Klarer Titelkandidat, wackelnde Herausforderer und einige Ärgernisse

Worüber wurde öffentlich geredet bzw. medial geschrieben in den zwei Wochen der Gruppenphase bei der Frauen-WM in Frankreich? Über wiederholte Elfmeter, exzessiven Torjubel bei einem 13:0-Abschuss, über Marta (17 Tore) und Klose (16) und den Vergleich zwischen Männer- und Frauen-Kick, der auch nicht sinnvoller wird, je öfter man ihn bemüht.

Hier nun eine kleine – überwiegend sportliche – Zwischenbilanz nach die Vorrunde und ein Ausblick darauf, was nun von der K.o.-Phase zu erwarten ist.

Die Favoriten

Schon im Vorfeld war klar: Titelverteidiger USA ist der haushohe Favorit. Um gleich mal ein Zeichen zu setzen, wurde ein auf bizarre Weise implodierendes Team aus Thailand bis zu 94. Minute ohne jede Gnade überrannt, mit 13:0 besiegt und jedes Tor bejubelt, als wäre es das entscheidende im Finale gewesen. Ob man das knallharte Verharren am Gaspedal gut findet oder nicht, ist Geschmackssache und es hängt auch zweifellos mit der Equal-Pay-Klage zusammen, welche die US-Frauen gegen den US-Verband eingebracht haben. Aber ein Indikator für die wahre Stärke des US-Teams war dieses Spiel ebenso wenig wie das 3:0 gegen die chilenische Torfrau Christiane Endler und das 2:0 gegen ein zutiefst mittelmäßiges Schweden.

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In der breiten Riege der tatsächlichen und vermeintlichen Anwärter haben sich zwar alle für das Achtelfinale qualifiziert, wirklich überzeugt haben dabei aber nur wenige. Japan etwa, aggressiv und tempohart in der Vorbereitung, agierte geradezu kleinlaut, blieb in zwei der drei Spiele ohne Torerfolg. Spanien hatte viel vom Ball und viele Halbchancen, erzielte aber nur einen einzigen Treffer aus dem Spiel heraus. Brasilien verließ sich vor allem bei Widerstand nur auf individuelle Klasse und wurde, obwohl es zwei Siege gab, gar nur Gruppendritter.

Andere hatten starke Phasen, aber auch einige Aussetzer. Australien etwa gewann gegen Brasilien nach 0:2-Rückstand noch 3:2, agierte aber erwartet eindimensional im Angriff und wurde von den cleveren Italienerinnen ausmanövriert. Kanada war wie erwartet sehr systemflexibel, wie erwartet sehr defensivstark, aber auch wie erwartet eher harmlos im Vorwärtsgang. Schweden agierte über weite Strecken zu behäbig und zu wenig zielstrebig, machte aber gegen die USA eine relativ gute Figur. Europameister Holland musste gegen die Underdogs ordentlich kämpfen, bestand aber immerhin bisher alle Prüfungen.

Und drei Teams präsentierten sich als annährnd ernsthafte Gegner. Allen voran Deutschland: Das flexibelste Team des Turniers kreierte viele Chancen und stellt sich auf jede Situation perfekt ein – das Spiel gegen gutklassige Defensiven bleibt aber ein Fragezeichen. England hatte drei recht unterschiedliche Spiele gegen völlig unterschiedliche Gegner und gewann alle drei, glanzvoll war es aber nicht. Und Gastgeber Frankreich – allerdings nur dann, wenn man die herausgespielten Chancen besser nützt. Beim 4:0 gegen Südkorea mussten Standards herhalten, beim 1:0 gegen Nigeria ließ man unglaublichste Chancen liegen.

Der Weg ins Finale

Wenn die USA ihren Titel verteidigen wollen, haben sie ein knüppelhartes Programm vor sich. Zunächst geht es im Achtelfinale gegen Spanien – jenes Team, das seinen Expected-Goals-Wert am deutlichsten unterschritten hat. Zudem hat Spanien das US-Team im Jänner schon ziemlich gefordert. Andererseits war das bisherige Auftreten ziemlich mau.

