Willkommen am Ende der Welt: Die Millionencity Auckland und die erstaunlich kleine Hauptstadt Wellington sowie das dazwischen liegende, etwas nichtssagende Hamilton und das beschauliche Dunedin auf der Südinsel sind die Heimat der WM-Gruppen A, C, E und G.
Neben dem kleinen Co-Gastgeber Neuseeland (auf Maori: „Aotearoa“) absolvieren hier beispielsweise Titelverteidiger USA, dessen 2019er-Finalgegner Holland, die Ex-Weltmeister Japan und Norwegen sowie die Olympia-Silbernen aus Schweden und der ewige Geheimfavorit Spanien ihre Vorrunden-Spiele. Was können diese Teams und ihre vermeintlich kleinen Gegner?
Gruppe A: NZL, NOR, SUI, PHI
15 Spiele bei fünf WM-Endrunden, kein einziges davon hat Neuseeland gewonnen. Elf Testspiele haben die Football Ferns seit letztem Oktober absolviert – und bis zum 2:0 gegen Vietnam im allerletzten Probegalopp auch kein einziges davon gewonnen. Der Co-Gastgeber schlingert der WM entgegen und nichts scheint darauf hinzudeuten, dass man eine positive Überraschung abliefern könnte. Nur warum?
Der Spielerpool ist naturgemäß relativ klein (Neuseeland hat nur knapp mehr als halb so viele Einwohner wie Österreich), die abgeschiedene geographische Lage macht die Sache nicht leichter. Nach ein paar Glücksgriffen auf der Trainerposition – John Herdman, später Coach von Kanadas Frauen und Männern) und Tony Readings (bei denen man 2012 und 2016 bei Olympia jeweils ein Spiel gewann, in London sogar ins Viertelfinale einzog) – griff man zweimal ins Klo: Erst mit Andi Heraf, der ultra-defensiv spielen ließ und menschlich nur verbrannte Erde hinterließ, und dann Tom Sermanni, der den Trümmerhaufen engagiert zusammen kehrte, ehe ihn 2019 bei der WM komplett der Mut verließ.
Jitka Klimková ist nun mit dem Vorhaben angetreten, aggressiven und initiativen Fußball zu zeigen, sie will von ihrem Team Pressing sehen. Sie hat bisher aber weder ein Stamm-System gefunden (mal 4-4-2, mal 5-3-2) und personell hat sie viel ausprobiert, aber es konnte sich kein Kern aus gesetzten Spielerinnen eingrooven. Irgendwie wird man gegen die Philippinen gewinnen müssen, um die WM nicht völlig zum Fehlschlag werden zu lassen; ein Achtelfinal-Einzug wäre ein kleines Wunder – obwohl man durchaus in der Lage ist, zumindest eine vernünftige erste Elf aufzubieten.
Klarer Favorit der Gruppe A ist Norwegen. Vor einem Jahr ist man nach 2017 schon wieder bei einer WM in der Vorrunde rausgeflogen, wieder auf blamable Art und Weise (2017 ohne eigenes Tor, 2022 mit einem 0:8 gegen England und der folgenden Niederlage gegen Österreich). Das Mittelfeld im 4-4-2 war trotz prominenter Besetzung eine kreativ-tote Zone, die Abwehr wurde überrannt, der Angriff konnte kaum eingebunden werden.
Nun hat Hege Riise – wichtiger Teil der Weltmeister-Mannschaft von 1995 – das Traineramt übernommen und sie hat an ein paar Stellschrauben gedreht. Um die langsame bzw. international teilweise unroutinierte Abwehr zu schützen, wurde ein 4-1-4-1 etabliert, in dem die beiden Ketten gegen den Ball sehr eng zusammenschieben können. Im Ballbesitz können Maanum und Reiten ihre Stärken (Gefühl für Räume, Spiel lesen können, exakte Pässe ins Angriffsdrittel) ausspielen. Die Offensive ist nominell mit das Beste, was der Frauenfußball aktuell hergibt. Norwegen muss sie nur eingesetzt bekommen und dabei die Achillesferse, die Abwehr, nicht allzu sehr entblößen. Die Gruppe darf kein Problem sein, der Scharfrichter wartet in Form von Japan oder Spanien im Achtelfinale.
