Polen, Russen, Türken als Verlierer einer EM-Vorrunde mit Farbtupfern

Die Gruppenphase der EM dieses Jahres 2021 ist beendet. Das heißt, dass wir uns von den ersten acht Teams verabschieden müssen. Darunter sind einige relativ prominente Namen – wie etwa Polen, Russland und die Türkei – aber sie alle haben genug Schwächen gezeigt, um das Vorrunden-Aus zu rechtfertigen. Niemand kann sagen, dass es nur Pech oder unkontrollierbare äußere Einflüsse waren, die zum Aus geführt haben.

Hier die Bilanz der acht EM-Teilnehmer, die nach der Vorrunde die Segel streichen mussten.

Polen: Unter Wert geschlagen

Nein, natürlich wären die Polen nicht Europameister geworden, selbst wenn sie aus der Gruppe E herausgekommen wären. Aber die Truppe um Weltfußballer Robert Lewandowski ist doch unter Wert geschlagen worden und vieles erinnerte an den Auftritt von Österreich bei der EM 2016.

Polen spielt bei jedem Turnier die drei gleichen Spiele, ätzen Fans in der Heimat: Das Auftaktspiel, das Spiel der letzten Chance und das Spiel, um zumindest erhobenen Hauptes nach Hause zu fahren. Diesmal machte man gegen die Slowakei gar nicht so arg viel verkehrt, verlor aber durch einen Energieanfall von Róbert Mak und einen Eckball. Gegen Spanien war man zwar größtenteils am Verteidigen, holte aber immerhin das Remis ab. Und gegen Schweden kämpfte man sich nach 0:2 zurück, drückte auf den nötigen Sieg und lief in der Nachspielzeit in einen Konter – 2:3.

Es ist dennoch nicht nur Pech, weswegen Polen als einziger der zehn Quali-Gruppensieger vorzeitig ausscheidet. Es fehlt – wie so vielen der Mittelklasse-Mannschaften – an einem höherklassigen kreativen Aufbau, um einen tief stehenden Gegner zu knacken. Das wurde vor allem gegen die Slowakei evident, lange kam man auch gegen Schweden nicht so recht in Abschlusspositionen. Wenn das gelang, war Lewandowski sofort zur Stelle, er erzielte drei der vier polnischen Tore, aber von Krychowiak (Ausschluss im ersten Spiel) und Klich kam zu wenig.

Es gibt einige junge, nachrückende Spieler – Kozłowski (17, vermutlich zu Dortmund), Piątkowski (20, zu Salzburg), Puchacz (22, zu Union Berlin) – aber ohne die Klasse eines Lewandowski kommt Polen (noch?) nicht aus.

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Russland: Am Boden der Tatsachen

Vorrunden-Aus bei der EM 2012, bei der WM 2014 und bei der EM 2016 – jeweils mit sehr biederem, oft hilflosen Fußball. Dann mauerte sich Russland vor zwei Jahren ins WM-Viertelfinale, nun ist die Sbornaja aber wieder am bitteren Boden der Tatsachen angekommen.

Das Mittelfeld hat in drei Spielen nicht einen einzigen kreativen Pass zu Stande gebracht, was den Russen das Leben gegen Finnland ziemlich schwer gemacht hat. Die Abwehr war fehleranfällig, was den Belgiern einen leichten Sieg ermöglicht hat. Und als man gegen Dänemark gezwungen war, Risiko zu gehen, lief man sofort in die Gegentore.

Vor allem die völlige Abwesenheit jeglicher Kreativität – mehr als lange Bälle in die grobe Richtung von Angriffs-Leuchtturm Dzyuba fiel den Russen kaum ein – macht den letzten Gruppenplatz, sogar hinter Debütant Finnland, zu einem korrekten Resultat. Denn der Anspruch von Russland muss es sein, zumindest unter die 16 besten Teams Europas zu kommen. Mit Golovin und Miranchuk gab es zwei Hoffnungsträger, aber sie sind auch schon Mitte 20 und können dem russischen Spiel noch immer nicht ihren Stempel aufdrücken.

