Eine Mannschaft hat an diesem Abend in Wien exakt gewusst, was zu tun ist. Wer wann wie welchen Laufweg einzuschlagen, welchen Pass zu spielen, welche Idee zu befolgen hat. Die andere Mannschaft war Deutschland.
Der österreichische 2:0-Sieg war kein vom Spielverlauf begünstigtes Resultat, bei dem Österreich den Gegner mit einer offensiven Herangehensweise überraschte, wie Córdoba 1978. Kein Freak Result eines sportlich eines sportlich sonst eher bedeutungslosen Teams wie Wien 1986. Kein Anzeichen für eine etwas überhebliche Denke bei Deutschland, die ein paar Wochen später bei der WM offen zu Tage treten sollte, wie Klagenfurt 2018.
Das war eine sportliche, läuferisch, taktische und inhaltliche Vernichtung – nach einem Jahr, in dem Österreich ordentlich an Selbstvertrauen gewonnen hat und Deutschland vor der Heim-EM ein zielloser, von taktischen Experimenten verunsicherter Haufen ist.
Dass die Umsetzung schwierig ist, steht außer Frage. Aber das Grundprinzip jenes Fußballs, den Ralf Rangnick von seinem österreichischen Team sehen will, ist nicht besonders kompliziert: Die Gegner anlaufen, sobald diese nicht mit dem Rücken zum eigenen Tor stehen. Strukturen für das Gegenpressing herstellen, um bei eigenem Ballverlust sofort doppeln zu können, ohne Gefahr zu laufen, Räume dahinter zu offenbaren. Tempowechsel im Aufbau, von gemächlichem Suchen der Lücke bis zum plötzlichen Steilpass auf den Zielspieler vorne, der den Ball ablegt. Den gegnerischen Aufbau durch das Zentrum lenken, indem man die Außenspieler isoliert.
So kommen die eigenen Stärken – von der Pike gelernter Pressingfußball, Athletik – bestmöglich zur Geltung, während die Schwächen – fehlende spielerische Kreativität, fehlende echte Außenspieler – bestmöglich kaschiert werden. So hat sich das ÖFB-Team souverän für die EM qualifiziert, noch dazu als bester der zehn Gruppenzweiten.
Klare erste Elf vs. Herumprobieren
Österreich ist gegen Deutschland im gewohnten 4-4-1-1 angetreten, mit zwei Änderungen gegenüber dem Spiel in Estland: Mwene startete links hinten statt Wöber, dazu tauschten Laimer und Baumgartner die Plätze; Laimer spielte gegen Deutschland rechts im Mittelfeld, Baumgartner als hängende Spitze. Alles in allem: So klar, so gewohnt, so erwartbar.
Bei Deutschland schraubte schon Hansi Flick im Frühjahr heftig und maximal erfolglos an der Systemschraube, bei Julian Nagelsmann ist es ähnlich. Bei seinen ersten beiden Matches im Rahmen einer USA-Reise kam ein 4-2-2-2 zum Einsatz: Zwei Zehner (Wirtz und Musiala), vorne ein Strafraumstürmer und ein oft weit auf den rechen Flügel ausweichender Leroy Sané, dafür links ein offensiver Linksverteidiger (Gosens) und einem defensiveren Rechtsverteidiger (Süle bzw. Tah). Als defensiver Anker verblieben Gündogan und Groß im Mittelfeld-Zentrum.
Es wurde vorne viel rochiert und es gab offensiv durchaus vorzeigbare Darbietungen beim 3:1 gegen die USA und dem 2:2 gegen Mexiko – gerade das Angriffsspiel war unter Hansi Flick extrem statisch und vorhersehbar, damit selbst für Gegner aus der zweiten Reihe wie Polen recht leicht zu verteidigen. Die andere Seite der Medaille war aber auch, dass Deutschland in diesem Matches sehr anfällig für Konter war.
Nagelsmanns „Havertz-Idee“
Was vor den Matches in Berlin gegen die Türkei und in Wien gegen Österreich als großer, wilder taktischer Kniff verkauft wurde – „Havertz als Linksverteidiger“ – ist in der Realität nicht anderes als ein etwas asymmetrisches 3-4-3. In Berlin gab also Havertz den linken Wing-Back (und er machte das auch recht gut), problematisch war aber, dass sein Gegenstück auf der rechten Seite – Leroy Sané – das mit der Defensivarbeit weitgehend verweigerte. Die Türken bohrten diesen eklatanten Schwachpunkt an und kamen zu einem 3:2-Sieg.
