Rechenspiele: Wie gut war Österreich wirklich in der EM-Quali?

Für die EM qualifiziert – es muss also alles super sein. Oder? Der mediale Jubel nach dem gelösten EM-Ticket für Österreich wirkte krampfhaft aufgesetzt. Nur: Wie verhält es sich tatsächlich mit dem Verhältnis zwischen tatsächlicher und zu erwartender Leistung? Wir versuchen uns an einer quantifizierbaren Einordnung.

Die Topfeinteilung fand anhand der Ergebnisse der Nations League im Herbst 2018 statt. Dadurch war Polen im ersten Topf, Österreich im zweiten, Israel im dritten, Slowenien im vierten, Mazedonien im fünften und Lettland im sechsten Topf.

Wäre es nach dem FIFA-Ranking (mit Stand November 2018) gegangen: Polen und Österreich aus dem zweiten Topf, Slowenien und Mazedonien aus dem vierten, Israel und Lettland im fünften – dafür niemand aus dem ersten und auch niemand aus dem dritten Topf.

Wäre es nach dem ELO-Rating (mit Stand vor einem Jahr) gegangen: Polen aus dem ersten, Österreich aus dem zweiten, niemand aus dem dritten, dafür Slowenien, Mazedonien und Israel aus dem vierten Topf.

Tatsächliche Stärke? Ein Versuch.

Was diesen drei Bewertungskriterien gemeinsam ist: Sie werden nach vergangenen Leistungen erstellt und berücksichtigen nicht zwingend die aktuelle Leistungsstärke. Polen ist ohne Lewandowski viel schwächer – reißt er sich das Kreuzband oder tritt er zurück, schwächt das sein Team deutlich mehr als ein langfristiger Ausfall von, sagen wir, Sechser Mateusz Klich von Leeds United.

Einen gleichwertigen Ersatz für Klich treibt Polen auf. Einen für Lewandowski eher nicht.

Darum haben wir versucht, die tatsächliche, aktuelle Stärke der 55 EM-Quali-Teilnehmer zu erheben und  diese mit dem auf dem Platz erreichten zu vergleichen. Zugegeben, besonders wissenschaftlich ist das nicht, aber es zeigt zumindest ein Bild.

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Unterschiedlich stark besetzt

Von jedem Team haben wir die EM-Quali-Stammelf ausgearbeitet – grob gesagt: Jene elf Spieler, die in den acht bzw. zehn Spielen die meiste Spielzeit absolviert haben. Das sieht bei Österreich so aus:

Fast das komplette Team spielt bei deutschen Vereinen, die in der Champions League oder der Europa League aktiv sind – also bei guten Teams einer guten Liga. Dass dieses Team relativ stark ist oder zumindest sein sollte, liegt auf der Hand. Vergleichen wir dies mit dem finnischen Team, welches ebenfalls als Gruppenzweiter zur EM fährt:

Da gibt es den Torhüter eines deutschen Champions-League-Starters, einen Stürmer aus der englischen Premier League, einen Linksverteidiger vom belgischen und einen Sechser vom dänischen Meister. Und sonst nicht besonders viel. Dieses Team würde man wohl eher auf Platz vier hinter Italien, Bosnien und Griechenland einschätzen – nicht als Zweiter vor den Griechen und den Bosniern.

Also: Eine EM-Qualifikation von Österreich konnte man erwarten. Eine von Finnland nicht. Eh klar.

Eine Rangliste

Wir haben also die elf Spieler der Stamm-Elf mit dem Koeffizienten aus der Fünfjahres-Wertung der jeweiligen Liga mit Abstufungen bewertet: Volle Punkte für Spitzenklubs der Liga, mit Abzügen bis runter über Mittelständler (willkürlich 80%), Abstiegskandidaten (75%), Zweitligisten (30%) und Drittligisten (10%). Bei Teams wie San Marino mussten sogar noch größere Quotienten her. Die Handvoll Spieler aus Übersee (MLS, Asien) wurden wie Zweitligisten von Top-Ländern bewertet.

Zusätzlich haben wir Extra-Punkte (also 115%) für Spieler von europäischen Superklubs gegeben: Barcelona, Real Madrid, Liverpool, Man City, Bayern und Juventus. Noch einmal der Hinweis: Es geht nur um einen groben Vergleich.