Auf dem Papier ist die Schweiz das zweibeste Team der Gruppe. Die frühere DFB-Torjägerin Inka Grings hat das Traineramt vom glücklosen Nils Nielsen übernommen, der Kader hat einige stabile Spielerinnen zu bieten (Wälti und Maritz von Arsenal, die routinierten Crnogorcevic von Barcelona bzw. Bachmann von PSG) – aber das Potenzial der Nati war in der Vergangenheit schon mal größer. Praktisch in allen Mannschaftsteilen fehlt die Kadertiefe und vor allem der Nachwuchs. Bis auf Lehmann (24) und Reuteler (24) hat niemand, der nicht schön langsam auf die 30 zugeht, auch nur annähernd so etwas wie ein internationales Profil aufbauen können.
Beim vierten Team der Gruppe wird eigentlich Etikettenschwindel betrieben. Denn es steht zwar „Philippinen“ drauf, hat mit dem Land aber nicht so sehr viel zu tun. Es wird alles angefragt, was an US-Colleges auf halbwegs ambitioniertem Niveau Fußball spielt bzw. gespielt hat und über philippinische Vorfahren verfügt. So kommt es, dass im 23-köpfigen Kader nur eine einzige echte Filipina steht (Anicka Castañeda), dafür 18 US-Amerikanerinnen, dazu zwei aus Norwegen und je eine aus Kanada und Australien. Von Down Under kommt auch der Trainer, Alen Stajcic, lange recht erfolgreich australischer Teamchef.
Man kann schon der Meinung sein, dass ein solches Team das komplette Konzept von Nationalteams ad absurdum führt. Es ist eher ein Sammelsurium aus Glücksrittern, die nach dem Studieren in fußballerischer Mission die Welt sehen. Im besten Fall sind sie Reservist in der A-League oder Stamm bei norwegischen oder schwedischen Mittelständlern, zumeist aber doch in Island und Serbien oder zweitklassig (wenn überhaupt) in Norwegen, Australien und Deutschland. Natürlich ist es die Ambition, mit der WM-Teilnahme auch den inexistenten Stellenwert des Frauenfußballs in den Philippinen zu erhöhen, für die Spielerinnen selbst ist sie aber eher ein unverhofftes Abenteuer.
Vor fünf Jahren war man schon im entscheidenden Playoff, verlor dies 0:5 gegen Südkorea. Diesmal machte es ein glücklicher Turnierverlauf beim Asiencup möglich, dass ein 1:0 gegen Thailand und ein Sieg im Elfmeterschießen gegen Taiwan zur WM-Teilnahme reichten.
Gruppe C: ESP, JPN, CRC, ZAM
Spaniens Fußballerinnen sind geduldig und lassen sich viel Gefallen. Aber irgendwann kommt der Punkt, wo es einfach reicht. Im Jahr 2015 schaffte man es, mit einer (von der spanischen Öffentlichkeit breit unterstützten) Streik-Drohung Teamchef Ignacio Quereda endlich zum Teufel zu jagen. Quereda, ein alter Miesepeter, war cholerisch, letztklassig im menschlichen Umgang, dazu kein besonderes guter Trainer und in der Freunderlwirtschaft des spanischen Verbandes de facto pragmatisiert.
Sieben Jahre später reichte es 15 Spielerinnen mit Queredas Nachfolger Jorge Vilda. Dieser entwickelte sich immer mehr zum unausstehlichen Kontrollfreak, der schon mal die Koffer seiner Spielerinnen durchsucht und nachts um 1 Uhr durch die Hotelzimmer schleicht, um zu kontrollieren, ob eh alle schlafen. Gleichzeitig dürfte aber auch er kein besonders cleverer Trainer sein: Während die spanischen Junioren-Teams und auch der FC Barcelona den europäischen Fußball immer mehr dominieren, hat Vilda in drei Großturnieren niemals eine K.o.-Runde überstanden.
