„Wir übertreiben nicht, wir sind so!“ Dieser Satz, mit dem Marina Georgieva nicht ganz ohne demonstrativen Trotz einen Insta-Post versah, hat – vermutlich nicht ganz beabsichtigt, aber doch – mehrere Ebenen, die auf dieses östrereichische Frauen-Team zutreffen. Als Reaktion auf Kritik am mancherseits als allzu ausgelassen empfundenem Jubel nach dem Arbeits-Pflichtsieg gegen Nordirland gedacht, kann man ihn auch auf die Leistungen der ÖFB-Frauen bei der EM in England münzen.
Das Viertelfinale war nicht übertrieben. Die sind wirklich so gut.
Als die im Sinne Jazz Gittis als Tramway deklarierte Polonaise geräuschvoll durch die PK krachte, schnappte sich Barbara Dunst nach Alaba-Vorbild ihren Sessel und reckte ihn in die Höhe. Das war nach dem 2:0 gegen Nordirland im zweiten Gruppenspiel. Das Schauspiel wiederholte sich vier Tage später, nach dem 1:0 im entscheidenden Match gegen Norwegen, als die von der Boombox unterstützte Tramway über das Spielfeld in Brighton hüpfte. Dunst hätte den Sessel auch in den Mittelkreis stellen, sich draufsetzen und die Arme verschränken können. So, wir sind jetzt da und wir gehen nicht mehr weg. Gekommen um zu bleiben, formulierten es einst Wir sind Helden.
Nächster Halt des Partyzugs: Viertelfinale in Brentford! 🚉
Dieses Mal haben wir unsere #summergschmeidig-Playlist mit drei Songs ergänzt, die nach dem Sieg über Norwegen in der Kabine unseres Teams gelaufen sind! 😁🎧 Jetzt reinhören: https://t.co/YGT6yHMEaC pic.twitter.com/APeYNA4lu3
— ÖFB – oefb.at (@oefb1904) July 16, 2022
Die Zeit heilt alle Wunder
Schon im Vorfeld des Turniers hatte man beim ÖFB ja eingeräumt, auf das „Sommermärchen“ mit dem Einzug ins EM-Halbfinale 2017 nicht ausreichend reagiert zu haben. Man hat die Welle, auf der man weitersurfen hätte können, strukturell ein wenig verschlafen. Dessen ungeachtet arbeitete das Team selbst mit Vollgas weiter, zunächst unter Dominik Thalhammer, dann unter Irene Fuhrmann.
In den 24 Bewerbspielen zwischen EM 2017 und EM 2022 hat Österreich eine Bilanz von 17 Siegen, drei Remis und 4 Niederlagen (zwei gegen Spanien, je eine gegen Frankreich und England). Aber in Europas zweiter Reihe ist alles so eng, dass ein Ausrutscher schon zu viel sein kann. So wie das 1:1 gegen Serbien, das die Teilnahme am WM-Playoff für 2019 gekostet hat.
Das öffentliche Interesse ist nach 2017 nicht konstant weiter gestiegen, sondern hat sich auf einem gewissen Niveau stabilisiert bzw. im Schwerpunkt verlagert. Als Irene Fuhrmann übernahm, war vor allem ihre Meinung zu gesellschaftlichen Themen gefragt und ihr Status als erste weibliche Pro-Lizenz-Trainerin und erste weibliche Teamchefin. Bei Thalhammer ging es, wenn überhaupt, dann ums Sportliche. Entsprechend seltener war er medial gefragt.
Für nichts garantieren
Der Fokus im Team blieb all die Zeit unverändert auf der sportlichen, nicht der gesellschaftlichen Entwicklung. Diese Entwicklung zu beurteilen, ist in den Jahren der Pandemie und damit auch genau in Fuhrmanns Amtszeit schwieriger geworden. Es gab vermehrt Verletzungen und Formkrisen, bedingt auch durch den coronabedingt verengten Spielplan 2020/21. Die Gruppe in der laufenden WM-Quali beinhaltet mit Lettland, Luxemburg und Mazedonien drei sagenhaft schlechte Teams, Kantersiege gegen reine Amateur-Truppen haben kaum Aussagekraft. Es gab kaum kompetitive Spiele und von denen, die es gab, waren einige schwach (das 1:0 gegen Serbien vor allem), krampfig oder unterwältigend (die Quali-Spiele gegen Nordirland auswärts und daheim).