Dann würde im Viertelfinale wohl Frankreich warten. Der Gastgeber hat sicher auf einen leichteren Gruppendritten als Brasilien gehofft, aber die tatsächliche Stärke der Brasilianerinnen kann nicht mit dem großen Namen mithalten. Frankreich hat die USA vor ein paar Monaten in einem Testspiel 3:1 besiegt. Im Halbfinale wartet laut Papierform dann England oder Australien. Dieser Turnier-Ast hat es in sich.

Im Jänner hat die USA (allerdings nicht ganz in Bestbesetzung) in Frankreich 1:3 verloren und in Spanien mit viel Glück 1:0 gewonnen. Das waren halt nur Testspiele.

Auf der anderen Seite deutet einiges auf ein Halbfinale zwischen Deutschland und den Niederlanden hin. Es wäre keine Überraschung, sollten etwa Kanada oder Japan dazwischen funken, aber dies ist wohl die weniger problematische Hälfte im Bracket.

Die Verteilung übrigens: Achtmal Europa, dreimal Asien, zweimal Afrika (erstmals doppelt vertreten, dank Kameruns 2:1-Sieg über Neuseeland in der 95. Minute), zweimal Nord- sowie einmal Südamerika. Nur Ozeanien hat sich in Form von Neuseeland mit drei seltsam destruktiven Vorstellungen und drei Niederlagen schon verabschiedet.

Die Olympia-Qualifikation

Ob es wirklich besonders fair ist, die drei europäischen Plätze bei Olympia in Tokio 2020 über diese WM auszuspielen, sei mal dahingestellt. Sicher ist aber, dass das Achtelfinale in puncto UEFA-Olympia-Qualifikation perfekt aufgestellt ist.

In jedem der acht Achtelfinals spielt ein europäischer Vertreter gegen einen außereuropäischen. Manche sind klare Favoriten (Deutschland gegen Nigeria, England gegen Kamerun), manche werden es sehr schwer haben (vor allem Spanien gegen die USA, aber auch Norwegen gegen Australien).

Die drei besten europäischen WM-Teams sind im Zwölfer-Feld von Tokio. Gibt es beispielsweise zwei Halbfinalisten und vier Viertelfinalisten, werden letztere vier im kommenden Frühjahr ein Mini-Turnier um den Platz bei Olympia bestreiten. So war es schon vor vier Jahren.

Die Backmarker

Ja, Thailand. Nie hat sich ein Team mit einer schlechteren Bilanz von einer WM verabschiedet – 1:20 Tore sind neuer Negativ-Rekord. Diesen hielt bislang Argentinien, aber dieses Team verkaufte sich sehr ordentlich, holte zwei unerwartete Punkte und zählt zu den Gewinnern dieser WM.

Überraschungs-Teilnehmer Jamaika hatte dreimal keine Chance, kam aber immerhin mit „nur“ zwölf Gegentoren davon. Debütant Südafrika war offensiv ähnlich harmlos, stellte aber Spanien und China vor große Probleme. Auch Chile versuchte gegen Schweden und die USA nur, halbwegs ungeschoren davonzukommen (0:2 und 0:3, sehr in Ordnung), das Achtelfinale verpasste man nur hauchdünn um ein Tor – der verschossene Elfer gegen Thailand in der Schlussphase war richtig bitter.

Bitter verlief die WM auch für Südkorea: Gegen Frankreich von der unterlegenen Robustheit besiegt, tölpelhaftes Eigentor zur Niederlage gegen Nigeria, haushoch überlegen und durch zwei Elfmeter besiegt von Norwegen. Man fährt mit null Punkten heim, zugestanden wären dem Team aber vier. That’s life.

Die besten Spiele

Deutschland – Spanien 1:0

Viele Partien in der Vorrunde folgten einem ähnlichen Muster wie jene bei der Herren-EM 2016: Ein Team igelt sich hinten ein, das andere arbeitet sich mühsam an der gegnerischen Defensive ab.