Rot: Für die EM qualifiziert. Blau: Im Playoff. (Zum vergößern Klicken)

Das nicht ganz überraschende Bild: Es gibt aktuell eine Handvoll Top-Teams (Spanien, Frankreich, Deutschland, Belgien und England), nach den erweiterten Titelkandidaten kommt noch eine Stufe und die Mittelklasse-Länder liegen eng zusammen.

Und ja: Finnland hat tatsächlich deutlich mehr erreicht, als der Kader objektiv hergibt. Wahrscheinlich wird selbst der Qualifikant, der aus der vierten NL-Leistungsstufe in die EM-Gruppe Österreichs kommt (vermutlich Mazedonien oder Kosovo), eine Stamm-Elf mit Spielern von besseren Klubs haben als die Finnen.

Enge Mittelklasse

„Es ist nicht so, dass die Erweiterung des Turniers von 16 auf 24 Teams einen größeren Haufen von minderbemittelten Teams zum Turnier brachte {…}, aber eben mehr, die ihr Heil vornehmlich in der Abwehr-Arbeit suchen. Die Teams 17 bis 24 ziehen das Niveau nicht dramatisch runter.“ So stand es in unserer Abschluss-Bilanz zum EM-Turnier von 2016. Diese Rangliste scheint die These zu bestätigen.

So beträgt der Abstand von Polen (Platz 16) zum besten Mittelklasse-Team Dänemark (als Zehnter) genauso viel wie zwischen Polen und Platz 27 (Schottland, in diesem Fall).

Die Abstufung verläuft in etwa so:
1., die erweitere Spitze (vgl.: Topf 1)
2., die volatile zweite Reihe (vgl.: Töpfe 2 und 3)
3., das hintere Mittelfeld (vgl: Töpfe 4 und 5)
4., die Hoffnungslosen (vgl: Topf 6)

Klasse 1 qualifiziert sich zu 95 Prozent, Klasse 2 rittert um die restlichen Startplätze und Teams aus der Klasse 3 (wie Finnland) haben nur eine Chance, wenn die Sterne günstig stehen.

Erwartungen übertroffen/unterboten

Die Erwartung für Spanien und Frankreich ist, mehr oder weniger alles zu gewinnen. Die Erwartung für San Marino ist, alles zu verlieren. Spannend ist diese Rechnung eher nur dazwischen.

Also: Wie sehr muss sich Bosnien für Platz vier hinter Finnland und Griechenland schämen? (Antwort: schon relativ). Oder ist es wirklich eine Überraschung, dass der Kosovo bis zuletzt die Chance auf Platz zwei hatte? (Antwort: zumindest keine große).

Eine Möglichkeit zur Messung ist es, die Prozentzahl der erzielten Punkte (vom Maximum 24 bzw. 30) mit der Prozentzahl der Kaderstärke (mit dem Wert Spaniens, dem Top-Wert, als Referenzpunkt) gegenzurechnen. Hier belegt Österreich Platz 38 von 55. Mit einem Sieg in Lettland am letzten Spieltag wäre es Platz 28 gewesen. Besser, aber auch nicht gerade beeindruckend.

Gratuliere, Andorra: Das wohl mit einem spanischen Dritt- bis Viertligisten vergleichbare Team erzielte vier Punkte. Gratuliere auch, Island: Zwar reichte es nicht auf direktem Wege für die dritte Turnier-Teilnahme in Folge, aber angesichts der überwiegend mäßigen Klubs, bei denen die Insel-Kicker unter Vertrag stehen, ist man immer noch sehr gut dabei und hat im Playoff eine realistische Chance.

Israel ist so mittendrin: Das von den Vereinen der Startelf-Spieler zweitschlechteste Team der Gruppe steht dank des Heimsieges gegen Österreich recht okay da, obwohl das direkte EM-Ticket sehr deutlich verpasst wurde. Ohne diesen Erfolg jedoch würde das Team von Andi Herzog bei dieser Berechnungsmethode im hinteren Drittel rangieren – was auch verdeutlicht, wie klein die Sample Size ist und wie sehr jeder Punkt hier einen großen Unterschied machen kann.