Als sich „Las 15“ – Paños, Gallardo, Ainhoa, Pereira, Aleixandri, Mapi León, Ouahabi, Batlle, Guijarro, Lucía García, Caldentey, Bonmatí, Pina, Eizagirre und Sarriegi – letztes Jahr gegen Vilda auflehnten, blieb der Verband aber stur, die Gruppe (die meisten aus dem Dunstkreis des FC Barcelona) zog durch. Die Front bröckelte in den letzten Wochen zwar, aber nur drei von Las 15 sind bei der WM dabei – die drei, die sportlich kaum verzichtbar sind: Bonmatí, Batlle und Caldentey.
Wie hat sich Spanien inhaltlich verändert? In Nuancen, aber schon sichtbar: Immer noch mit viel Ballbesitz, aber ohne aggressives Angriffs- und Gegenpressing. Bei Ballverlust ziehen sich die Außenstürmerinnen (ganz ähnlich wie bei den U-21-Burschen, die gerade im EM-Finale waren) relativ weit zurück. So soll der Gegner gelockt und nach Ballgewinn das Tempo angezogen werden, vor allem über Paralluelo, die dann mit Geschwindigkeit aus der Tiefe kommt. So gab es in der Vorbereitung Siege gegen Dänemark, Norwegen und China, so war man aber Australien inhaltlich recht deutlich unterlegen.
Wo Spanien hin will, ist Japan 2011 schon gewesen – nämlich beim Feiern des WM-Titels. Mit Saki Kumagai, die damals den entscheidenden Elfmeter im Finale versenkt hat, ist nur noch eine einzige Weltmeisterin übrig und auch rund um sie herum ist zwei Jahre nach dem verhackten Heim-Turnier bei Olympia nicht viel von jenen Attributen zu sehen, welche die Nadeshiko damals zum (neben der USA) bestimmenden Team der frühen 10er-Jahre machte.
Futoshi Ikeda, der nach Olympia von Asako Takakura das Traineramt übernommen hat, vertraut auf ein 5-2-3-System, in dem vorne wie in besten Zeiten auf Angriffspressing gespielt wird und hinten im Zweifel eine Fünferabwehr mit vier Leuten davor die Räume eng macht. Beides funktioniert für sich gesehen eh ganz okay, der Teufel steckt im Detail. Denn das Spiel nach vorne – und vor allem jenes im Angriffsdrittel – ist auch nach anderthalb Jahren unter Ikeda oft sehr stückwerkig unterwegs.
Schon unter Takakura wechselte Japan, je nach Tagesform, auf irritierende Weise zwischen Weltklasse und Komplett-Implosion. Auch jetzt gibt es phasenweise gute Aktionen und vielversprechende Ansätze, ehe die Offensive dann aber doch wieder nichts zu Wege bekommt. Die Liste der Niederlagen in der Vorbereitung ist lang: Dänemark, USA, Brasilien, Spanien, England – in diesen fünf Matches zusammen erzielten die Nadeshiko nur ein einziges Törchen.
Alle Probleme und Sorgen dürfen aber sowohl bei Spanien als auch bei Japan nicht zum Vorrunden-Aus führen. Aus dieser Gruppe müssen beide Teams selbst mit verbundenen Augen rauskommen, alles andere wäre eine massive Blamage. Die Mannschaft aus Costa Rica, nach dem äußerst unglücklichen Verpassen der Endrunde von 2019 nun zum zweiten Mal nach 2015 dabei, versteht sich als „Best of the Rest“ aus der Concacaf-Zone hinter den USA und Kanada, und betrachtet man den Kollaps von Mexiko (für 2019 auf ähnlich bescheuerte Weise wie die Ticas gescheitert, diesmal mit Pauken und Trompeten), ist das womöglich sogar tatsächlich so.
Nur: Es fehlt in allen Bereichen ein bisschen. Die Costaricanerinnen sind technisch okay, aber nicht sehr gut. Sie sind ausgeglichen besetzt, bis auf Rocky Rodríguez von NWSL-Topklub Portland Thorns aber eben ausgeglichen mäßig, zumal ohne Shirley Cruz-Traña (früher Lyon, PSG und Seattle) – die 37-Jährige wurde nicht mehr berücksichtigt. Sie sind defensiv ganz ordentlich, aber chronisch ohne Punch im Angriffsspiel. Sie sind von Amelia Valverde, die kurz vor der WM 2015 als damals 28-Jährige kurzfristig eingesprungen ist und die Ticas noch heute betreut, oft geschickt eingestellt, aber oft auch ein bisserl zu konservativ.