Vier Spiele ragen aber heraus, vor allem jenes von Deutschland gegen Spanien. Die Spanerinnen kontrollierten Ball und Gegner, versäumten aber, in Führung zu gehen. Nach einer halben Stunde tauschten Däbritz und Oberdorf die Positionen, um mehr Präsenz ins Zentrum zu bekommen; wenig später traf Däbritz zum 1:0. Nach der Pause kam die junge, giftige Bühl für Hendrich, um vorne umzurühren, Huth ging auf die Seite und Gwinn nach hinten – Spanien hatte damit zu kämpfen und traute sich nicht mehr so konsequent aufzurücken.

Halb durch die zweite Hälfte wechselte dann Sturmspitze Popp auf die Sechs, die Kreative Magull kam dafür für die Spitze und Spanien fand endgültig keine Antwort mehr, wie man gegen das ebenso robuste wie im Passspiel direkte Mittelfeld-Zentrum und die flinken Spitzen ihr Ballbesitzspiel aufziehen solle, ohne in ein zweites Tor zu laufen. Deutschland hatte Spanien an der Taktiktafel besiegt und sich damit ein Achtelfinale gegen Nigeria gesichert, anstatt eines gegen die USA – wichtig im Hinblick auf die Olympia-Qualifikation. Es war nicht das spektakulärste Spiel der Vorrunde, aber zweifellos das interessanteste.

Australien-Brasilien 3:2 (1:2)

Australien wurde von Italien im ersten Spiel neutralisiert und kassierte in der 95. Minute sogar das Tor zur 1:2-Niederlage. Gegen Dauerrivale Brasilien (Sieg im WM-Achtelfinale 2015, Niederlage im Olympia-Viertelfinale 2016) war man also fast schon zum Siegen verdammt.

Das vorhersehbare Angriffsspiel – Zentrum, Außenbahn, Flanke, Kerr – führte nicht zum Erfolg. Brasilien trug außer der Kreativität von Debinha und Andressa Alves nicht viel bei, aber ein Elfmeter und ein von Tamires und Debinha vorgetragener Gegenstoß in den verwaisten Halbraum brachte eine 2:0-Führung für Brasilien. Der australische Hut brannte heftig.

Man kam noch vor der Halbzeit zum 1:2 (eh klar, nach einer Flanke) und nach einer Stunde flog eine weitere Hereingabe von der Seitenlinie an Freund und Feind vorbei zum 2:2 ins Tor. Wenig später versenkte Ex-Neulengbach-Spielerin Mônica eine weitere Flanke per Eigentor zur Führung von Australien – umstritten, weil Kerr im Abseits stand und zwar den Ball nicht berührte, aber Mônicas Klärungsversuch erst nötig machte.

In der Folge traten Brasiliens Schwächen brutal zu Tage. Es gab keinerlei Plan, wie man nun zumindest das Remis erzielen sollte, es gab nur direkte personelle Wechsel, es gab keine einstudierten Passwege, nur das Verlassen auf individuelle Klasse – und Marta war zu Halbzeit ausgetauscht worden.

Kamerun-Neuseeland 2:1 (0:0)

Die mit Abstand dramatischste Schlussphase gab es bei Kamerun gegen Neuseeland. Die Ausgangslage vor dem letzten Gruppenspiel war einfach: Wer gewinnt, ist weiter – ein Remis schickt beide nach Hause.

Dass es ein gutes Match war, könnte man nicht sagen. Im Gegenteil: Die robuste, teilweise ans Rücksichtslose grenzende Spielweise von Kamerun und das direkte, aber ungenaue Passspiel von Neuseeland ließ nie Spielfluss aufkommen. Kamerun hatte Feldvorteile, es dauerte aber eine Stunde, bis Ajara Nchout traf – und wie: Ball angenommen, in der Drehung um die Gegenspielerin herumgehoben und dann ein extrem gefühlvoller Abschluss ohne jede Gewalt.

Neuseeland stellte danach auf 4-3-3 um und warf alles nach vorne, aber Kamerun kontrollierte den knappen Vorsprung und Ferns-Keeperin Nayler verhindert mit Heldentaten das zweite Tor, bis Awona eine harmlose Flanke unbedrängt klären wollte, den Ball aber nicht richtig traf und ins eigene Tor lenkte – das 1:1, das vermeintliche Aus. Weil nun beide Teams ein Tor zum Aufstieg brauchten, folgte eine völlig wilde Schluss-Viertelstunde, geprägt von Panik, Nervosität, einem komplett offenen Mittelfeld und dem Hoffen auf einen Lucky Punch.