Dies ist auch bei Bulgarien zu sehen (ohne den Sieg im für beide bedeutungslosen letzten Spiel gegen Tschechien: Platz 49 statt 29) und bei Spanien (das Team ist so stark besetzt, dass die beiden Remis gegen Schweden und Norwegen das Ranking extrem nach unten reißen). Also: Alles ein wenig mit Vorsicht zu genießen.

Aber auf jeden Fall: Oje, Nikola Jurčević. Der ehemalige Salzburg-Star hat in Aserbaidschan einen gut bezahlten, aber ziemlich ambitionslosen Job ausgefasst. Die Liga ist nicht besonders stark, zahlt aber gut. Ohne Anreiz, die Liga zu verlassen, kocht alles im eigenen Saft. Ein einziger Punkt in acht Spielen ist aber selbst dafür ein bissi gar wenig. Bosnien, in der Nations League noch verdienter Gruppensieger vor Österreich, hat trotz Pjanić und Džeko einen dramatischen Bauchfleck hingelegt, was Teamchef Prosinečki auch bereits den Job gekostet hat.

In Relation zur Gruppenstärke

Nun spielte nicht jeder gegen Spanien, manche – auch Österreich – hatten eine leichtere Gruppe (tatsächlich war nur die Belgien-Gruppe noch schwächer als die des ÖFB-Teams). Wenn man die erzielten Punkte in Relation mit dem eigenen Stärkewert und jenem der Gruppengegner setzt, belegt Österreich auch nur den 30. Platz. Mit einem Sieg über Lettland wäre es immerhin Platz 21 gewesen.

Die 19 von 30 möglichen Punkten als objektiv stärkstes Team der Gruppe sind etwa vergleichbar mit den den acht Punkten von Georgien (mit zwei Remis und vier Niederlagen gegen stärkere Teams und zwei Siege gegen Gibraltar) oder den 13 Punkten der gestolperten Bosnier. Es ist deutlich schwächer als etwa Armenien (wo zwischendurch sogar der Teamchef zurückgetreten ist), aber auch klar besser als etwa bei Wales, wo Ryan Giggs eigentlich nie bis zum letzten Match zittern hätte dürfen.

In dieser Rechnung haben sämtliche Gruppengegner von Österreich mehr aus ihrem Potenzial gemacht als das ÖFB-Team selbst.

Dass natürlich auch diese Rechnung ihre Schwächen hat, zeigen die Positionen von Italien (18.) und Belgien (33.), denn mehr als alles gewinnen geht nicht. Ihr Ranking zeigt aber auch, dass ihre Gruppen in der Tat recht schwach waren.

Österreich: Vergleich mit Quali zu 2016

Wie man es auch dreht und wendet: Trotz der erreichten EM kratzte Österreich in der Qualifikation eher an der Blamage als am Heldentum. Nur: Wie sieht die Performance im Vergleich zu jener in der Quali für die EM 2016 aus?

Nun: Österreich war auch damals – obwohl nur aus dem dritten Topf gezogen – das nach den Klubs der Spieler stärkste Team der Gruppe, allerdings nicht ganz so stark wie jetzt. Die Gruppengegner waren Russland (recht klar schwächer als Polen jetzt), Schweden (vergleichbar mit Slowenien) und Montenegro (vergleichbar mit Mazedonien) sowie Moldawien (etwas schwächer als Israel) und Liechtenstein (damals sogar etwas stärker als Lettland jetzt).

Damals holte Österreich 28 von 30 möglichen Punkten – in einer vergleichbaren Gruppe und einer vergleichbar starken Mannschaft zu jetzt, als es 19 Punkte gab. In beiden vorhin erklärten Wertungen hätten aber selbst diese 28 Punkte nur für Plätze knapp außerhalb der Top-10 gereicht.

Das zeigt wiederum, wie schwach die damalige Gruppe war – aber auch, wie schwach die Performance des ÖFB-Teams in dieser EM-Quali war.

Die österreichische EM-Gruppe 2020

So trifft es sich gut, dass die EM-Gruppe C mit Österreich die schwächste der sechs Vorrunden-Staffeln ist. Der Aufschwung der Niederländer ist mit dem Final-Einzug bei der Nations League und dem Beinahe-Gruppensieg gegen Deutschland gut dokumentiert, dennoch gibt es in jeder anderen Gruppe zumindest eine stärkere Mannschaft.