Das kann man über Sambia definitiv nicht sagen. Als Debütant auf der Weltbühne trafen die Copper Queens vor zwei Jahren bei Olympia dreimal gegen Holland und viermal gegen China, sie spielen Hurra nach vorne, mit der schnellen Barbara Banda, die auch beim sensationellen 3:2-Testsieg in Deutschland zweimal getroffen hat. Aber defensiv, ja defensiv! Denn die Spiele bei Olympia endeten 3:10 (!!!) und 4:4, wie sich Sambia hinten anstellt, changiert zwischen liebenswert naiv und chaotisch katastrophal. Es gab im Vorfeld je drei Gegentore von der Schweiz und Irland und zweimal fünf gegen Südkorea. Gegen Deutschland war’s zuletzt viel besser, aber wenn es hart auf hart kommt, muss Sambia das erst einmal bestätigen, zumal Einsergoalie Hazel Nali verletzt wenige Tage vor der WM die Segel streichen musste.
Und auch hier gibt es ein verstörendes Thema abseits des Platzes. Teamchef Bruce Mwape, unter dem Sambia fraglos große Schritte nach vorne gemacht hat, sieht sich mit Vorwürfen der sexuellen Nötigung konfrontiert. „Wenn er mit jemandem schlafen will, muss man zustimmen“, wird eine Spielerin anonym im Guardian zitiert, „es ist völlig normal, dass er mit den Spielerinnen Sex hat!“ Der sambische Verband hat sich hinter den 63-jährigen Teamchef und droht mit Strafen, sollte sich jemand öffentlich äußern. Angesichts dessen ist zumindest zweifelhaft, wie seriös man bei den Ermittlungen der sambischen Behörden hilft und wie seriös diese überhaupt ermitteln.
Gruppe E: USA, NED, POR, VIE
Mallory Swanson, geborene Pugh, in starker Form – Patellasehne gerissen. Routinier Christen Press und die als Wunderkind gefeierte Catarina Macario – Kreuzband. Kapitänin Becky Sauerbrunn und Abby Dahlkemper, die Weltmeister-Innenverteidigung von 2019 – beide verletzt. Die „Nutmeg Queen“ Tobin Heath und die stets verlässliche Sam Mewis – beide mit kaputtem Knie out.
Es spricht für das Reservoir bei Titelverteidiger USA, dass trotz der langen Verletztenliste prominente Namen daheim bleiben müssen. Das betrifft etwa den derzeit beste Sechser der NWSL, Sam Coffey von Portland, aber auch die formstarke Stürmerin Ashley Hatch. Savannah DeMelo, die im Frühjahr groß aufspielte, darf nur wegen der vielen Verletzungen mitfahren, echte Chance auf Einsätze hat sie nicht. Mehr als die Joker-Rolle wird auch Trinity Rodman – die Tochter von Dennis Rodman hat als Rookie 2021 Washington aus dem Nichts zum Titel geschossen – nicht bleiben, ebenso wie für die zuletzt viel von Blessuren geplagte Megan Rapinoe, die ihr Karriereende angekündigt hat und wohl eher dank ihrer Persönlichkeit als ihrem sportlichen Wert mitfährt.
Das äußerst holprige Olympia-Turnier hat das bis dahin einwandfreie Image von Teamchef Vlatko Andonovski spürbar ramponiert, die lange Verletztenliste und die streckenweise eigenwillige Einberufungspolitik setzen den Trainer nun zusätzlich unter Druck. Der Nimbus der Unbesiegbarkeit ist weg. Die missglückten taktischen Kniffe von Tokio hat er seither wieder in die Schublade gesteckt, das System ist wieder ein klares 4-3-3 und die meisten Positionen scheinen recht klar besetzt zu sein.
