Ballverliebt Classics – A Tragédia do Sarriá

In Memoriam Enzo Bearzot (1927-2010): Das zentrale Spiel beim italienischen Weltmeistertitel 1982 war das 3:2 im letzten Zwischenrundenspiel gegen die Übermannschaft aus Brasilien im Sarriá-Stadion von Barcelona. Für die Seleção bis heute die zweitgrößte sportliche Katastrophe. Für Bearzot der entscheidende Sieg.

Zwölf Jahre vor diesem Spiel hatten sich Brasilien und Italien im WM-Finale getroffen. Damals, 1970 in Mexiko, behielt die individuelle Genialität der Seleção die Oberhand. Vor diesem Spiel am Montag, dem 5. Juli 1982 waren die grundsätzlichen Vorzeichen ähnlich: Brasilien, mit den überragenden Einzelspielern, der WM-Favorit; gegen Italien, mit den tendenziell eher langweiligen Ergebnis-Fußballern. Noch dazu hatte Brasilien eine komfortable Ausgangsposition: Ein Remis in diesem letzten Zwischenrundenspiel hätte für das Semifinale gegen Polen – gemeinhin als Freilos erachet – gereicht. Aber die Seleção hat es übertrieben. Und Enzo Bearzots Team das ausgenützt.

Italien – Brasilien 3:2 (2:1

Nach dem Turnierverlauf wäre alles andere als ein klarer Sieg der Brasilianer im 1997 abgerissenen Stadion von Espanyol eine Überraschung gewesen. Das Team von Telê Santana spazierte durch die Vorrunde, nach einem eher mühsamen 2:1 über die UdSSR wurden die Schotten und die Neuseeländer 4:1 bzw. 4:0 vom Platz gefegt, und im ersten Zwischenrundenspiel war der amtierende Weltmeister Argentinien beim 3:1 auch kein echter Gegner. Die Italiener dafür stolperten ohne Sieg durch die Vorrunde, zitterten sich mit drei Remis gegen Polen, Peru und Kamerun in die nächste Runde und kamen erst gegen die Argentinier zu einem knappen 2:1-Erfolg. Zudem sprach die enorme Hitze während des ganzen Turniers und auch an diesem Abend (38° beim Anpfiff) für Brasilien.

Bearzot schickte seine Mannschaft in einer Formation auf das Feld, die dem damals in Italien typischen „Zona Mista“ entsprach, eine asymmetrischen 4-4-2. Collovati kümmerte sich in der Abwehr explizit um Serginho, Scirea agierte als freier Mann durchaus offensiver. Gentile hatte die Aufgabe, Zico bzw. Sócrates kaltzustellen, Tardelli war der zentrale Umschaltpunkt zwischen Defensive und Offensive. Im Mittelfeld war rechts Bruno Conti wesentlich mehr ins Speil eingebunden als auf der anderen Seite Graziani, der eher einen Linksaußen gab als einen linken Mittelfeldspieler.

Die Seleção in eine Formation pressen zu wollen, wird dem Spiel der Brasilianer indes nur bedingt gerecht. Grundsätzlich agierten Cerezo und Italien-Legionär Falcão als das Duo in der Spieleröffnung; Zico und Sócrates als jenes in der Spielgestaltung. Kapitän Sócrates ließ sich dabei immer wieder zurückfallen und holte sich die Bälle tief in der eigenen Hälfte. Zico kam dann gerne quer Richtung rechts vorne über das Feld und überließ hinter ihm für Linksverteidiger Júnior, der die Seitenlinie sehr oft verließ und in die Mitte zog. Der Mann am Flügel war dort eher Éder, Serginho – deutlich der schwächste Brasilianer und nur wegen einiger Verletzungen ins Team gerutscht war – der Mittelstürmer. Das sind allerdings eher nur vage Zuschreibungen: Das Spiel der Brasilianer basierte auf individuellen Ideen und großer Flexibilität im Positionsspiel.

Das Spiel in der sengenden Hitze von Barcelona begann für die Italiener ideal, weil sich die brasilianische Defensive weder um Conti kümmerte (der so leicht nach vorne kam), noch um Cabrini (der den Ball bekam und flankte), und auch Paolo Rossi in der Mitte gewähren ließ – nach fünf Minuten war der Außenseiter aus Italien mit 1:0 in Front. So brauchte Brasilien etwas, um ins Spiel zu finden, nachdem Sócrates dank eines sensationellen Doppelpasses mit Zico allerdings nur wenige Minute später das sehenswerte 1:1 markierte, schien alles den erwarteten Lauf zu nehmen.

