Die EM-Reise von Österreich endet im Achtelfinale: Ein Eckball-Gegentor in der 1. Minute erlaubt den Türken, aus dem tiefen Block auf Konter zu spielen, die Österreicher damit völlig aus der Komfortzone zu werfen. Auch wenn es unglücklich war, sich nicht zumindest noch in die Verlängerung gerettet zu haben: Dieses Spiel entwertet die bis dahin großartige EM von Österreich nicht, hat aber das größte Problemfeld recht schonungslos aufgedeckt.
Die Türken spielten von Anfang an – schon in den paar Sekunden vor jener Ecke, die sich Österreich mehr oder weniger selbst nach kaum einer gespielten Minute ins Tor gelegt hat – mit einer Fünfer-Abwehrkette. In Abwesenheit des gesperrten Samet Akaydin kam nicht nur die erwartete Innenverteidigung mit Abdülkerim und Demiral zum Einsatz, sondern rechts daneben auch noch Kaan Ayhan. Der Deutsch-Türke war in der Vorrunde als Sechser hinter dem im Achtelfinale gelbgesperrten Çalhanoğlu eingesetzt worden.
Das frühe Gegentor jedenfalls (und das österreichische Verpassen einer sofortigen Antwort bei einem eigenen Standard in der 3. Minute) änderte die Statik des Spiels komplett, weil die Türken nun guten Gewissens verteidigen konnten. Zunächst wurde der ballführende Österreicher auch schon im Mittelfeld unter Druck gesetzt, nach etwa zehn bis fünfzehn Minuten etablierten die Türken aber einen tiefen 5-4-Block.
Keine Idee nach vorne, Gefahr nach hinten
Die Österreicher hatten nichts zum Anpressen und waren zu jenem Spiel gezwungen, das sie am wenigsten können – sich gegen einen tief stehenden Gegner durchzuarbeiten. Die Türken ließen von Österreich ab, solange diese im Bereich der Mittellinie nach einem Durchkommen suchten; sobald aber der Pass in den Zehnerraum kam, schnappte die türkische Falle zu.
Denn die Mittelfeld-Außen standen relativ eng, man bot Österreich die Außenbahnen an, machte aber das Zentrum komplett zu, gewann dort Bälle durch die schnell hergestellte Überzahl rasch und schaltete sehr flott um. Sie bekamen diese Situationen selten präzise zu Ende gespielt, die dergestalt ausgestrahlte Gefahr reichte aber absolut aus, um die Österreicher zu verunsichern und das verhinderte, dass Österreich Risikopässe nahm. Denn hinzu kam, dass die Restverteidigung des ÖFB-Teams in diesen Situationen oft arg luftig daher kam.
Aus einem 4-2-3-1 eine Fünferkette anzupressen, ist nur behelfsmäßig möglich und ist – weil man nur schwer die nötige Überzahl in Ballnähe UND die nötigen Absicherungsstrukturen herstellen kann – gefährlich, wenn einem vom Gegner die schnellen Gegenstöße um die Ohren zu fliegen drohen. Auch aus hohen Bällen bzw. Chip-Pässen in den Strafraum konnte Österreich kein Kapital schlagen, weil die Türken so gut wie jedes Kopfball-Duell gewannen, nicht nur im Strafraum, sondern auch bei losen Bällen im dichten Mittelfeld-Zentrum. Österreich wirkte mit Fortdauer der ersten Hälfte zunehmend ratlos.
Mehr Direktheit…
Für die zweite Hälfte kamen Prass für den in Ballbehandlung und Zweikampf zuweilen unsicheren Mwene und mit Gregoritsch ein neuer Zielspieler im Zentrum, der gelbvorbelastete Schmid blieb für ihn draußen, Baumgartner wechselte auf die rechte Außenbahn. Österreich war nun bemüht, schneller und vertikaler durch die türkischen Reihen zu kommen.
Prass bearbeitete den Halbraum hinter Barış Alper, Arnautovic ließ sich eher auf die Zehn fallen, um besser anspielbar zu sein und Bälle wenn möglich auch weiterzuleiten. Es gab auch eine gute Chance durch Arnautovic, die genau so durch die Mitte entstanden sind, aber nicht genützt wurde. Und dann schlug es nach einer Stunde wieder ein, wieder ein Eckball, wieder Demiral, 0:2.