Die Ukraine hat die Erwartungen klar übertroffen. Die hauptsächlich mit Akteuren der nationalen Top-Klubs Schachtar Donetsk und Dynamo Kiew ausgestattete und von Legende Andriy Shevchenko trainierte Mannschaft hat trotz der relativen Jugend auch bereits internationale Erfahrung und qualifizierte sich deutlich vor Titelverteidiger Portugal.

Wer der dritte Österreich-Gegner wird, entscheidet sich im Playoff Ende März.

Apropos Playoff

Hier das beste Team (Spanien) und Österreich im Vergleich zu den 16 Teams, welche die verbleibenden vier EM-Teilnehmer ausspielen. Österreich bekommt entweder den Sieger aus dem grau markierten Quartett oder Rumänien.

Nordmazedonien war zweimal ziemlich chancenlos gegen Österreich, punktete aber gegen alle anderen Teams der Gruppe und hätte auch im Quali-Modus für 2016 im Playoff antreten dürfen. Selbiges gilt für den Kosovo, der bis zum vorletzten Spiel (dem direkten Duell gegen Tschechien) alle Chancen auf ein direktes EM-Ticket hatte.

Das ist kein Zufall, obwohl das Land selbst weniger Einwohner hat als die Stadt Wien. Aber mit dem Ex-Salzburger Berisha, dem in Bremen groß aufspielenden Milot Rashica sowie den großgewachsenen Fenerbahce-Top-Torjäger Muriqi verfügt man über durchaus ernst zu nehmendes Talent.

Ähnlich wie das große bosnische Team der frühen 10er-Jahre und die albanische Mannschaft, die sich bei der EM 2016 wacker schlug, besteht auch dieser Kader überwiegend aus Auswanderer-Kindern. Aus der Stamm-Elf sind vier Spieler in der Schweiz geboren und/oder aufgewachsen (Muric, Kololli, Aliti und Hadergjonaj), zwei in Norwegen (Berisha und Celina), einer in Belgien (Vojvoda) und einer in Deutschland (Halimi), dazu kommt der dritte Stürmer, Ex-Rapidler Atdhe Nuhiu, aus Wels.

Georgien hat, wenn man die sechs Pflichtpunkte gegen Gibraltar wegrechnet, noch zwei Pünktchen geholt (jeweils 0:0 daheim gegen Dänemark und Irland). Weißrussland hat nicht einmal beide Spiele gegen Estland gewonnen, dafür 2:15 Tore und null Punkte gegen Nordirland, Holland und Deutschland eingefahren.

Es sind dies die vier Sieger der D-Klasse-Gruppen in der Nations League 2018. Der Kosovo hatte sich dort u.a. gegen Aserbaidschan durchgesetzt, Mazedonien gegen Armenien, Georgien deutlich vor Kasachstan und Weißrussland relativ knapp gegen Luxemburg.

Wenn sich Rumänien als Auffüller im A-Klasse-Playoff durchsetzt, käme die Mannschaft wegen des EM-Spielortes Bukarest in der Österreich-Gruppe. Der Kosovo und Mazedonien befinden sich im Stärke-Ranking vor Rumänien; in der Quali gegen Spanien, Schweden und Norwegen wurde man entsprechend der Qualität Vierter.

Es gab keinen Sieg und 5:14 Tore gegen die besseren Gegner (zwei Remis gegen Norwegen, vier Niederlagen gegen Spanien und Schweden). Im Herbst 2018 sicherte Rumänien in der C-Gruppe der Nations League den zweiten Platz am letzten Spieltag gegenüber Montenegro ab.

Was heißt das nun?

Wie auch immer man es betrachtet: Österreich hat mit Platz zwei das absolute Minimum erreicht. Die Quali-Gegner waren ungefähr auf Augenhöhe (Polen) bzw. deutlich schwächer (alle anderen), einen ernsthaften Anwärter selbst auf einen Kampf um Platz zwei hat es nicht gegeben. Das ÖFB-Team hat geschafft, was man erwarten konnte und angesichts der im Kader vorhandenen Qualität sogar eher enttäuscht.

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Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.