Die Selção übernimmt

Und tatsächlich übernahm nun Brasilien deutlich die Kontrolle über das Mittelfeld. Cerezo und Falcão schalteten sich viel nach vorne ein, zudem verstärkte Júnior eben oft die Mittelfeldzentrale und beschäftigte so immer wieder italienische Spieler, was den Künstlern Zico und Sócrates Platz zur Spielgestaltung geben sollte. Sollte – denn in der Defensive standen die Azzurri sehr disizipliniert. Oriali nahm Éder aus dem Spiel, Serginho kam gegen Collovati überhaupt nicht zur Geltung, wodurch am Mittelfeld mehr Verantwortung hängen blieb.

Abgesehen vom Ausgleich war da von den beiden Stars aber wenig zu sehen. Sócrates ließ sich ob der Umklammerung von Gentile, wie erwähnt, immer wieder weit zurückfallen, um das Spiel selbst zu eröffnen und ein wenig Platz zu haben. Diese Lage entspannte sich erst, als Gentile die gelbe Karte sah (die ihn für ein mögliches Halbfinale sperren sollte) und sein körperliches Spiel etwas zurücknehmen musste. Danach aber hatten die Brasilianer kaum Probleme, das Spiel zu kontrollieren. Große Chancen kamen dabei aber nicht heraus.

Ehe hinten Bruder Leichtsinn zuschlagen sollte. Nach einem harmlosen Conti-Freistoß, der sichere Beute von Torhüter Valdir geworden war, ließ sich Cerezo in der Vorwärtsbewegung zu einem blinden Querpass in Richtung Júnior hinreißen – Rossi roch den Braten, spritzte dazwischen und ließ Valdir keine Chance. Das 2:1 für die Italiener, durchaus entgegen den Spielverlaufs, in der 25. Minute.

Unterschiedliche Herangehensweisen

Die konträren Spielanlagen wurden sehr deutlich. Auf der einen Seite ließ Telê Santana seine Mannschaft, grob gesagt, einfach drauflos spielen. Einen echten, einstudierten Plan gab es nicht und ganz offensichtlich auch keine echte Vorbereitung auf Basics. So drosch alleine in der ersten Hälfte Éder dreimal mit an die 30 Metern Anlauf Freistöße aus mittlerer Distanz brachial in die Mauer. Erst sein vierter Versuch in der 60. Minute sollte den Weg bis zu Zoff finden. Aber nicht an diesem vorbei.

Der Plan der Azzurri war da ausgeklügelter. Nachdem sie jeweils in Führung gegangen waren, zogen sich die Italiener etwas zurück und lauerten – vor allem in Person von Bruno Conti, für den sich bei der Seleção niemand zuständig fühlte – auf Gegenstöße. Dabei waren Oriali und Cabrini auf den Flanken durchaus beteiligt, auch Libero Scirea traute sich, sonst lief da aber wenig: Tardelli hatte explizit defensive Aufgaben; Antognoni (der viel horizontal verschob, aber wenig vertikal) und Graziani (der weit vorne postiert war, um Leandro zu binden) kamen erst in die Gleichung, wenn der Ball schon einigermaßen weit nach vorne getragen worden war.

Nach dem Rückstand zum 1:2 kamen die Südamerikaner ohne Ruhephase schnell wieder ins Spiel zurück, und die Italiener spielten nun schon nach einer halben Stunde ein wenig auf Zeit. Dennoch gab es bis zur Halbzeitpause nur eine echte, wirklich gefährliche Torchance der Brasilianer – und die war auch von Begleitumständen begünstigt. Collovati hatte sich verletzt, Bergomi war noch nicht eingewechselt, und Sócrates nützte den Raum für einen sehenswerten Kopfball, den Team-Opa Dino Zoff aber parieren konnte.

Anonsten füllten die Italiener den Strafraum an, sodass Zuspiele in die Spitze oder auch Flanken von Seiten der Brasilianer harmlos blieben und geklärt werden konnten. Womit das 2:1 auch der Pausenstand war.

Brasilien vorne immer stärker, aber hinten offen

Nach dem Seitenwechsel stellte sich das Spiel sehr ähnlich war. Falcão hatte gleich zu Beginn eine gute Chance, verzog aber knapp; auf der anderen Seite schloss Conti einen Konter mit einem verunglückten Außenristschuss etwas überhastet ab Kurz danach hätte es einen Elfmeter für Italien geben können – Rossi war im Strafraum zu Boden gegangen. Es blieb dabei: Brasilien hatte deutlich mehr vom Spiel, Italien blieb aber stets gefährlich. Eine dumme Situation für die Brasilianer, denn einerseits mussten sie den Ausgleich erzielen, andererseits durfte aber kein weiteres Gegentor kassiert werden. Denn ein 1:3 gegen diese humorlosen Italiener, soviel war klar, wäre nicht mehr aufzuholen.

