Der komplett in Rot-Weiß-Rot gehüllte Fan-Block neben dem Marathontor, davor auf dem Feld die ÖFB-Spieler, Schulter an Schulter. Und durch das sonnenüberflutete Olympiastadion tönt Rainhard Fendrichs halb melancholisches, halb trotziges „I Am From Austria“. Momente, die eingehen werden in die Geschichte des österreichischen Fußballs, Minuten nach dem 3:2 gegen das Team der Niederlande und dem damit eingefahrenen Gruppensieg.
Erstmals seit 46 Jahren, der WM in Argentinien, beendet Österreich die Vorrunde eines großen Turnieres als Erster, überhaupt erst zum fünften Mal nach 1954, 1978, 1982 und 2021 hat das ÖFB-Team die erste Phase eines Turnieres überstanden. Wie kam das – und was heißt das?
Das Erreichen des Achtelfinales stand de facto schon vor dem Spiel fest, nur eine 0:5-Niederlage hätte Österreich noch einmal in Gefahr gebracht. Wohl auch deshalb rotierte Ralf Rangnick: Laimer und Baumgartner blieben wie Mwene draußen, dafür kamen Schmid (rechts) und Wimmer (links) ins Spiel, Alexander Prass startete als Linksverteidiger, Sabitzer auf der Zehn. Wöber bekam den Vorzug vor Danso um jenen Platz in der Innenverteidigung, den gegen Polen noch Trauner besetzt hatte.
Niederlande, Mekka der Mittelfeld-Manndeckung
Bondscoach Ronald Koeman setzt eine Tradition fort, die das Oranje-Team seit nunmehr einem Jahrzehnt prägt: Manndeckung im Mittelfeld. Veerman kümmerte sich um Grillitsch, Reijnders sollte die Ballgewinne von Seiwald verhindern, Schouten dackelte Sabitzer nach. Gegner mit dieser Strategie waren 2016 für Österreich ein großes Problem, Holland hielt damit auch Frankreich in Schach, Rangnicks ÖFB-Team lachte da aber nur darüber. Aus mehreren Gründen.
Zum einen neigte Hollands Rechtsaußen Donyell Malen zum Einrücken, wohl weil er dort Überzahl herstellen sollte. Das ergab aber schon in den ersten Minuten extreme Räume für Prass. Der Oberösterreicher, der bei Sturm eigentlich den offensiven Achter spielt, ist ein sehr vertikaler Spieler, schnörkellos, kein ballhaltender Trickser wie Mwene (dessen Stärken in der ersten Hälfte gegen Polen ideal zum Tragen kamen), sondern mit direktem Zug zum Tor. Es dauerte keine sieben Minuten, bis Malen eine Hereingabe des ihm gnadenlos entwischten Prass ins eigene Tor zum 1:0 für Österreich ablenkte.
Hollands fehlende Pressingresistenz
Zum anderen, weil Österreich das Mittelfeld eigentlich gar nicht zum Aufbau braucht – in Wahrheit ist es dem ÖFB-Team sogar lieber, nicht durch diese Zone kreieren zu müssen. So banden sich die Niederländer genau in jener Zone selbst, über die Österreich mit Freuden die Bälle direkt von der Abwehr in die vorderste Linie drüber hob. Und dort kam der nächste Aspekt im österreichischen Spiel zum Tragen, mit dem der Gegner nicht umgehen konnte: Das Angriffs- und Gegenpressing.
Im Angriffsdrittel liefen die Österreicher sofort die holländische Abwehr an, um zweite Bälle zu gewinnen bzw. die Passrouten zuzustellen. Die Niederländer kamen überhaupt nicht dazu, selbst einen geregelten Aufbau zu starten, die ins Zentrum gespielten Bälle waren sofort verloren. Joey Veerman wurde nach seinem 19. Ballverlust (!!!) in 32 Minuten ausgewechselt. Der arme Kerl war nicht gut, aber er war auch ein Opfer des übergeordneten holländischen Problems. Das ist die komplett fehlende Pressingresistenz.
Nun sind Vigil van Dijk und vor allem Nathan Aké von Liverpool bzw. Man City diesem Spielstil keineswegs fremd, dennoch war es auch ihnen nicht möglich, einen Pass anzubringen, wenn sie angelaufen wurden – einfach weil die Strukturen dafür im Positionsspiel bei Oranje überhaupt nicht da waren. Der Einsatz von Lutsharel Geertruida, der stärker auf das Passspiel setzt als Linienläufer Denzel Dumfries, spielte Österreich noch zusätzlich in die Karten.