In Wien war nun Julian Brandt mit dieser Rolle betraut – im offiziell angegebenen 4-2-2-2 schien er als rechter Zehner auf und Havertz als Linksverteidiger.
All das ist per se nichts, was einen Fußball-Profi von Arsenal, Bayern, Dortmund oder Leverkusen kognitiv überfordern sollte – im Gegenteil. Das Problem ist nur: Im Verein hat man viel Zeit, solche Ideen zu verfeinern, Abläufe einzustudieren, Automatismen herzustellen. Als Nationaltrainer ist das ganz anders. Nicht von ungefähr ist der Klubfußball wesentlich schneller, komplexer, sportlich attraktiver als der Nationalteam-Fußball.
Schwächen kaschieren …
Die große Schwäche von Deutschland in den letzten Jahren ist es, dass es einfach keine Verteidiger von Welt-Niveau gibt. Innen kaum und außen schon gar nicht. In der letzten Auflage der halbjährlichen „Rangliste des deutschen Fußballs“ schafften es überhaupt nur fünf Außenverteidiger in der Liga in die Auflistung – ein Portugiese, ein Holländer und ein Franzose, dazu ein Deutscher, der mittlerweile aufgehört hat (Hector) sowie Benjamin Henrichs.
Diese Schwäche will kaschiert werden, und Nagelsmanns Plan war es, mit dem Überhang an guten offensiven Mittelfeldspielern den Ballbesitz vorne zu etablieren, um gar nicht erst in defensive Verlegenheiten zu kommen. Die gab es zwar auch schon in Hartford und Philadelphia gegen die USA und Mexiko, aber dort funktionierte zumindest das Rochaden und Ballkontroll-Spiel in der gegnerischen Hälfte.
…und Stärken ausspielen
Und hier kam die große Stärke des ÖFB-Teams in Spiel und der eklatante Unterschied, der zur DFB-Mannschaft augenscheinlich wurde. Österreich presste den ballführenden Deutschen konsequent an, aber nicht wild, sondern sehr kontrolliert und mit klaren Pressing-Triggern. Wenn die Deutschen Ballbesitz etabliert hatten, zog sich Österreich mit zwei Viererketten zurück.
In dem Moment, wo ein deutscher Spieler abdrehen musste, der Ball nach außen gespielt wurde – kurz: Wo nicht unmittelbar ein Steilpass in den Rücken der Pressingwelle drohte – liefen die Österreicher den Gegner an. Das war gleichzeitig risikominimierend, weil eben kaum die Gefahr bestand, in dieser Vorwärtsbewegung kalt erwischt zu werden.
Andererseits war es extrem effektiv, weil bei Österreich nach anderthalb Jahren mit 17 Spielen Rangnick tatsächlich jeder immer wusste, was wann wie wo zu tun ist. Bei den Deutschen, ohne Automatismen, fehlte das Tempo im Realisieren der Passoptionen bzw. zum Herstellen selbiger. Daher dauerte es oft zu lange bis zum Abspiel, daher waren sie leichte Opfer für das reibungslos funktionierende österreichische Pressing.
Deutschland neutralisiert
Havertz hatte Lainer und Posch gegen sich, zwei spezialisierte Balleroberer. Für Schlager und Seiwald im Zentrum ist sowieso genau das die Kernkompetenz. und vorne gab es mit Gregoritsch einen Zielspieler und mit Baumgartner eine sehr mobile zweite Spitze. Das österreichische Umschalten war sehr schnell, gewohnt direkt und die deutsche Verteidigung hatte dem nicht viel entgegen zu setzen. Hummels war noch nie schnell, Tah traf einige falsche Entscheidungen, an Goretzka flogen die Bälle vorbei.
Der gigantische Raum, der sich beim 1:0 bot, war in seinem Ausmaß geradezu schockierend und es war beleibe nicht die einzige derartige Szene.
Harmloser EM-Gastgeber
Nachdem sich Leroy Sané zu Beginn der zweiten Hälfte zu einer impulsiven Dummheit gegen Mwene hinreißen ließ und die rote Karte sah, ging Deutschland auf ein konventionelleres 4-4-1 – mit Henrichs links und Tah rechts hinten, dafür ging Havertz auf die rechte Mittelfeld-Seite. Deutschland sah im konventionelleren sofort stabiler aus, ohne aber viel zulegen zu können.
