Überraschen werden die ÖFB-Frauen bei ihrer zweiten EM-Teilnahme keinen mehr – die Fußballwelt kennt sie mittlerweile. Auch die Gegner sind keine Unbekannten: England und Nordirland hat Österreich in der aktuell laufenden WM-Qualifikation ebenso als Kontrahenten, Norwegen gehört zum Frauenfußball-Inventar. Was kommt in der Gruppe A auf die Österreicherinnen zu?
England: The Contender
Mittwoch, 6. Juli um 21 Uhr in Manchester
Die nationale Liga hat internationalen Appeal, darin unterscheidet sich die WSL nicht von der Premier League. Die Großklubs von Chelsea über City und United bis Arsenal sind die Lokomotiven, aber auch die zweite Reihe der WSL – Everton, Tottenham, West Ham, usw. – sind attraktive Ziele für Spielerinnen vom Kontinent. Im Europacup können diese Klubs aber nicht ganz mit Lyon, PSG und Barcelona mithalten. Umso wichtiger ist es den Engländern, dass die Lionesses bei einem möglichst großartigen Heim-Turnier möglichst den Titel holen. Es wäre der erste.
Nachdem die FA den früheren Teamchef Phil Neville, der dem starken Kader inhaltlich nicht gewachsen war, elegant an die MLS losgeworden ist, angelte sich der Verband Sarina Wiegman. Sie führte das Team aus ihrer niederländischen Heimat zum EM-Titel 2017 und ins WM-Finale 2019. Tatsächlich ist in dem knappen Jahr, in dem sie nun das Zepter schwingt, jene klare Handschrift zu erkennen, die zuvor unter Neville gefehlt hat.
Die Lionesses unter Wiegman sehen frappant wie die Oranje Leeuwinnen aus, nur eben in weißen Trikots (oder in grell-orangen, wie zuletzt im Test ausgerechnet gegen Holland) und noch aggressiver, weil es die Qualität in der Defensive auch hergibt. Im Angriffsdrittel wird Jagd auf den Ball gemacht, es geht sehr athletisch zu, mit Kraft und Tempo sollen die Gegnerinnen eingeschüchtert werden. Es gibt eine klare Aufgabenverteilung im 4-2-3-1: Zehner Fran Kirby hat viele Freiheiten und verbindet individuelle Genie-Momente mit ständiger Erreichbarkeit. Georgia Stanway auf der Acht sucht mit vertikalen Laufwegen die Schnittstellen bzw. reißt diese auf; Hemp und Mead auf den Außenbahnen pressen, rücken ein und sollen auch den Abschluss suchen. Hinzu kommen nach vorne marodierende Außenverteidigerinnen – Lucy Bronze rechts sowie Daly, Greenwood oder Stokes links.
In den 14 Spielen unter Wiegman gab es zwölf Siege und zwei Remis bei nur zwei Gegentoren, man schenkte Deutschland drei Tore ein, der Schweiz vier und Titelverteidiger Holland gar fünf. Schon bei der WM 2019 sah England wie das kompletteste Team Europas aus, daran hat sich nichts geändert, nur dass es nun auch eine Trainerin gibt, die damit was anfangen kann. Bei den letzten drei Turnieren – WM 2015, Euro 2017, WM 2019 – war England stets im Halbfinale, das ist nun nicht mehr genug.
Das letzte Duell mit Österreich gab es im November 2021 in der WM-Qualifikation, England hatte das Spiel im Griff, gewann aber doch nur relativ knapp mit 1:0. Gesamtbilanz: Sieben Spiele, sieben England-Siege.
Nordirland: True Grit
Montag, 11. Juli um 18 Uhr in Southampton
Durch ein 1:1 auswärts und ein 0:0 daheim gegen Wales schlich Nordirland dank gewonnenem Direktvergleich auf Platz zwei der EM-Qualigruppe hinter Norwegen (ähem, 0:6 und 0:6). Als schlechtester Gruppenzweiter bekam man im Playoff den zweitschlechtesten zugelost (keine Setzung, mind you), und irgendwie kam man gegen die zunehmend frustrierten Ukrainerinnen durch. Und jetzt ist Nordirland bei der EM – mit exakt zwei Spielerinnen, die regelmäßig in einer vernünftigen Liga zum Einsatz kommen.
Rebecca Holloway (die als Linksverteidigerin, in der Fünferkette oder im Mittelfeld spielen kann) wechselte nach Saisonschluss von WSL-Absteiger Birmingham nach Amerika, Stürmerin Simone Magill kam als Joker bei Everton regelmäßig zu 15-Minuten-Einsätzen. Der Rest: Reserve in Schweden, zweite englische Liga oder, die meisten, gar daheim in Nordirland. Was der Green And White Army aber an individueller Qualität abgeht, versucht sie durch Hingabe wettzumachen und der selbst gestellten Aufgabe, den Frauenfußball in Nordirland zu positionieren, so wie ihn die ÖFB-Frauen 2017 in Österreich positioniert haben.
