„La U“ und das hochriskante 3-1-4-2: Harakiri-Fußball reinster Prägung

Mit ihrem Titel bei der Copa Sudamericana, dem zweithöchsten Klub-Bewerb des Kontinents, wurde die Fachwelt 2011 auf Universidad de Chile aufmerksam. Und vor allem auf das unübliche 3-1-4-2 von Trainer Jorge Sampaoli – das unglaublich gefährlich ist, weil es in der Abwehr riesige Räume offen lässt. Aber auch unglaublich spektakulär ist, wenn es aufgeht. Wie bei der Aufholjagd im Achtelfinale der Copa Libertadores nach einem 1:4 im Hinspiel bei Deportivo Quito.

Universidad de Chile - SD Quito 6:0

Eine pervers hohe Abwehrlinie mit zuweilen nur einem einzigen Verteidiger, brutale Dominanz im Zentrum, irrsinnig bewegliche und sich zurückfallen lassende Stürmer, die dann selbst aus der Tiefe kommen oder selbst für steil gehende Kollegen die Vorlagen geben – klingt so gut wie unmöglich zu verteidigen. Und es klingt unmöglich, so selbst zu verteidigen. Ist es auch. Genau das macht den Harakiri-Fußball von Universidad de Chile, kurz „La U“, so unglaublich attraktiv anzusehen.

Zwischen 3-4-3 und 3-1-4-2

Das kann eben auch arg schief gehen, wie zuletzt beim Hinspiel im Achtelfinale der Copa Libertadores (dem südamerikanischen Gegenstück zur Champions League) in der Höhenluft von Quito. Dort dominierte man zwar das Spiel, machte aber schon nach dem 1:1 komplett auf und lief ins offene Messer, wurde ausgekontert und verlor mit 1:4. Was hieß, dass für das Rückspiel im zum Bersten gefüllten Nationalstadion von Santiago ein gigantischer Sturmlauf zu erwarten war.

Jorge Sampaoli, der 52-jährige Coach von La U, lässt seine Mannschaft in einem Zwischending aus 3-4-3 und 3-1-4-2 auflaufen. Interessant dabei ist, dass mit Eugenio Mena der linke Mann in der Dreier-Abwehrkette im Spiel nach vorne wie ein normaler Außenverteidiger agiert, also sehr viel nach vorne marschiert und sich an der Seitenlinie oftmals mit Junior Fernandes verbindet. Der Stürmer spielt einen verkappten Linkaußen, lässt sich immer wieder tief fallen oder kommt von der Flanke.

Auf der anderen Seite ist Verteidiger Magalhaes deutlich zurückhaltender, dafür beackert Matías Rodríguez (manche werden sich dunkel erinnern, der war mal ein halbes Jahr beim LASK) die Außenbahn. Er interpretiert die Rolle als Rechtaußen defensiver als Fernandes auf der anderen Seite. Sind es links zwei Spieler, die aus verschiedenen Richtungen kommend die Außenbahn betreuen, ist es rechts nur einer, der allerdings von Haus aus dort steht.

Hohe Verteidigung, Überladen des Mittelfelds, Spieler vor dem Ball

Was das Spiel beim überlegenen Tabellenführer der chilenischen Liga, der aktuell den dritten nationalen Titel in Folge einheimst, aber erst zum wirklich funktionieren bringt, ist die Kombination aus drei Schlüsselfaktoren. Zum einen ist das die hohen Verteidigungslinie, die sich oftmals an der Mittellinie oder sogar jenseits davon befindet. Das erlaubt es dem Mittelfeld, extremen Druck auszuüben.

Das funktioniert, zweiter Schlüsselfaktor, über die ungemeine Fluidität jener Spieler, die die Mittelfeld-Zentrale überfluten. Sechser Marcelo Díaz lässt sich etwas fallen, wenn Mena mit nach vorne geht, und ist oft Ausgangpunkt für Angriffe. Vor ihm rochieren Marino, Lorenzetti und Aránguiz sehr viel und rissen durch ihre unberechenbaren Laufwege Löcher. Und ging ein Ball verloren, wird sofort auf den Ballführenden gepresst, sodass die Kugel schnell wieder erobert war: Gerade hier wirkte La U sehr gedankenschnell.

Zudem zwingen die Stürmer durch ihr permanentes Fallenlassen zurück ins Mittelfeld, dass die Verteidiger der Ecuadorianer entweder aus der Position gezogen werden oder sich mit den schnell auf sie zukommenden aufrückenden Mittelfeld-Leuten von La U auseinander setzen zu müssen. Was der dritte Schlüsselfaktor ist: Befinden sich die Stürmer in tieferen Positionen, sind immer noch mindestens drei Spieler vor dem Ball. Somit gibt es immer Anspieloptionen tief in der gegnerischen Hälfte.

Deportivo Quito war nominell in einem 3-4-3 aufgestellt, durch den enormen Druck der Chilenen war das aber eher ein 5-2-3. Damit fehlte nicht nur ein Bindeglied zu den Stürmern vorne, sondern man war vor allem im Mittelfeld zu zweit gegen zuweilen sieben permanent rochierende Gegenspieler einfach heillos überfordert. Beim 1:0 und dem 2:0, jeweils durch Junior Fernandes, ging es den Ecuadorianern einfach zu schnell. Beim 3:0, einem abgefälschten Weitschuss von Díaz, hatten sie auch etwas Pech. Aber Quito sah kaum Bälle und es gelang auch nicht, wie noch im Hinspiel, die unglaublichen Räume zu nützen, die La U in der Defensive – einfach bedingt durch die extrem offensive Spielweise – lassen musste.