Die größte Problemposition ist die Abwehr. Naomi Girma war eine der ganz großen Entdeckungen der letzten NWSL-Saison, sie ist auf jeden Fall gesetzt, aber auch mit ihr fehlt etwas die Phantasie in der Spieleröffnung. Neben ihr ist Cook eine Notlösung, Fox bestenfalls internationaler Durchschnitt, Huerta und Sonnett bekamen im Team nie eine echte Chance, Dunn ist eine umfunktionierte Stürmerin.
Sobald die Amerikanerinnen den Ball im Angriffsdrittel haben, können sie ihre individuelle Klasse aber ausspielen. Horan deckt von der Sechs bis zur Zehn alle Positionen ab, kann aus der Tiefe nachrücken; der Torriecher von Alex Morgan ist legendär, der von Sophia Smith zumindest auf nationaler Ebene ebenso. Das Angriffspressing aus Andonovskis Anfangstagen als US-Teamchef ist eher einem gezielten Gegenpressing gewichen. Die Offensive des USWNT ist nicht immer künstlerisch wertvoll, aber das Resultat ist in den Staaten ohnedies wichtiger als die B-Note.
Selbstredend gehört der Rekord-Titelträger auch 2023 zu den großen Favoriten. Ein Verpassen des Titels wäre in den USA eine Enttäuschung, ein Halbfinal-Aus würde schon tendenziell als Blamage betrachtet und ein noch früheres Aus hätte wohl ein wildes Erdbeben zur Folge. Aber so wie 2019, als immer klar war, dass sich das US-Team nur selbst schlagen kann, ist es längst nicht mehr.
„Es geht nicht um das System, es geht darum, wie wir unsere Spielweise bestmöglich umsetzen können“, sagte Andries Jonker. Der einstige Van-Gaal-Assistent hat nach der schwachen EM letztes Jahr Mark Parsons als Trainer von Vize-Weltmeister Niederlande abgelöst, sich mit wechselndem Erfolg die Lage betrachtet (Last-Minute-Sieg gegen Island zum direkten WM-Ticket, 2:0 in einem Test gegen Dänemark, aber auch Niederlagen gegen Norwegen und Österreich) und sich danach entschieden, dass die Raumaufteilung eine andere sein muss als beim übrlichen 4-3-3/4-2-3-1-Hybrid.
Von der Idee her ist das 5-3-2, das er im Frühjahr eingeführt hat, eher ein 3-3-4, denn die beiden Wing-Backs – normalerweise Pelova rechts und Brugts links – sind nichts anderes als gelernte Flügelstürmerinnen, die auch wirklich sehr hoch schieben sollen. Die Änderung im System mag auch eine Reaktion auf den Kreuzbandriss von Einser-Stürmerin Vivianne Miedema sein, denn eine Spitze mit annähernd so großer Torgefahr hat Jonker einfach nicht mehr im Köcher. Also geht es darum, anders für die Strafraumbesetzung und den Weg in die Box zu sorgen.
Im kontrollierten Aufbau folgt so gut wie immer der Ball auf die Außenbahnen, im Idealfall schafft dies im Zentrum Platz für Roord und Van de Donk: Jonkers Vorgänger Parsons hatte keine Möglichkeit gefunden, die beiden Spielerinnen, die sich als zentral-offensive Achter-Zehner-Hybride am wohlsten fühlen, gewinnbringend als Duo einzubauen. Nämlich, indem er Jackie Groenen opfert – wenn, spielte diese zuletzt statt Egurolla als offensivere Besetzung auf der Sechs.
Mit den konsequenten Verlagerungen auf die Flügel haben Van de Donk und Roord nun Platz für ihre Tiefenläufe, mit denen sie einerseits Torgefahr ausstrahlen und andererseits wiederum Gegenspielerinnen aus dem Zentrum rausziehen. Somit kann Lieke Martens – die vom linken Flügel in die Rolle als mobile zweite Spitze neben Miedema-Ersatz Beerensteyn gerückt ist – dort ihre Technik und Torgefahr ins Spiel bringen. Das Risiko, das gleichzeitig bleibt: Die Abwehr ist wirklich nicht sehr schnell und die Absicherung davor könnte zur Achillesferse werden.