Es gab das erkämpfte 0:0 gegen Frankreich im Herbst 2020 und einen vorzeigbaren Auftritt beim 0:1 in England im Herbst 2021. Es gab ein 1:6 in einem Test gegen Schweden, wobei die Leistung viel besser war als das Ergebnis. Es gab das 1:2 vor der EM gegen Dänemark, das Ballverliebt als viel besser empfand als Fuhrmann. Es gab das 3:0 im Februar im Trainingslager gegen die Schweiz, das wirklich ausgesprochen stark war, aber halt eben auch ein Testspiel im Rahmen eines Trainingslagers. Es war – auch durch die feine Leistung beim 1:0 in Belgien im letzten Probegalopp – zu erahnen, dass Österreich bei der EM eine anständige Figur abgeben wird. Aber anständig genug, um Norwegen rauszukegeln?
Denkmal
Das Eröffnungsspiel gegen England durfte man Belohnung für den Punkt in der Quali gegen Frankreich sehen – durch diesen rutschte man nämlich vor Island in den dritten Lostopf. Die Partie gegen Nordirland war die Pflicht. Wird diese erledigt, konnte man die Kür gegen Norwegen angehen.
Die Vorstellung im vollen Old Trafford wirkte an jenem Abend etwas zu ambitionslos, sie wurde aber wie auch das knappe Resultat von 0:1 durch die kommenden England-Spiele (8:0 gegen Norwegen und 5:0 gegen Nordirland, 4:0 im Halbfinale gegen Schweden) nachträglich definitiv aufgewertet. Gegen Nordirland konnte man nicht glänzen und erarbeitete sich einen nicht gerade glanzvollen, aber auch nie ernsthaft gefährdeten 2:0-Sieg. Die Pflicht war erfüllt, jetzt ging es daran, sich ein Denkmal zu setzen.
Monster
„Siehst du die scharfen Krallen, siehst du die Zähne?“, fragte einst Judith Holofernes, „ich sehe deine Beine zittern, wenn ich das merke, merkt mein Monster das auch!“ Natürlich hat das norwegische Selbstverständnis durch das denkwürdige 0:8 gegen England gelitten. Aber wie oft hat man österreichische Teams (männliche vor allem) gesehen, die eine solche Ausgangsposition nicht nützen, sondern durch eigene Passivität einen verwundeten Gegner wieder zu Stärke kommen lassen?
Nein, nicht die ÖFB-Frauen. Wie die Monster zertrampelten sie den letzten Rest norwegischen Stolzes unter einer nicht enden wollenden Kaskade von Angriffs- und Gegenpressing. Bei Norwegen haben sie Spielerinnen von Olympique Lyon, dem FC Barcelona und von Chelsea, aber klein wurden sie, ganz klein, und als Nici Billa – oder, wie sie Max-Jacob Ost vom Rasenfunk passend betitelt hat: „Godbilla“ – endlich ihr erstes EM-Tor erzielt hatte, war dies nach dem Spielverlauf schon überfällig.
War dies das beste Spiel, das die ÖFB-Frauen jemals gespielt haben? In Anbetracht von Anlass, Gegner und Qualität der Leistung lautet die Antwort wahrscheinlich „Ja“. Zumindest für sechs Tage. Denn Norwegen kam angeschossen daher, das deutsche Team ging mit dem geballten Selbstvertrauen einer beinahe fehlerfreien Gruppenphase ins Viertelfinale. Und doch traute man sich auch gegen Deutschland viel zu, lief man die Gegnerinnen an, sorgte für deutsches Bauchweh und ein Spiel, das sich lange Zeit auf Augenhöhe bewegte. Es waren die „fine margins“, drei Pfostenschüsse vorne, zwei Abwehrfehler hinten, die stärkere Bank beim Gegner.
Aus Brentford wurde kein Frauen-Córdoba, dennoch erfüllt das Spiel im Londoner Westen das Team und das Umfeld mit Stolz, ebenso wie die Art und Weise, wie es erreicht wurde und die Resonanz, die man erzeugen konnte. Die Österreich-Spiele zogen im ORF im Schnitt 700.000 Zuseher, die anderen im Schnitt 230.000 (zur Prime-Time, das ist etwa im Sender-Normalbereich) bzw. 135.000 (am Vorabend, das ist das doppelte von Oliver Polzers Quizshow).
