Credits: Pioeb, Lizenz: CC BY-SA 4.0

Premier Leaks #16: Ist Leicester zu stark, bist du zu schwach?

Die Premier League-Saison ist 23 Runden alt. Immer noch ist Leicester City die größte Story. Das Team von Claudio Ranieri führt seit dem Wochenende die Tabelle wieder an. Egal was noch passiert, die Überraschungsmannschaft dieser Saison legt damit ziemlich offensichtlich auf die Leistungen anderer erfolgreicher Underdogs in den letzten Jahren noch ein Schipperl drauf. Ich habe einen Blick in die Vergangenheit geworfen, um die Momentaufnahme besser einordnen zu können.

Dabei steht es außer Frage, dass Leicester angesichts der Ausgangslage etwas besonderes gelungen ist. Ein Team eines kleinen, nicht besonders reichen Vereins, das vor der Saison eher als Abstiegskandidat gegolten hat, mischt ernsthaft um die allervordersten Plätze mit. Die Beispiele dafür kann man in den Top-Ligen in den vergangenen Jahrzehnten mit einer Hand abzählen (unsere User haben mit uns in einer Facebook-Diskussion nur wenige gefunden). Southampton sorgte zum Beispiel im Vorjahr zwar lange für Furore, hatte zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber bereits nichts mehr mit dem Titel zu tun. Man hatte als Vierter zwar nur fünf Punkte weniger als Leicester heute, war damit aber bereits elf Punkte hinter der Spitze.

Dabei hätte ich Depp in meiner mittlerweile peinlichen Premier League-Saison-Vorschau sogar noch das Wort „Meisterschafts-verdächtig“ im Bezug auf die Foxes verwendet …

Wer trotzdem noch etwas auf meine Prognosen gibt: Ich halte es immer noch für unwahrscheinlich, dass Leicester Meister werden kann. Dass es aber für einen Champions League-Startplatz genügt, würde ich mittlerweile nicht mehr ausschließen. Es ist nach den chaotischen Ergebnissen der letzten Monate jedoch naheliegend, Leicesters Tabellenführung auf die Schwäche anderer Mannschaften zurückzuführen. Und ich denke, früher oder später wird eines dieser Teams – sei es nun Arsenal, Manchester City oder gar noch Tottenham und Manchester United – eine Siegesserie schaffen, die den nötigen Punkteunterschied ausmachen wird.

Wie gut sind die 47 Punkte von Leicester?

Aber schwächeln die anderen Mannschaften eigentlich wirklich, oder ist das nur so ein trügerisches Gefühl? Um das zu überprüfen, habe ich mir die Frage gestellt, wie außergewöhnlich es in England ist, mit 47 Punkten nach 23 Runden an erster Stelle zu liegen.

Dafür stehen 24 gleichgeartete Saisonen als Empirie zur Verfügung (alle Daten: Fussballdaten.de). Zwar hat England schon 1981/82 die Drei-Punkte-Regel eingeführt (also lange bevor es die FIFA 1994 zum Standard der Fußballwelt erkoren hat), aber bis inklusive 1988 und dann noch einmal zwischen 91/92 und 94/95 spielten in der höchsten Spielklasse mehr als 20 Mannschaften.

Die Statistik zeigt: Mit 47 Punkten ist man meist recht gut dabei und nie schlechter als Vierter, aber nur in 21 Prozent der bisherigen Fälle ist eine Mannschaft damit auch Tabellenführer. Leicester ist also kein besonders dominanter Tabellenführer. Das bekräftigt sich umso mehr, wenn man sich nicht nur die Ergebnisse, sondern die Punkteabstände ansieht. Andere Tabellenführer haben nach der 23. Runde im Durchschnitt 6,7 Punkte mehr: Rekordhalter ist Chelsea unter Jose Mourinho 2006 mit 62 von 69 möglichen Punkten.

In den gleichgearteten Ligen in Spanien (seit 1997/98) und Italien (seit 2005) sieht das Ergebnis übrigens etwas anders aus (Deutschland lässt sich am Beispiel von Leicester mangels 20er-Liga leider nicht ganz unverzerrt vergleichen). In Spanien reichen 47 Punkte (und eine +16 Tordifferen) aus 23 Runden in 28% der Fälle zum ersten Platz. In Italien überhaupt nie. Aus allen drei Ligen ergibt sich folgendes Bild:

Die Wahrscheinlichkeit auf eine Tabellenführung sinkt auf 19 Prozent, der wahrscheinlichste Platz ist der Dritte (36 Prozent) und der durchschnittliche Punkterückstand auf andere Tabellenführer wächst auf 7,6 Punkte an.

Unbestritten ist, dass das Team von ÖFB-Teamspieler Christian Fuchs eine tolle Saison spielt. Auch im internationalen Vergleich ist das Leicester von heute aber ein Tabellenführer, der nur dann zustande kommt, wenn andere Top-Teams keine konstanten Siegesserien schaffen.

Das zeigt, dass die Premier League derzeit sehr ausgeglichen ist. Für die Spannung ist das super und darüber hinaus der perfekte Zeitpunkt für einen Underdog, um in ungewohnten Revieren zu jagen. Möglicherweise ist es auch Symptom davon, dass die englischen Top-Teams ihr Potential nicht ganz ausschöpfen können. Das würde mit den Leistungen auf internationaler Ebene zusammenpassen, wird sich in der aktuellen Saison aber erst zeigen. Ziemlich offensichtlich ist die Spitze in England aber auch breiter als derzeit anderswo.

Gegen den internationalen Trend

Dabei fällt etwas auf, wenn man den Zeitverlauf visualisiert: Die Abstände zur Spitze werden größer. In den 1980er-Jahren (großteils noch mit 22 Teams) war man mit 47 Punkten aus 23 Spielen in England nie schlechter als Zweiter. Auch in den 90ern war man damit eigentlich immer knapp am Spitzenreiter dran. Im neuen Jahrtausend sind plötzlich dritte und fast schon standardmäßig vierte Plätze dabei und die Punkteabstände werden größer.

Das bedeutet, dass zumindest der Tabellenerste mehr Punkte als früher hat, aber auch meistens ein oder zwei seiner Verfolger. Das ist ein Trend, den man noch deutlicher in Spanien beobachten kann, wo Barcelona und Real seit vielen Jahren zumeist deutlich enteilten. (In Italien könnte die Situation ähnlich sein, aber es fehlen die Vergleichsdaten aus früheren Zeiten).

Die Tabellenführer in großen Ligen scheinen im neuen Jahrtausend dominanter geworden zu sein. Auch aus dieser Sicht ist die aktuelle Leistung von Leicester also geradezu ein Anachronismus. Ob es zu mehr als einer Momentaufnahme reicht und ob dieser Vorstoß in ausgeglichenere Zeiten zu einem neuen Trend werden kann, werden erst die nächsten Jahre zeigen.

Premier Leaks ist eine Blog-Serie von Tom Schaffer zum englischen Fußball auf ballverliebt.eu. Mehr Einträge hier.

Fotocredits: Pioeb, Lizenz: CC BY-SA 4.0