Ungarn: Beinahe Sensation geschafft

84 Minuten hielt man Portugal bei einem Remis, die Franzosen sogar bis zum Schlusspfiff und gegen die Deutschen fehlten auch nur zehn Minuten auf den Sieg: Dass Ungarn auch ohne den verletzten Dominik Szoboszlai beinahe die „Todesgruppe“ überstanden hätte, darf als eine der größeren Überraschungen des Turniers gelten.

Freilich, ein besonders unterhaltsames Vergnüngen war es für den neutralen Zuseher nicht, wie man die individuell massiv überlegenen Gegner zum mühsamen Steineklopfen zwang. Aber die Disziplin, mit der die Magyaren verteidigten, wie sie nie die Ruhe verloren und nach dem zwischenzeitlichen deutschen Ausgleich binnen Sekunden wieder in Führung gingen, war durchaus beeindruckend.

Zu überlegen, ob es mit Szoboszlai tatsächlich für die Situation gereicht hätte oder was in einer anderen Gruppe möglich gewesen wäre – etwa jener mit Spanien, Schweden und der Slowakei – ist müßig. Attila Szalai soll in eine größere Liga wechseln, es gibt noch einige weitere nachrückende Spieler. Damit ist das einzige Team, das als Viertplatzierter seiner Qualifikation-Gruppe über das Nations-League-Playoff zur EM gekommen ist, wohl zumindest im Kampf um weitere EM-Teilnahmen gerüstet. Mehr? Schwierig.

Türkei: Die große Enttäuschung

Guter Kader mit diversen Spielern, die von einer Saison als Meister (Lille) oder Vizemeister (Milan) oder Cupsieger (Leicester) in guten Ligen zur EM gefahren sind. Der Trainer, mit dem die Türkei 2002 ein verdienter WM-Dritter geworden ist. Starke Resultate, wie der 4:2-Sieg gegen Holland, im Vorfeld. Und eine nicht besonders problematische Gruppe. Alles war angerichtet für ein starkes türkisches Turnier. Und dann das.

Das chancenlose 0:3 im Auftaktspiel in Italien durfte man noch am starken Gegner festmachen. Aber auch gegen Wales (0:2) und die Schweiz (1:3) haben die Türken nichts angeboten. Im Vorwärtsgang war es reiner Zufallsfußball: Kaum drei zusammenhängende Pässe, viel Improvisation, enorme Ungenauigkeit. Hakan Çalhanoğlu konnte weder von der linken Außenbahn noch von der Acht/Zehn in Güneş‘ 4141/4231-Hybridsystem irgendeine Form von Struktur hinein bringen.

Das defensive Mittelfeld mit Okay und Ozan war so durchlässig, dass Güneş sie in den ersten beiden Spielen jeweils beide auswechselte und vermehrt den gelernten Innenverteidiger Ayhan auf die Sechs stellte. Die auf dem Papier gutklassige Abwehr war durchlässig; Demiral merkte man die fehlende Spielpraxis bei Juventus deutlich an. Und Uğurcan Çakır im Tor offenbarte einige technische Schwächen.

Die Türkei fährt mit der schlechtesten Bilanz alle EM-Teilnehmer – 0 Punkte, 1:8 Tore – nach Hause. Und das mit einem Team, das auch im Viertelfinale keine Sensation gewesen wäre.

Nordmazedonien: Achtbares Turnier-Debüt

Auch wenn es letztlich drei Niederlagen gab: Der Debütant hat eine gute Figur abgegeben und gezeigt, dass man eben nicht mehr das sportliche Anhängsel als traditionell schlechtestes Team aus dem ehemaligen Jugoslawien ist. Man machte Österreich und der Ukraine das Leben schwer, Goran Pandev erzielte beim Höhe- und Schlusspunkt seiner 20-jährigen Nationalteam-Karriere sogar noch ein EM-Tor und einige Junge lieferten Talentproben ab.

Vor allem die beiden Achter Eljif Elmas und Enis Bardhi – die auch beide jeweils als hängende Spitze hinter Pandev betätigten – dürften das Team in den kommenden Jahren prägen; Rayo Vallecano hat sich in Abwesenheit von Stammgoalie Stole Dimitrievski im Playoff um den Aufstieg in die La Liga durchgesetzt. Der routinierte Arjan Ademi hat auch sicher noch eine EM in den Beinen, der giftige Egzjan Alioski (Arnautovic‘ Spezial-Freund) auch.