Defensive Absicherung und die Entscheidung

Beginn der 2. Halbzeit

Der Rückstand aus dem Hinspiel war aufgeholt, so entschied sich Sampaoli für die zweite Hälfte, etwas mehr Sicherheit in die Defensive seiner Mannschaft zu bringen. Mit Sebastián Martínez kam ein zweiter echter Innenverteidiger, der nun neben Pepe Rojas agierte, für einen zentralen Mittelfeldspieler (Marino). La U spielte nun in einem 4-3-3-ähnlichen System.

Magalhaes spielte nominell als Rechtsverteidiger, rückte aber ein, wenn Mena auf der anderen Seite nach vorne ging. Das erlaubte wiederum Sechser Díaz, sich mehr um die Spieleröffnung kümmern zu können, mit Lorenzetti und Aránguiz hatte er immer noch zwei Spieler unmittelbar vor sich und es gab immer noch eine Überzahl in der Zentrale.

Magalhaes blieb während des ganzen Spiels auch deshalb vorsichtiger als Mena, weil er mit Fidel Martínez den wohl talentiertesten Spieler von Quito gegen sich hatte. Der 22-Jährige ist sowohl von seiner etwas verspielten Art als auch von seiner wenig dezenten Frisur so ein wenig ein „Neymar für Arme“ und hatte ein Spiel zum Vergessen: Ihm gelang praktisch nichts.

Dennoch holten die Ecuadorianer durch die etwas entspanntere Lage im Zentrum etwas Luft und kam nun durchaus vor das Tor der Chilenen. Ehe das passierte, was bei diesem Spielverlauf nicht passieren hätte dürfen: Nach einer Halbzeit, in der Quito komplett hinten eingeschnürt war lief man nach ein paar Minuten gefühlter Dominanz in einen Konter. Mena ging auf der rechten Seite durch, marschierte über das ganze Feld, und schloss auch noch selbst zum 4:0 ab. Vom Ergebnis her noch nicht die endgültige Entscheidung im Achtelfinale – ein Tor hätte Quito ja immer noch für die Verlängerung gereicht – aber gefühlt war das sehr wohl das Ende für die Ecuadorianer.

Künftiger Man-Utd-Jungstar entscheidet Achtelfinale

Dieses wurde endgültig besiegelt, als der 18-jährige Ángelo Henríquez, der schon einen Vorvertrag mit Manchester United hat, innerhalb weniger Minuten auf 6:0 stellte. Was bei dem Jungstar vor allem beeindruckt, ist sein Gespür für die richtigen Laufwege. Wie sich Henríquez bewegt, bindet er immer einen Gegenspieler und zog ihn aus der Dreierkette, schuf somit Räume und ermöglichte es zudem seinen Mitspielern, in mit Pässen im richtigen Moment an der Grenze zum Abseits in den Rückraum der Abwehr zu schicken – wie beim Tor zum 5:0.

Quito fiel hinten nun auseinander. Das 6:0 kann man eindeutig auf mangelnde Kommunikation in der Verteidigung zurückführen. Und auch, wenn Ecuadors früherer National-Torhüter Marcelo Elizaga – der 40-Jährige zog sich nach der Copa América aus dem Team zurück – bei diesem Gegentreffer nicht gut aussah, verhinderte er in der Folge doch eine noch höhere Niederlage.

Fazit: Spektakulär und hochriskant

Im Hinspiel waren die Gefahren des 3-1-4-2 von Jorge Sampaoli sichtbar geworden, im Rückspiel die ungeheuren Möglichkeiten dieses Systems. Sampaoli, der sich selbst (wie an der Spielweise unschwer zu erkennen ist) als Anhänger von Marcelo Bielsa, seinem früheren Trainer und Chef bei Newell’s Old Boys, bezeichnet, lässt einen extrem attraktiven, aber auch ebenso gefährlichen Fußball spielen. Im Idealfall geht es so aus wie in diesem Spiel.

Das Überfluten der Zentrale mit rochierenden Spielern, das ganze durch die Hohe Verteidigungslinie auf engem Raum und mit dem Spielverständnis der Akteure, immer zumindest drei Mann vor dem Ball zu haben selbst wenn ein Stürmer die Kugel hat, ist über neunzig Minuten schlicht nicht zu verteidigen. Als gegnerische Mannschaft ist es keine Option, das Mittelfeld ebenfalls mit Spielern aufzufüllen, weil diese dann hinten fehlen. Man muss es nur schaffen, die weiten Räume im Rücken der Verteidigung zu nützen.

National schafft das in Chile praktisch niemand, in den 34 Spielern der Apertura/Clausura 2011/12 gab’s für La U nur zwei Niederlagen (bei 24 Siege und acht Remis). Und international holte man im Dezember die Copa Sudamericana, im Finale übrigens gegen Deportivos Lokalrivalen LDU Quito. Trotz des Klischees, dass der Angriff nur Spiele gewinnt, die Abwehr aber Titel.

Vielleicht – oder wahrscheinlich – ist der Erfolg dieser Mannschaft nur eine Blase, die kurzzeitig aufsteigt, an der sich alle erfreuen, aber letztlich doch zerplatzt. Aber genau solche Phänomene, so kurzlebig sie womöglich auch sind, machen doch die Schönheit dieses Sports mit aus.

(phe)

Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.