Die beiden anderen Teams in der Gruppe werden es sehr schwer haben, wiewohl Portugal bei der EM letztes Jahr eine unerwartet gute Figur abgegeben hat. Das letzte europäische Team, das sich qualifiziert hat – nämlich über das interkontinentale Playoff gegen Kamerun im Februar – hat sich seit der überraschenden EM-Teilnahme 2017 stetig weiter entwickelt, punktete bei der EM 2022 mit engagiertem Pressing und – zumindest zweieinhalb Spiele lang – mit starker mentaler Resilienz. Das Team ist gegenüber der EM praktisch unverändert, der Großteil des Kaders spielt in der eigenen Liga. In Portugal wird der Frauenfußball seit einigen Jahren seriös angeschoben, mehr als vorzeigbare Mittelklasse ist man aber nicht.
Ein weiterer WM-Debütant ist Vietnam, dort ist die beste Spielerin – Stürmerin Huỳnh Như – tatsächlich in der portugiesischen Liga aktiv, bei Mittelständler Vilaverdense, alle anderen spielen daheim. Der couragierten Vorstellung bei einem Test in Deutschland zuletzt zum Trotz: Selbst knappe Niederlagen wären für Vietnam schon ein großer Erfolg, auf diesem Niveau haben sie schlicht noch nie in Ernstkämpfen gespielt. Beim Asiencup schlicht man nach 0:3-Pleiten gegen Südkorea und Japan dank eines 1:1 gegen Myanmar als Gruppendritter ins Viertelfinale (1:3 gegen China), im asiatischen WM-Playoff besiegte man Thailand 2:0 und Taiwan 2:1 – so sieht die internationale Visitenkarte aus.
Gruppe G: SWE, ITA, RSA, ARG
Der Kampf gegen die Zeit gehört zum schwedischen Frauenfußball wie der Kampf gegen die Gegner auf dem Platz wie selbstverständlich dazu. Zum einen natürlich gegen den Zah der Zeit, das Alter von Leistungsträgerinnen: Schweden ist stets, was bei den Männern klischeehaft die Italiener sind – selbst mit 27 Jahren geht man fast noch als „Talent“ durch. Neun Spielerinnen im 23-köpfigen Kader sind 30 plus, zwei weitere kommen im Herbst dazu. Das ist beim Vize-Weltmeister von 2003 normal.
Viel mehr Kopfzerbrechen bereitet Teamchef Peter Gerhardsson jedoch die Verletzungs-Situation. Flügelspielerin Fridolina Rolfö kämpft mit dem Knie („Es geht sich für die WM aus, aber nicht um von Beginn an bei 100 Prozent zu sein“), Kosse Asllani konnte im Frühjahr wegen chronischer Bauchmuskelbeschwerden praktisch nicht spielen (ist aber im WM-Kader), und auch bei Team-Oma Caroline Seger spielt der Körper nicht nach Wunsch mit. Die 38-Jährige wird von einer Fersen- und Wadenblessur geplagt.
Wobei: Wer sagt, dass Schweden nicht mittlerweile ohne Seger besser dran wäre? Bei der EM letztes Jahr kam das Team erst in Schwung, als Seger verletzt außen vor war, weil man nicht mehr auf das gemächliche Tempo Rücksicht nehmen musste, das Seger zu gehen imstande ist. Auch in der Vorbereitung machte das defensive Mittelfeld mit zwei aus dem Trio Angeldal, Bennison und Zigiotti im Gegenpressing und im Verdichten um den Ball einen sehr dynamischen Eindruck, vor allem wenn die quirlige Janogy davor statt Asllani auf der Zehn spielt.
Davon abgesehen spielt Schweden, wie Schweden unter Gerhardsson in den letzten Jahren eben spielt, und das durchaus erfolgreich: Geringe Abstände zwischen den Mannschaftsteilen, gute Abstimmung, immer eine bis zwei Passoptionen. Nach dem starken Olympia-Turnier mit der bitteren Final-Niederlage im Elfmeterschießen und dem EM-Halbfinale gegen England, bei dem man eine Stunde lang tendenziell das bessere Team war und ab Ende in ein lächerliche 0:4 lief, soll nun doch der große Wurf gelingen. Schweden gehört zum erweiterten Kreis, gar keine Frage. Aber die ganz heißen Favoriten sind dann doch andere – auch, weil Schweden schon im Achtelfinale Holland (oder die USA) eliminieren müsste.