Die Grundausrichtung war defensiv, aber die Mazedonien bunkerten sich nicht nur hinten ein, sondern hatten zuweilen – vor allem gegen die Ukraine – durchaus die Ambition, auch selbst nach vorne zu spielen. Zwar fährt man mit dem höchsten Gegentor-Wert bei den Expected Goals nach Hause, aber man hat sich keineswegs als der chancenlose Prügelknabe präsentiert, den man vom Team aus der hintersten Nations-League-Zug befürchtet hatte.

Und ja, Mazedonien hat sich über die Nations League qualifiziert und diese Bewerbsspiele, in denen man sich ohne Angst vor Debakeln entwickeln konnte, haben definitiv geholfen. Man darf aber nicht vergessen, dass sich das Team auch im alten Quali-Modus ohne NL-Hintertür zumindest für das Playoff qualifiziert hätte. Man war Gruppendritter hinter Polen und Österreich, und noch vor Slowenien und Israel. Auch in der WM-Quali für 2022 hat man mit dem Sieg in Deutschland schon ein Ausrufezeichen gesetzt.

Schottland: Bemüht, aber nicht gut genug

Erstmals seit der WM 1998 hat sich Schottland wieder für ein großes Turnier qualifiziert. Bei der elften Teilnahme an einer WM- oder EM-Endrunde steht letztlich zum elften Mal das Aus in der Vorrunde, aber neben einigen allzu offensichtlichen Schwächen gibt es auch Anzeichen, die eine gewisse Zuversicht geben können.

Die Schotten verfügen aktuell über drei Spieler, die höheren Ansprüchen in der Premier League genügen. Zwei davon sind Linksverteidiger (Robertson und Tierney), einer ist Sechser (McTominay). Steve Clarke etablierte in den letzten Monaten ein 5-3-2, in dem er sie alle drei unterbrachte – McTominay dabei in der Abwehrkette. Die Folge: Schottland legte alles hinein, spielte stets mit vollem Einsatz und hatte vor allem nach dem 0:0 gegen England den Applaus auf seiner Seite.

Am Ende war’s trotzdem deutlich zu wenig. Das Problem war, wie bei so vielen anderen Teams, die Kreativität im Mittelfeld und das Leistungsgefälle schon innerhalb der ersten Elf. Billy Gilmour hat viel Talent und spielte gegen England stark, fehlte gegen Kroatien aber nach einem positiven Corona-Test. Ché Adams brachte Belebung in den Angriff, er macht aber – wie auch in Southampton – etwas zu wenig daraus.

Dafür ist Stephen O’Donnell auf der rechten Seite ein braver Kämpfer, aber technisch zu schwach für eine EM. Lyndon Dykes, der alle drei Spiele starten durfte, brachte im Angriff keinerlei Mehrwert. Und Optionen von der Bank, die über Zweitliga-Niveau hinausgehen würden, hat Clarke ganz einfach nicht zur Verfügung. Realistisch betrachtet wird auch in absehbarer Zukunft schon die Qualifikation für eine EM ein Kraftakt bleiben.

Finnland: Kein zweites Island

Die Strategie des zweiten EM-Debütanten war erwartet simpel: Hinten mit Fünfer-Kette und drei defensiven Mittelfeldspielern davon nichts zulassen; und vorne auf die Torgefahr von Joel Pohjanpalo und vor allem Teemu Pukki hoffen. So holte Finnland tatsächlich annähernd das Optimum aus dem Turnier heraus, es gab sogar einen Sieg, über den man sich angesichts der Umstände (Stichwort Eriksen) in dem Moment kaum freuen konnte.

Der stets freudig lachende Paulus Arajuuri versinnbidlicht den finnischen Turnier-Erstauftritt. Man genoss die Spiele im Scheinwerferlicht, so weit das möglich war, und hatte sichtlich Freude daran, die individuell besser besetzten Gegner zu nerven. Es reichte zwar in der Offensive kaum kaum mehr als vier vernünftige Torschüsse in den drei Spielen (davon war einer drin, beim 1:0-Sieg über Dänemark). Aber man stellte die Gegner vor Probleme.

