnen hat. Im Oktober steht zusätzlich das Final-Four der Nations League an – Italien, Spanien, Belgien und Frankreich treffen sich in Turin bzw. Mailand.

Im März 2022 ist das WM-Playoff geplant. Im Juni 2022 (vier Spiele) und September 2022 (zwei Spiele) steht die nächste Nations League an, im November und Dezember 2022 die WM in Katar.

Die letzten drei Weltmeister (Frankreich, Deutschland, Spanien) waren bei der EM davor jeweils mindestens im Halbfinale. Italien, England, Spanien und vielleicht sogar Dänemark könnten also eine schon jetzt platzierte Langzeit-Wette wert sein.

Link Tipps:
Analyse der Vorrunden-Verlierer (FIN, HUN, MKD, POL, RUS, SCO, SVK, TUR)
Analyse der Achtelfinalisten (AUT, CRO, FRA, GER, NED, POR, SWE, WAL)
Analyse der Top-8 (ITA, ENG, ESP, DEN, BEL, SUI, CZE, UKR)

Link-Tipps:
Balance, Absicherung, Video-Referee: Das war die WM 2018
10 Erkenntnisse der EM 2016 in Frankreich
WM 2014: Rückkehr der Dreierkette, gute Goalies und die ewige Diskussion um die Refs
WM 2010: Toter zweiter Mann, besoffene Schiefe und andere Erkenntnisse

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Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.