Das öffentliche Interesse der TV-Zuseher am Turnier war also absolut da – keine Rede davon, dass die Quoten durch die Frauenfußball-Dauerbeschallung einbrechen. Eher war das Gegenteil der Fall.
Heldenzeit
Das Turnier von 2017 war extrem wichtig für den Stellenwert des Frauenfußballs in Österreich. Die Leistungen von 2022 waren dafür extrem wichtig für den Stellenwert Österreichs im Frauenfußball.
Damals erwischte man die Gegnerschaft auf dem falschen Fuß und nützte es gnadenlos aus, dass die anderen zu wenig über die ÖFB-Frauen wussten. Diesmal konnte man auf keine Wissensdefizite mehr bauen. Man musste tatsächlich an diesem Tag X besser sein als der Gegner. Und man war es. Der erneute Viertelfinal-Einzug hatte nichts mit günstigen Umständen zu tun. Sondern mit eigener Stärke.
Und das wird auch international in der Szene honoriert. Ob bei Guardian oder The Athletic, ob in England oder Deutschland und in Norwegen sowieso: „Austria’s got some serious players“, hieß es nicht nur einmal. Irene Fuhrmann und ihre Schachzüge wurden von den internationalen Beobachtern übereinstimmend als „really clever“ beschrieben, das Team als besser als die Summe der Einzelteile. Der Team-Spirit, der schon 2017 zu den herausragenden Erscheinungen des Turniers gehörte, wurde erneut hevorgehoben und der generelle Tenor ist: Österreich ist nicht zufällig da, die Mannschaft hat sich den Platz im Viertelfinale mehr als verdient.
The Geek Shall Inherit
Die Zahlen belegen das im Übrigen: Was das Expected-Goals-Verhältnis von Toren und Gegentoren angeht, ist Österreich in der Vorrunde auf Platz acht von 16 – das ist kein schlechter Indikator, trotz der kleinen Sample Size von je drei Spielen. Sieben der acht Mannschaften mit positivem Verhältnis haben es ins Viertelfinale geschafft (nur Island nicht, dafür Belgien mit dem drittschlechtesten Wert aller Teilnehmer). Bei der Laufdistanz ist Österreich in der Vorrunde sogar das fleißigste aller Teams gewesen (114,7 km im Schnitt).
Ausbaufähig ist noch die Passgenauigkeit (72,6 Prozent – nur Platz 14 von 16), die aber bis zu einem gewissen Grad auch am Stilmittel des Pressing- und Umschaltspiels liegt. Bei aller defensiver Kontrolle, die mit dem vor allem gegen Norwegen in annähernder Perfektion gezeigten Angriffs- und Gegenpressing einher geht: Die offensive Gefahr hat dabei Luft nach oben, von den acht Viertelfinalisten hat nur Belgien einen geringeren Expected-Goals-Wert als Österreich (3,2 xG für drei Tore).
Wenn es passiert
Mit dem Viertelfinal-Einzug bei dieser WM wird Österreich im FIFA-Ranking vermutlich auf Platz 20 vorstoßen und damit die bisher beste Platzierung egalisieren, im für fast alle Setzungen maßgeblichen UEFA-Ranking springt Österreich an der Schweiz vorbei von Platz 12 auf Rang 11.
Am 3. und 6. September stehen die beiden letzten Spiele in der WM-Qualifikation an, Wr. Neustadt gegen England und Nordmazedonien. Österreich wird als Zweiter ins Playoff gehen und wohl zwei Runden zu überstehen haben. Zunächst geht es in einem Spiel gegen einen der anderen fünf schwächeren Zweiten (also: Schottland, Serbien oder Portugal, Irland oder Finnland, Wales oder Slowenien, Bosnien) und im Erfolgsfall auf einen jener drei Zweiten, die aufgrund ihrer Bilanz ein Freilos für diese Runde haben (also Island, Belgien oder Schweiz).