Österreich setzte extrem konsequent auf dieses erprobte Mittel, selbst Grillitsch schob situativ weit in den Zehnerraum nach vorne, um Holländer anzulaufen.
Mit Simons nach der Pause direkter
Mit ihrer ersten eigenen Aktion nach Beginn der zweiten Hälfte kamen die Niederländer in Folge eines schnellen Gegenstoßes nach Ballgewinn am eigenen Sechzehner zum 1:1-Ausgleich. Die Situation sollte symptomatisch sein für den adaptierten Zugang. Simons, ein offensiver Trickser, war ja nach einer halben Stunde für den indisponierten Veerman gekommen, nun entfaltete er Wirkung.
Anstatt sich im Zentrum in Zweikämpfen aufzureiben, versuchte sich Simons im Zwischenlinienraum anspielbar zu halten und den Ball dann schnell auf Depay oder Malen durchzustecken. Österreich bekam zunächst keinen Zugriff auf den gedankenschnellen Simons und Oranje hatte nach dem Ausgleich zunächst klare Vorteile – bis Österreich den Rhythmus brach. Erst sorgte eine Behandlung für Pentz für eine längere Unterbrechung, dann rückte die holländische Verteidigung bei einem österreichischen Befreiungsschlag nur behäbig nach hinten, was Romano Schmid mit dem 2:1 bestrafte.
Und dann gab es eine Verzögerung durch Konfusion beim österreichischen Dreiertausch drei Minuten später, was den Holländern zusätzlich sichtbar auf die Nerven ging.
Koeman schiebt herum
In der Folge schüttelte Koeman seine Formation herum, ohne dass zunächst viel Ziel dahinter erkennbar gewesen wäre. Van de Ven kam als neuer Linksverteidiger statt Aké, er blieb in der Abwehrkette, während rechts Geertruida in den Sechserraum einschob. Wijnaldum (statt Reijnders) kam als neu in die Offensive, die Abstimmung mit Simons (dessen höhere Rolle als De-facto-Zehner im Zwischenlinienraum eben für große Belebung gesorgt hatte) war aber schlecht und in den folgenden Minuten konnte keiner der beiden große Wirkung entfachen – und Malen stand rechts etwas verloren herum. Erst als Malen angeschlagen raus musste und Strafraum-Leuchtturm Weghorst auf das Feld kam, war wieder sowas wie eine sinnvolle Ordnung zu erkennen.
Neben der Dreierkette ließen sich Simons und Gakpo ganz tief fallen, um in den freien Raum hinein Tempo aufnehmen zu können. Wijnaldum und Depay schließlich spielten hinter Weghorst, der sofort im Spiel war: Bei einer Flanke auf ihn gewann er den Kopfball gegen Wöber, die Ablage fand Depay, der zum 2:2 in der 75. Minute traf.
Mit den noch relativ frischen Baumgartner und Laimer hielt Österreich aber im Zentrum gegen das umformierte holländische Mittelfeld gut dagegen und sie waren in ihren Aktionen auch geradliniger, zielstrebiger – wie kaum zwei Minuten nach Wiederanpfiff, als ein Lochpass von Baumgartner den hinter die Kette gelaufenen Sabitzer fand, Van Dijk das Abseits aufhob und Sabitzer das postwendende 3:2 für Österreich erzielte. Kurz darauf war er bei einer sehr ähnlich Aktion dann doch im Abseits.
Die Niederländer warfen in der Schlussphase alles nach vorne und packen die Brechstange aus, Weghorst war der Zielspieler im Strafraum – aber Österreich hielt auch in der berechtigterweise üppigen Nachspielzeit dicht und war damit Gruppensieger …
Vieles erinnert an 2017
… weil zeitgleich Frankreich gegen Polen nicht über ein 1:1 hinaus gekommen ist. Es erinnert vieles an Österreichs Frauen bei deren EM 2017. Zum einen, was die immer breiter werdende Brust angeht, den Flow, in den sich das Team gespielt hat, die Welle, auf der es reitet. Dazu kam bzw. kommt der überbordende Teamgeist und die freche, gute Laune, die der aufmüpfige und taktisch perfekt gedrillte Außenseiter verbreitet und das erbarmungslose Niederpressen des Gegners – damals in Spielen gegen Teams auf Augenhöhe, nun immer.