Und mit der allerletzten Aktion des Spiels, in der 95. Minute gelang wiederum Nchout ein unglaubliches Tor, in dem sie erst mit zwei 180-Grad-Drehungen die Gegenspielern auf den Hosenboden setzte und dann ganz kontrolliert abschloss, zum 2:1 traf und Kamerun ins Achtelfinale schoss.

Schottland-Argentinien 3:3 (1:0)

Der erstaunlichste Kollaps passierte Schottland gegen Argentinien. Die Schottinnen brauchten einen Sieg zum Achtelfinal-Einzug.

Beide Teams hatten ihre ersten Partien sehr defensiv angelegt; Argentinien ein 0:0 gegen Japan ermauert, Schottland beide Spiele knapp verloren. Im direkten Duell überraschte Argentinien mit einer starken Anfangs-Offensive, ehe Little nach 20 Minuten die Schottinnen entgegen des Spielverlaufs in Führung brachten.

Die Spielqualität brach daraufhin völlig ein, es wurde ein Festival der Ungenauigkeiten. Nach dem Seitenwechsel wurde typisch schottisch (Kopfball nach Flanke, Abstauber nach Ecke) zum 3:0 erhöht, ehe Argentiniens Trainer Borrello die auf der Zehn isolierte Banini herunter nahm und frische Beine in ein nun kompakteres Zentrum gegen müde werdende Schottinnen brachte. Mit Erfolg: Konter zum 1:3 (74.), Weitschuss zum 2:3 (79.) und dann ein Elfmeter in der 90. Minute. Alexander hielt den ersten Versuch, war aber beim Schuss Zentimeter vor der Linie – so wurde wiederholt und Bonsegundo versenkte zum 3:3.

Kontroversen

Dreimal gab es diese Situation – Elfmeter wird gehalten, aber die Torhüterin springt Sekunden-Bruchteile zu früh vor die Linie, was der VAR erkennt, der Elfmeter wird wiederholt und verwandelt. Syd Schneider (Jamaika), Chiamaka Nnadozie (Nigeria) und Lee Alexander (Schottland) erhielten dafür sogar die gelbe Karte.

Was vom IFAB als Kompromiss gedacht war – es muss nur noch ein Fuß zum Zeitpunkt des Schusses auf der Linie sein statt wie bisher zwei, das wird aber dafür rigoros kontrolliert – war das größte, wiederkehrende Ärgernis der Vorrunde. Die FIFA hat angekündigt, ab sofort bei dieser WM keine gelben Karten mehr dafür zu verteilen. Die Premier League hat verkünden lassen, diese strenge Kontrolle demonstrativ zu verweigern.

Auch die Zuschauerzahlen in den acht bisher verwendeten Stadien fielen negativ auf. Nur bei einer einzigen WM waren in der Gruppenphase weniger Zuseher in den Arenen als diesmal – es waren 18.500 Zuseher pro Spiel, was einer Auslastung von 62 Prozent entspricht. Vor allem die beiden Spielorte im Süden, Nizza und Montpellier, haben völlig ausgelassen. Zum Vergleich: 2015 in Kanada waren es in der Gruppenphase 24.500 Zuseher (Auslastung 63 Prozent) pro Spiel gewesen, 2011 in Deutschland 24.900 (Auslastung 79 Prozent) und 2007 in China gar 39.500 Zuseher pro Spiel (Auslastung 80 Prozent).

Es geht ans Eingemachte

Der Modus mit 24 Teams, von denen 16 ins Achtelfinale kommen, vermindert (mit wenigen Ausnahmen, wie Deutschland-Spanien) die Bedeutung von Duellen der Großen in der Vorrunde. Aber jetzt geht es ans Eingemachte, nun werden die großen Geschichten geschrieben.

Die Gruppenphase hat die großen Namen in echte Titelaspiranten und zweifelhafte Wackelkandidaten eingeteilt. Ab sofort gibt es keine zweite Chancen mehr.

Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.