Spielen die ÖFB-Frauen, wie sie es bei der EM getan haben, ist es absolut möglich, durch diese Knochenmühle heil durchzukommen, aber in einem Spiel kann immer viel passieren. Und vermutlich würde Österreich dann noch im Februar 2023 in das interkontinentale Playoff müssen, wo man ein weiteres Team eliminieren müsste (und zwar aus dem Kreis: Thailand, Paraguay, Kamerun, Panama, Haiti, Senegal).
Je nachdem, wer im Herbst den Zuschlag für die Ausrichtung der EM 2025 bekommt, könnte Österreich sogar in den 1. Topf aufrücken – dann nämlich, wenn die gemeinsame Bewerbung von Norwegen, Schweden, Dänemark und Finnland gewinnt. Die Konkurrenten sind Polen, die Schweiz und Frankreich und anders als 2017 (Holland) und 2021 (England) kann man diesmal nicht schon vorher relativ sicher sagen, wer es wird.
Müssen nur wollen
Nach der EM 2017 lag im nationalen Kick vieles im Argen. Die zweigeteilte 2. Liga lag im Koma, im Westen gab es in der Saison 2018/19 nur noch sechs Teilnehmer, davon drei 1b-Teams von Bundesligisten. Jetzt gibt es eine eingleisige 2. Liga mit zwölf Teams, in die 2022 auch fünf Landesmeister aufsteigen wollen (zwei setzten sich in den Aufstiegsrunden durch); dazu die „Future League“ mit den 1b-Teams.
Abo-Meister St. Pölten hat nach dem letztjährigen Lospech mit Juventus nun realistische Chancen, in die Gruppenphase der Women’s Champions League einzuziehen. Sturm hat den SKN zuletzt erstmals wirklich bedrängen können, die Austria hat die Future-League gewonnen. Sowohl die U-19 als auch ganz besonders die U-17 des ÖFB schrammten im Frühjahr nur hauchdünn an EM-Teilnahmen vorbei. Rapid plant 2024 auch mit einem Frauenteam in den Spielbetrieb einsteigen, vermutlich ganz unten – die Kooperation mit einem existierenden Klub wäre den Fans nicht zu vermitteln. Wobei „ganz unten“ in Wien 4. Liga heißt, der Weg nach oben ist also ein kurzer.
Von hier an blind
Die Vienna zeigt, dass man mit relativ kleinem Geld relativ schnell in der vorderen Bundesliga-Hälfte mitspielen kann und es bleibt zu hoffen, dass die Infrastruktur bei Vereinen wie Austria und Altach, bald Rapid, auch LASK usw. den Frauen weiterhin zu Gute kommt. Der Schlüssel bleibt aber, dass mehr Mädchen Fußball spielen und mehr Mädchen auch nach dem Alter von 15 Jahren dabei bleiben, wenn der Cut-Off vom Burschen-Fußball erfolgt. Dafür braucht es ein engmaschigeres Netz an Vereinen, die auch über die U-14 hinaus Mädchen-Teams auf die Beine stellen.
Junge Männer können sich auch in Regional- und Landesligen genug Taschengeld verdienen, um sich etwa ein Studium zu finanzieren. Bei den Frauen heißt es: Absoluter Leistungssport oder reiner Hobby-Kick, dazwischen gibt es nichts. Wenn es gelingt, mehr Teenager länger im aktiven Fußball zu halten und ihnen Perspektiven aufzuzeigen – und sei es „nur“, offiziell etwa für Rapid zu spielen oder es ihnen generell von den Rahmenbedingungen her erleichtert wird – kann es auch gelingen, die dringend nötige Steigerung der Aktiven-Zahlen zu erreichen. Dass Erfolg des A-Teams alleine dafür nicht ausreicht, hat die Entwicklung seit 2017 gezeigt.
Österreich hat sich in den letzten Jahren im europäischen Frauenfußball etabliert und sich die zweite K.o.-Runde bei einer EM in Serie verdient, ist grundsätzlich gekommen und zu bleiben. Solange aber die Breite auf tönernen Füßen steht, wird man auch weiterhin darauf bauen müssen, dass zumindest der dünne Zustrom aus ein, zwei neuen Spielerinnen, die pro Jahr in den Kreis der Nationalmannschaft tröpfeln, nicht abreißt. So lange das nicht passiert, wird in Österreichs Frauenfußball weiterhin alles auf Kante genäht bleiben.