Als Österreich in der 74. Minute das 2:0 erzielt hatte – einer der schnellen Vertikalpässe von Alaba wurde von Zielspieler Gregoritsch auf Baumgartner weitergeleitet, der Hummels aussteigen ließ – hatte Deutschland nur ein einziges Mal ernsthaft auf das Tor von Alexander Schlager gezielt, das war nach einer halben Stunde. Erst danach kamen einige Torannäherungen, aber Österreich war dem 3:0 näher als Deutschland dem Ehrentor.
So geht Nationalmannschaft
Der Umstand, dass Österreich eine gutklassige – wenn auch nicht ganz der absoluten Elite zugehörende – Mannschaft ist, hat das Jahr 2023 gezeigt. Das gilt vor allem, wenn zumindest weite Teile des Stammpersonals auch auf dem Feld sind, so wie gegen Deutschland. Michael Gregoritsch neigt dazu, die (vermeintlich) leichten Chancen nicht zu nützen, um dann bei den komplizierten Dingen aufzutrumpfen – auch das zieht sich durch dieses Jahr, man denke an das Heimspiel gegen Estland.
Rangnicks ÖFB-Team ist der Prototyp einer gelungenen Nationalmannschaft: In der knappen Zeit, die einem am Trainingsplatz zur Verfügung steht, werden die Stärken so in die Spielstrategie eingebaut, dass die Schwächen so wenig wie möglich zum Tragen kommen. Dieser Spagat zwischen vielen Ideen und wenig Zeit erfordert eine besondere Arbeitsweise. Julian Nagelsmann wäre nicht der erste profilierte Klub-Trainer, der an diesem Spagat scheitert, und er wäre auch nicht der letzte.
Umso erstaunlicher, dass Rangnick – der noch nie ein Nationalteam trainiert hat – das offenkundig so gut hinbekommt.
Erwachsener Auftritt in Estland
Dazu passt auch der Auftritt beim letzten EM-Quali-Spiel fünf Tage zuvor in Tallinn. Das Match war für die bereits qualifizierten Österreicher von minimaler tabellarischer Bedeutung und für die am letzten Platz einzementierten Esten von gar keiner.
Wie so ein Spiel aussehen kann, haben wir im Herbst 2019 erleben müssen, keine 300 Kilometer südlich von Tallinn, in Rīga. Damals spielte ein wild zusammen gewürfelter und ziemlich offensichtlich in keinster Weise auf den Gegner eingestellter Haufen von Reservisten in Lettland so erbarmungswürdig aneinander vorbei, dass der bis dahin punktelose Letzte der wirklich nicht besonders starken Gruppe sogar 1:0 gewonnen hat.
Seriös und geduldig
Das Österreich von 2023 hat aber so gut wie nichts mehr mit dem Österreich von 2019 zu tun. Rangnick – womöglich auch vorsichtig nach dem unglücklichen Auftritt einer Experimental-Elf gegen Moldawien im September – schickte die Einserpanier auf das novembergatschige Feld und dieses bot einen hochseriösen, konzentrierten und geduldigen Vortrag.
Man rückte in die vom estnischen 5-3-2 freigegebenen Halbräume vor, spielte keine riskanten Pässe und schüttelte Estland mit blitzschnellen Tempoverschärfungen durcheinander. Man war schnell und konsequent im Gegenpressing, leitete die estnische Spieleröffnung mit den in den Halbräumen zumachenden Baumgartner und Sabitzer ins Zentrum.
Zwei Schlampigkeitsfehler von Lienhart bescherten Estland Chancen, aber anders als im März in Linz ging der Außenseiter nicht in Führung und mit dem österreichischen 1:0 (schnelle Kombination über die linke Seite) und dem schnell folgenden 2:0 (Lienhart nach Eckball) war die Sache erledigt.
Österreich hat, was Deutschland nicht hat
Der deutsche Blick ging durchaus neidvoll auf das österreichische Team: Hier greift ein Rädchen ins andere, die Einheit funktioniert tatsächlich als Mannschaft, alle haben in ihrem Notenheft die selbe Seite aufgeschlagen und spielen im selben Takt.