Und die Seleção arbeitete daran. Ein Schuss des für einmal doch aufgerückten Leandro das Tor nur knapp (53.), dann rettete ein herausstürmender Zoff im letzten Moment vor Cerezo (55.). Überhaupt, Cerezo: Der 27-Jährige von Atletico Mineiro drehte in dieser Phase auf. Auch, weil Antognoni sich in der Pause offenbar einige harte Worte von Beazot anhören musste und sehr viel tiefer tieer, was Cerezo eine Ausflüge ermöglichte. Hinten brauchte es ihn schlicht nicht mehr. Und vorne hatte er auch Pech, wie bei seinem Pfostenschuss in der 62. Minute.

Deutlich war zudem zu sehen, dass er seinen schrecklichen Fehler, der zum 1:2 geführt hatte, wieder gut machen wollte. Er agierte als zusätzlicher Spielgestalter und zunehmend auch als zusätzliche Anspielstation im Strafraum. Dadurch waren Conti und Scirea hinten mehr gebunden, und Scireas Ausflüge zur Spieleröffnung wurden seltener – und die Italiener somit einer Offensivoption beraubt. Wodurch das Fehlen von Cerezo im defensiven Mittelfeld keine Auswirkungen hatte. Die Brasilianer schnürten die Squadra Azzurra in dieser Phase massiv in den eigenen Strafraum, die Bälle zur Mitte wurden immer gefährlicher und der Ausgleich zum 2:2 schien nur noch eine Frage der Zeit.

Bis Paolo Rossi in der 58. Minute aus einem schnellen Konter über Graziani das 3:1 erzielen hätte müssen, er von einer inexistenten brasilianischen Abwehr vergessen den Ball rechts am Tor vorbei schob. Was die teils erschreckenden Schwächen der offensiv so potenten Seleção brutal offen legte. Ehe sie sich doch noch für den Sturmlauf belohnte: Ausgerechnet Falcão, der bei der Roma spielte, nützte es mit einem Schuss aus 20 Metern aus, von keinem Italiener bedrägt zu werden. So stand es 22 Minuten vor Schluss doch 2:2, ein Resultat, das den Brasilianern für den Semifinal-Einzug gereicht hätte.

Rückzug? Nix da!

Aber sollte Telê Santana nun versuchen, mit seiner wackeligen Abwehr das Remis über die Zeit zu bringen? Sei es, weil er seiner Defensive nicht vertraute, oder weil er nicht das Standing hatte, Zico und Sócrates zum geordneten Rückzug zu bewegen – so oder so, die Brasilianer stürmten weiter, warfen fast alles nach vorne, um die Entscheidung zu suchen und das 3:2 zu erzielen. Und waren so hinten natürlich wiederum offen. Was in der 75. Minute den ersten Eckball für die Italiener brachte. Aus dem das 3:2 für die Azzurri fiel! Rossi fälschte einen Schuss von Graziani unhaltbar ab. Das dritte Tor von Rossi, der zuvor eher für die Skandale zuständig war als für die Tore…

Wurde das frühe 0:1 nach einigen Minuten weggesteckt und hatte das 1:2 keine Auswirkungen auf die Psyche der Brasilianer, brach ihnen das 2:3 dafür das Genick. Dem Vertrauen auf die individuelle Genialität wich nun die pure Panik, als klar besser besetztes Team auszuscheiden. Und Panik ist kein guter Ratgeber, vor allem dann nicht, wenn es keinen echten Matchplan gibt. Die Seleção, das wurde schnell deutlich, war mit dem dritten Gegentor im Grunde geschlagen. Sie hatte zwar das Glück, dass die Italiener die exzellenten Konterchancen, die sich ihnen nun boten, nicht nützten bzw. diese von Tamsun Chan, dem Linienrichter aus Hongkong, auf eher abstruse Art und Weise unterbunden wurden – das Abseits, das er bei Antognonis vermeintlichem 4:2 in der 87. Minute anzeigte, sah Chan exklusiv.