Und wer weiß, ob ohne Hradeckys unglücklichem Reflex, der die späte Niederlage gegen Belgien gebracht hat, nicht sogar noch ein vierter Punkt und damit die Achtelfinal-Teilnahme gestanden wäre. Dort hätte Wales gewartet, ein Viertelfinale wie vor fünf Jahren bei Island war also keineswegs völlig außerhalb der Reichweite. Man hat sich vorerst im zweiten Zug der Nations League etabliert, für die WM-Quali in den dritten Topf nach vorne gekämpft und wird mit der Ukraine um den zweiten Gruppenplatz in der Gruppe hinter Frankreich kämpfen.

Tatsache ist aber auch: Leistungsträger wie Pukki, Sparv, Arajuuri und Toivio nähern sich dem Herbst ihrer Karrieren und es gibt kaum nennenswert talentierten Nachwuchs.

Slowakei: Harmlos, langweilig, abgeschossen

Der Expected-Goals-Wert der Slowakei beträgt etwa 1,1 Tore. Wohlgemerkt: In allen drei Spielen zusammen. Es reichte zu einem glücklichen Sieg über ratlose Polen, der durch ein Solo-Dribbling und einen Eckball gesichert wurde – aber kreiert haben die Slowaken praktisch nichts. Man war das harmloseste und langweiligste Team der EM und gegen Spanien gab es einen der hilflosesten Auftritte eines EM-Teilnehmers ever.

Dass nach vorne nichts los ist, ließ sich schon beim 0:0 im letzten Test in Wien erahnen, daran änderte auch die Rückkehr des gegen Österreich noch geschonten Marek Hamšík nichts. Trainer Tarkovič spielte dann auch ohne gelernten Stürmer: Denn Hamšík ist immer eher auf der Acht daheim gewesen und Duda ist ein Zehner. Stürmer Ďuriš kam zweimal erst in den Schlussminuten. Der junge Robert Boženík, der in der Qualifikation vorne gespielt hatte, kommt bei Feyenoord kaum zum Zug und war in der der drei slowakischen EM-Spiele nicht einmal im 23er-Kader.

Dieses Team kann nur verteidigen und beim 0:5 gegen die Spanier – wo die Slowakei nicht einen einzigen Torschuss verzeichnete – nicht einmal das. Auch die mittelfristige Aussicht ist nicht rosig. In der Nations League ist man relativ krachend in den dritten Zug abgestiegen, die Qualifikation für Katar 2022 hat man mit Unentschieden gegen Malta und Zypern begonnen. Trotz des überraschenden Sieges gegen Russland: Die Chance selbst auf das Playoff ist schon jetzt stark beschädigt.

Fazit: Nur Fußnoten zu verabschieden

Wie schon vor fünf Jahre gilt: Die Erweiterung von 16 auf 24 Teams macht das Turnier größer, aber nicht unterhaltsamer. Haben wir in der Vorrunde eine Mannschaft verloren, die wirklich das Zeug für ein EM-Viertelfinale hätte? Eher nicht. Die Polen unter Umständen, die waren 2016 nur ein Elfmeterschießen vom Halbfinale entfernt. Die Russen? Trotz des WM-Viertelfinales von 2018, nein, das war einfach überhaupt gar nichts da.

Die Finnen und die Mazedonier haben sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten anständig verkauft, die Schotten in Wahrheit auch, aber das sind Farbtupfer, die im Ganzen kaum mehr als Fußnoten sind. Ungarn? Haben sich in der schwere Gruppe wacker verteidigt, immerhin. Die Türkei, gutes Potenzial, auf dem Platz ein Desaster. Die Slowakei? Schön für sie, dass sie dabei waren. Sollen sich über den Sieg gegen Polen freuen. Aber bitte reden wir nicht mehr drüber.

Im Achtelfinale gibt es immer noch einige Duelle von Teams, die man nicht zwingend als Bank für das Viertelfinale gesehen hätte, aber hier braucht es doch schon ernsthafte Qualität in dem, was man tut, um dorthin zu kommen. Das ist manchmal nicht so lustig anzushen (looking at you, Sweden), manchmal wirklich mitreißend (Dänemark!).

Oder sagen wir so: Die Vorrunde 2021 war deutlich unterhaltsamer als die Vorrunde 2016. Das lag aber nur zu einem kleinen Teil an den nun ausgeschiedenen Teams.

Cool? Sag das doch anderen!

Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.