Hinzu kommt, dass es vor allem in David Alaba eine gestandene Persönlichkeit gibt, die immer anspielbar ist, das Spiel lesen kann, dirigiert und der eine unumstößliche Autorität hat. Wie mühsam waren die jahrelangen Diskussionen, auf welcher Position er im Nationalteam am wertvollsten ist und die Freiheiten, die er sich in den späten Koller-Jahren nahm, beschädigten die Mannschaft und den damaligen Teamchef in einer ähnlichen Weise, wie dies nun bei Joshua Kimmich und dem DFB-Team der Fall ist.
Alaba hat seine Position gefunden, in Klub ebenso wie im ÖFB-Team, und er füllt die Regie-Rolle aus der Innenverteidigung mit so großer Präsenz, solcher Übersicht und solcher kognitiver Verlässlichkeit, dass ein Bruno Pezzey stolz auf ihn wäre. Die öffnenden Pässe von Instinkt-Fußballer Martin Hinteregger auf der selben Position waren eine der wenigen funktionierenden Moves der lähmenden Foda-Jahre. Die allumfassende Kontrolle, die der mittlerweile 31-Jährige ausstrahlt, stellt das allerdings in den Schatten.
Nicht davontragen lassen
Österreich hat sich in diesem Jahr souverän für die EM qualifiziert. Hat Belgien gefordert und Schweden zweimal besiegt – und das waren keine leichten Spiele, sondern solche, die zeitweise auf der Kippe standen und die Geduld, Ruhe und Vertrauen in die eigene Spielweise erforderten. Und man hat zum krönenden Abschluss den Deutschen ein krachende Ohrfeige verpasst.
Es fällt tatsächlich schwer, sich nicht vollends davontragen zu lassen und diese Truppe als die Wiedergänger des Wunderteams zu feiern, auserkoren um die Welt zu erobern. Tatsächlich hat es das Team unter Rangnick geschafft, mit einer aktiven Spielweise die Massen zu begeistern und das Happel-Oval, vom oft nicht anzusehenden Gewürge unter Foda fast schon aktiv aus dem Stadion vertrieben, mühelos mit begeisterten Fans zu füllen.
Nur: Eine unkritische Euphorie birgt die altbekannte Gefahr, ob der Fallhöhe sehr hoch werden zu lassen. Die Begeisterung war 1989 nach dem DDR-Spiel und den Testspielsiegen gegen Argentinien und Spanien gewaltig, aber das Team war längst nicht so gut, wie es den Anschein hatte – Landskrona hat viel zerstört. Die Begeisterung war 1997 gewaltig, aber das Team war über dem Zenit und war bei der WM am absteigenden Ast – Valencia hat viel zerstört. Die Begeisterung war auch 2015 gewaltig, aber das Team war zu grün auf diesem Niveau, zu dünn aufgestellt, Verletzungen und Formkrisen konnten nicht aufgefangen werden – die EM selbst hat viel zerstört.
Es ist denkbar, dass die aktuelle Truppe genau den Sweet Spot erwischt, in dem sie auf ihrem Höhepunkt zu einem großen Turnier antritt. Die Wahrheit ist, dass kaum eine Mannschaft derart präzise gecoacht zur EM im kommenden Sommer fahren wird wie Österreich. Wenige Nationalteams spielen einen so aggressiven, nach vorne gerichteten Stil wie das ÖFB-Team und von den sechs Teams im insgesamt nicht sehr beeindruckenden zweiten Topf ist Österreich wohl jenes, das die anderen wohl am ehesten nicht haben wollen.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass das österreichische Team sehr ausgeglichen und gut besetzt ist, aber von der reinen individuellen Qualität realistischerweise nicht zu den Top-10 am Kontinent gehört. Gerade bei Nationalteams, wo die Dichte an sehr guten Trainern viel, viel geringer ist als im Klub-Fußball, kann man hier einiges mit Hirnschmalz ausgleichen. Aber alles geht auch hier nicht.
Also: Genießen, ja. Gerne auch ein bisserl Schadenfreude in Richtung Deutschland, das gehört dazu. Frohsinn darüber, eine richtig coole Nationalmannschaft zu haben – auf jeden Fall! Aber auch nicht ganz ohne Netz den Boden unter den emotionalen Füßen verlieren.