Die letzte Hoffnung war nun nur noch ein Lucky Punch. Fast wäre dieser Leandro mit seinem wuchtigen Kopfball in der 89. Minute sogar noch geglückt, aber Zoff konnte den Ball festhalten. Und somit den 3:2-Sieg seiner Mannschaft.

Die Nachwirkungen

Jonathan Wilson schrieb in einem Standardwerk „Inverting The Pyramid“ über dieses Spiel: „Es war der Tag, an dem eine gewisse Naivität im Fußball starb; der Tag, nach dem es nicht mehr möglich war, einfach die elf besten Spieler aufzustellen und sie machen zu lassen; der Tag, an dem das System gewonnen hat.“

Für Brasilien stellt „A Tragédia do Sarriá“, die Tragödie von Sarriá, bis heute (neben der gegen Uruguay 1:2 verlorenen Heim-WM 1950) die größte sportliche Katastrophe überhaupt dar. Die Mannschaft von 1982 wird von vielen bis heute als die eigentlich beste Seleção aller Zeiten gesehen. Teamchef Telê Santana wurde umgehend gefeuert, bekam aber für die WM 1986 eine zweite Chance – und vermasselte auch diese, als im Viertelfinale gegen Michel Platinis Franzosen Endstation war. Jener vierte WM-Titel, den sich eigentlich Sôcrates und Zico 1982 mit Glanz und Gloria abholen sollten, wurde erst 1994 nachgeholt. Passenderweise wiederum gegen Italien. Mit einem eher rigiden Defensiv-Konzept und einem entmachteten Kapitän Raí – dem kleinen Bruder von Sócrates.

Die Italiener schlugen im Semifinale Polen mit 2:0 und hatten im Finale gegen die Deutschen den entscheidenden Vorteil, selbst nicht wie der Gegner im Halbfinale in Verlängerung und Elfmeterschießen Kraft und Nerven zu lassen, und hatten noch dazu einen Tag länger Pause. So ging Deutschland in der zweiten Hälfte des Finale schlicht die Luft aus und Bearzots Italiener kamen zu einem sicheren 3:1-Sieg.

Bearzot, der „Schweiger aus dem Friaul“, blieb weiterhin Teamchef der Squadra Azzurra, die nach dem Titel aber den hohen Level nicht halten konnte. In der Qualifikation für die Euro1984 wurde nur ein einziges von acht Spielen gewonnen, nur Zypern hinter sich gelassen und die Endrunde so mit Pauken und Trompeten verpasst. Bearzot hatte durch den Titel genug Kredit, sogar nach dieser unfassbaren Peinlichkeit im Amt bleiben zu dürfen. Nach dem Turnier 1986 in Mexiko aber – wo nach einer müden Vorrunde das Aus im Achtelfinale kam – war die dann elfjährige Amtszeit vorbei.

Bis zu seinem Tod am 21. Dezember 2010 hat Bearzot nie wieder ein Fußballteam trainiert. In Italien wurde er bis zum Schluss ehrfürchtig „Il Vecchio“ bzw. „Vecio“ genannt, der Alte. Enzo Bearzot wurde 83 Jahre alt.

Das Personal

Italien: Dino Zoff (40, Juventus); Gabriele Oriali (29, Inter), Fulvio Collovati (25, Milan), Gaetano Scirea (29, Juventus), Antonio Cabrini (24, Juventus); Bruno Conti (27, Roma), Marco Tardelli (27, Juventus), Giancarlo Antognoni (28, Fiorentina), Claudio Gentile (28, Juventus), Francesco Graziani (29, Fiorentina); Paolo Rossi (25, Juventus). Giuseppe Bergomi (18, Inter), Giampiero Marini (31, Inter). Teamchef: Enzo Bearzot (54, seit sieben Jahren).

Brasilien: Waldir Peres (31, FC São Paulo); Leandro (23, Flamengo), Oscar (27, FC São Paulo), Luízinho (23, Atl. Mineiro), Júnior (25, Flamengo); Cerezo (27, Atl. Mineiro), Falcão (28, Roma); Zico (29, Flamengo), Sócrates (28, Corinthians); Éder (25, Atl. Mineiro), Serginho (28, FC São Paulo). Paulo Isidoro (28, Grêmio Porto Alegre). Teamchef: Telê Santana (50, seit zwei Jahren).

Aus der Reihe “Ballverliebt Classics”:
06.09.1997 | Österreich – Schweden 1:0 (Höhepunkt der ÖFB-Generation Frankreich)
16.05.2001 | Liverpool – Alavés 5:4 n.V. (Europacup-Final-Allzeit-Klassiker)

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Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.