Auch der Turnierverlauf lässt Parallelen erkennen. Einem erkämpften Sieg, der die Möglichkeit zum Aufstieg eröffnete (damals das 1:0 gegen die Schweiz, jetzt das 3:1 gegen Polen) folgte ein starkes Spiel gegen ein zumindest auf dem Papier starkes Team (damals das 1:1 gegen Frankreich, jetzt dieses 3:2 gegen Holland). Damals kam danach ein Match gegen einen vermeintlich machbaren Kontrahenten, das extrem souverän und ohne jedes Drama 3:0 gewonnen wurde. Das war damals Island, das wäre nach dieser Rechnung nun die Türkei.
Überspringen die Männer am Dienstag in Leipzig diese Hürde, stünden sie wie damals die Frauen im Viertelfinale, mutmaßlich wieder gegen die Niederlande, oder aber gegen Rumänien. 2017 bog Österreich das Match im Elfmeterschießen, stand sensationell im Halbfinale, wo die Tanks dann aber leer waren.
Wie gefährlich ist die Türkei?
Aber halt, eines nach dem anderen. Erstmal die Türkei. Die Türken haben Georgien mit zwei wunderlichen Weitschüssen und viel Mühe gebogen, dann war Portugal einfach eine Nummer zu groß, ehe man sich von dezimierten Tschechen auf eine hitzige Treterei runterziehen ließ und diese gerade noch überlebte – allerdings nicht, ohne Kapitän Hakan Çalhanoğlu und Innenverteidiger Samet Akaydin durch Gelbsperren zu verlieren.
Die Türken sind ein Team, das spielen will. Nicht nur der schmächtige Jungspund Arda Güler ganz vorne, auch die Flügelspieler Barış Alper Yılmaz und Kenan Yıldız und natürlich der nach vorne marodierende Linksverteidiger Ferdi Kadıoğlu. Das 6:1 vom März darf man nicht wirklich als Vergleichswert zu Rate ziehen, der Kontext war ein anderer, das Personal teilweise auch, und das Spiel war auch viel enger, als das deutlich zu hohe Resultat aussagt.
Sehr wohl aber lässt sich sagen, dass Österreich in Bombenform und relativ entspannt daherkommt, während die Türken eine aufreibende Gruppenphase hinter sich haben, ihre übliche Spielweise das perfekte Opfer für Österreichs robustes Angriffs- und Gegenpressing darstellt und der Kopf des Teams nicht mitmachen darf.
Kulturwandler Ralf Rangnick
Es fällt angesichts der letzten Tage tatsächlich schwer, glaubhaft einen Schritt zurück zu machen, die Situation als Ganzes zu betrachten und nüchtern auf dieses Achtelfinale zu blicken. Zumindest uns Beobachtern. Weite Teile der Fanbasis sehen das ÖFB-Team schon zumindest im Halbfinale – und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es aus heimischer Sicht nicht ganz ungünstig ist, wie sich Favoriten und Außenseiter auf die beiden Turnier-Äste verteilen.
Wie man Team und Stab zuletzt erlebt hat, darf aber die Sicherheit vermitteln, dass die dort in ihrer Basis in Berlin die Lage sehr wohl richtig einschätzen können. Das ist Rangnicks Verdienst, und auch er selbst scheint sich in den letzten zwei Jahren ein wenig verändert zu haben – zumindest ist das der Eindruck, den man als Außenstehender bekommt. Er wirkt nicht mehr so professoral wie früher, es menschelt mehr. Rangnick hat erkannt, wie wichtig das „Man Management“ in einem Teamchef-Job bei einem Nationalteam ist. Die Spieler fühlen sich auf der persönlichen Ebene verstanden, sie fühlen sich in seiner Spielweise wohl und kommen gerne zum Team. Das merkt man.
Die Hitze des Gefechts eines solchen Turniers – vor allem eines EM-Turniers, das aus österreichischer Sicht so emotional verläuft wie dieses – sind die Momente, in denen die in den letzten Jahren ausgebrachte Saat geerntet wird. Wie weit es noch geht? Es ist nicht egal, natürlich nicht. Aber was immer auch noch kommen mag, nicht nur gefühlt ist dies das tollste ÖFB-Team seit 1978, sondern nun auch verbrieft.
Als erster Gruppensieger bei einem Großturnier seit eben jener WM in Argentinien.