📣 Your Northern Ireland squad for @WEURO2022 #ANewDream 🙌 #WEURO2022 pic.twitter.com/nKGR0VwNNk
— Northern Ireland (@NorthernIreland) June 27, 2022
Teamchef Kenny Shiels mag es nicht, wenn sein Team die Bälle hinten rausbolzt, sondern will einen kontrollierten Aufbau sehen. Diese Form von Spielkultur hat geholfen, sich an Wales vorbeizudrücken, birgt auf EM-Niveau aber Risiken. Schon in den beiden WM-Quali-Spielen gegen Österreich war Nordirland damit extrem anfällig beim aggressiven Angriffspressing der ÖFB-Frauen, gegen das ebenso erbarmungslose und noch bessere englische Team setzte es zwei derbe Niederlagen (0:4 im Wembley und 0:5 vor Rekord-Kulisse im Windsor Park).
In der Vorbereitung gab es nur ein einziges Testspiel, ein 1:4 in Belgien, und Shiels äußerte offen die Befürchtung, man gehe „undercooked“ ins Turnier. Es erschiene folgerichtig, wenn Nordirland gritty und plucky auftreten würde, in dem 5-4-1 wie in Belgien zuletzt, sich heldenhaft wehrt und so die Herzen der Leute daheim mit irischem Kampfgeist zu gewinnen trachten würde. Denn das 2:2 gegen Österreich in Belfast letzten Herbst hat sehr wohl gezeigt: Wer gegen dieses Team mal hinten ist, hat ein Problem. Nordirland kann dann nämlich sehr gut das Tempo und vor allem den Rhythmus rausnehmen, gegnerische Passwege kappen und damit das Nervenkostüm der Favoriten bearbeiten.
Österreichs Spiele im Sturm von Seaview im Herbst 2021 (2:2) und im Wolkenbruch von Wr. Neustadt im Frühjahr 2022 (3:1) waren die bisher einzigen Duelle.
Norwegen: The Muse
Freitag, 15. Juli um 21 Uhr in Brighton
Ada Hegerberg ist wieder da: Nach der katastrophalen EM 2017, als Norwegen punkt- und torlos in der Vorrunde ausschied, zog sie sich vom Nationalteam zurück. Begründung der Lyon-Superstürmerin: Fehlendes Engagement und vor allem fehlender Plan des Verbandes in puncto Frauenfußball. Nun ist Norwegen nicht irgendwer – Weltmeister 1995, Olympiasieger 2000, zweimal Europameister – aber in den kommenden vier Jahren wurde jede Maßnahme, die gesetzt wurde, mit dem sorgenvollen Blick nach Lyon verbunden, ob Hegerberg auch wohlwollend nicken möge. Die Wahl von Ex-Teamspielerin Lisa Klaveness zur Verbandspräsidentin schließlich verbesserte das Verhältnis von Ada und NFF schnell.
Vier Monate vor der EM ritt die Weltfußballerin, die zwischenzeitlich auch einen Kreuzbandriss abgesessen hat, als Rittersdame auf dem scheinenden Pferd nach fast fünf Jahren im selbstgewählten Exil zur Kvinnelandslaget zurück. Norwegen war ohne Ada kein komplett heilloses Team, keineswegs, bei der WM 2019 kam man ins Viertelfinale und nach den dünnen Jahren nach dem EM-Finale 2013 (das mit einem sehr alten Team erreicht wurde) gibt es mit Guro Reiten, Frida Maanum und Ingrid Engen nun auch wieder ernsthafte Qualität im Mittelfeld. Das Problem ist nur: So richtig Flair verbreiten auch sie nicht. Nordisches 4-4-2, gerne darf der Gegner den Ball haben, und vorne sollen Caroline Hansen (die auf dem Flügel vermutlich wertvoller wäre) und nun eben wieder Ada Hegerberg für die Tore sorgen.
Als Teamchef Martin Sjögren 2019 mit diesem Fußball zur WM kam, ging es „nur“ darum, gegenüber 2017 Fortschritte sichtbar zu machen. Das sah etwas öde aus, aber es ging. Jetzt, drei Jahre später, ist man inhaltlich aber kein Stück weiter gekommen. Beim Algarve Cup setzte es im Februar sogar eine Niederlage gegen Portugal, danach dünne Siege gegen Polen und Neuseeland. Im letzten Test besiegte man Dänemark 2:1, ein Ausrufezeichen im engeren Sinn war die Darbietung aber auch nicht.
Norwegen hat mit Hegerberg und Hansen das wahrscheinlich beste Sturm-Duo des Turniers und ein Mittelfeld, das zumindest bisher mehr verspricht als es hält. Die Abwehr mit dem Innen-Duo Mjelde und Thorisdottir hat Erfahrung, aber es fehlt eklatant an Tempo – was ein Grund für die bedächtige Spielweise der Mittelfeld-Kette sein könnte. Und im Tor fehlt Einser-Keeperin Cecilie Fiskerstrand verletzt, vermutlich wird Guro Pettersen ihren Platz einnehmen, vor vier Monaten hatte noch keine der drei Torhüterinnen im Kader ein Länderspiel absolviert.
Norwegen muss den Anspruch haben, zumindest das Viertelfinale zu erreichen, alles andere wäre angesichts der individuellen Qualität vor allem in Angriff und Mittelfeld eine Blamage. Auch gegen Österreich ist Norwegen zu favorisieren, aber unverwundbar ist man gegen das ÖFB-Team sicher nicht. Beim letzten Duell im Juni 2016 gab es in Oslo in der EM-Qualifikation ein 2:2, das für Österreich hochverdient war. Es war der erste Punktgewinn im fünften Spiel gegen Norwegen.