…und dann die Brechstange
Gregoritsch‘ rasche Antwort in Form des Treffers zum 1:2 – auch dieses Tor nach einem Eckball – hielt Österreich im Spiel, nachdem Grillitsch im Zentrum für Laimer eingewechselt worden war. Mit ihm sollte wohl etwas mehr Ruhe am Ball ins Mittelfeld kommen, ein Element, für das im Zweifel sonst Alaba gesorgt hat. In der Vorrunde hatte man um sein Fehlen und das von Xaver Schlager gut herumspielen können, nun hätte man sie sehr gut gebrauchen können.
Die Türken ließen sich in der Folge immer weiter hinten hineindrücken, kamen nicht mehr so gut an die Kopfbälle, konnten nicht mehr so gut für Entlastung sorgen, obwohl Özcan als frischer Kämpfer statt des von seiner gelbe Karten gehandicapten Yüksek reingekommen war. Österreich setzte sich nun besser im Angriffsdrittel fest, näherte sich immer wieder dem Tor an, wurde aber selten wirklich gefährlich.
Am Ende lieferten die Türken der österreichischen Brechstange eine Abwehrschlacht, doch Österreich fehlten immer die paar Zentimeter, um aus den vielen Halbchancen echte Chancen zu machen bzw. irgendwie den Ball noch ins Tor zu bugsieren. Und dann fischt Mert Günök den Ball in der 94. Minute bei Baumgartners Kopfball auch noch mit einem erstaunlichen Reflex vor der Linie weg.
Fazit: Dumm gelaufen und Schwächen aufzeigt bekommen
In den Vorbereitungsspielen und auch in den EM-Matches gegen Polen und die Niederlande war Österreich früh in Führung gegangen, konnte dann (bzw., hätte können, gegen Polen) gegen einen Kontrahenten mit den eigenen Stärken nachsetzen und nerven, der sich nicht mehr hinten festsetzen kann. Mit dem Rückstand in der 1. Minute in diesem Achtelfinale gegen die Türkei ging das natürlich nicht.
Denn ja, die Türken sind schon ein Team, das spielen will, dribbeln und in Eins-gegen-Eins-Situationen. Aber wenn sie nach 55 Sekunden so ein Geschenk bekommen, sind sie clever genug, um nicht dem Gegner ins offene Messer zu laufen. Die Türken setzten sich hinten fest, waren robust in den Zweikämpfen und deuteten bei Ballgewinnen immer wieder ihre Gefahr an. Schon nach 20 Minuten hatte man den Eindruck, dass sie den Österreichern zumindest die ganz scharfen Zähne gezogen hatten.
Rangnicks Reaktionen in der Pause und nach einer Stunde hatten Hand und Fuß, waren erklärbar und proaktiv, die zehn Minuten direkt nach dem Seitenwechsel konnte man das Spiel spürbar ein wenig an sich ziehen. Das zweite Gegentor kam für die Türken zu einem tollen und für Österreich zu einem furchtbaren Zeitpunkt. Es war ein wenig wie beim 2:3 vor einem Jahr in der Quali gegen Belgien: Auch damals fing man sich ein frühes Gegentor, nach einer Stunde setzte der Gegner nach (damals per Doppelschlag); Österreich fightete bis zum Schluss, kam aber nicht mehr ganz heran.
Letzten Oktober war das verschmerzbar. Nun, in Leipzig, beendete das die österreichische EM-Reise. Denn die „Fülle an tollen Chancen“, die Rangnick wohl auch in der Emotion des Spiels sah, waren bei Licht betrachtet eher nur Annäherungen: Gregoritsch‘ Kopfball in der Rückwärtsbewegung gleich nach dem Anschlusstreffer etwa, oder Baumgartner, der in der 84. Minute zwar zwischen Mert Günök und Merih Demiral an den Kopfball kommt, aber keine Chance hat, ihn zu platzieren.
Der Eckball in der 3. Minute, Arnautovic’s Chance in der 51. Minute und Günöks Wunder-Save in der 94. Minute – die wären es gewesen. Hätte man den ersten versenkt, wäre die komplette Statik des Spiels eine andere gewesen. Hätte man den zweiten versenkt, gerät man nicht kurz darauf in Zwei-Tore-Rückstand. Hätte man den dritten versenkt, wäre man in der Verlängerung gewesen.
Aber, hättiwari: Österreich ist im Achtelfinale dieser EM ausgeschieden. Das hätte nicht sein müssen, ist bitter und schade. Es sollte aber nicht alles zum Einsturz bringen.