Für Italien droht es eine relativ kurze WM zu werden, angesichts der Auslosung wäre das Überstehen des Achtelfinales schon eine Überraschung. Vor allem, weil man sich im italienischen Lager wohl selbst nicht so ganz im Klaren darüber zu sein scheint, wie man es bei dieser WM überhaupt angehen soll. In den letzten sieben Spielen wechselte Bertolini stets wild durch, auch das System (mal 3-5-2, mal 4-3-3). Bis zum Schluss kristallisierte sich nicht heraus, was Bertolini vor hat.
Sie steht vor einigen Richtungsentscheidungen. Juventus, Platzhirsch der letzten Jahre und in dieser Zeit auch den Kern des Nationalteams stellend, spielt eher athletisch und direkt. Die Roma, in der abgelaufenen Saison überlegen erstmals Meister und (anders als Juventus, allerdings zugegeben mit der wesentlich leichteren Auslosung) auch im Europacup-Viertelfinale, setzt hingegen auf Spielstärke und Technik. Wie passt das im Nationalteam zusammen?
Auch in der Frage der Altersstruktur sitzt Bertolini zwischen den Stühlen. Bonansea (32), Girelli (33), Bartoli (32), Linari (29), Salvai (29) und Cernoia (32) sind seit Jahren tragende Säulen, dazu die etatmäßige Sara Gama (34), die wohl so ein wenig als Bauernopfer für die schlechte EM letztes Jahr gar nicht für die WM nominiert wurde. Andererseits hat Bertolini im Vorfeld Beccari (18), Orsi (23), Lenzini (24) und Cantore (23) teilweise mehrmals von Beginn an eingesetzt, die 16-jährige Giulia Dragoni aus dem Barcelona-Nachwuchs wurde sogar ohne Einsatz nominiert. Sie haben alle schon von den professionellen Strukturen profitiert, die in Italien in den letzten Jahren Einzug gehalten haben – wo man aber, wenn es hart auf hart kommt, die Skepsis gegenüber der (relativen) Fußball-Jugend in der DNA hat.
Bei der WM 2019 hat man wenig von den Azzurre erwartet, sie sind bis ins Viertelfinale vorgestoßen. Bei der EM 2022 hat man entsprechend viel von Italien erwartet, es wurde ein katastrophales Debakel, von dem man sich bis jetzt nicht so richtig erholt zu haben scheint.
Eine noch größere Blamage als letztes Jahr wäre es aber, sollte Italien auch diesmal nicht aus der Gruppe rauskommen, bei allem Respekt vor dem Kontinental-Champion aus Südafrika. Denn ja, einerseits wissen die durchaus, was sie tun. Linda Motlhalo ist nach Wandersjahren in Schweden endlich sesshaft geworden und kann von der Sechs bis zur offensiven Außenbahn alles spielen, Thembi Kgatlana ist immer noch extrem schnell. Dazu hat die Mannschaft nun doch schon ein wenig internationale Routine und hat 2019 in einer sehr schweren Gruppe eine vernünftige Figur gemacht.
Teamchefin Desirée Ellis ist fraglos eine der besten Trainerinnen auf dem Kontinent, die Banyana Banyana glänzte vor allem als das am besten gecoachte Nationalteam Afrikas. Dennoch gibt es zwei Dinge, die gegen Südafrika sprechen. Zum einen ist dies das immer noch massive Leistungsgefälle schon innerhalb der ersten Elf, was auf diesem Niveau schwer zu kompensieren sein wird. Und zweitens der Krach mit dem Verband: Das Team bestreikte den letzten Test gegen Botswana im Streit um vom Verband zurückgehaltene Prämien, die Funktionäre drohten mit Rauswurf des ganzen Teams, bis der Präsident des afrikanischen Verbandes höchstpersönlich – gleichzeitig Eigentümer des besten Klubs des Landes, den Mamelodi Sundowns – aus eigener Tasche die Prämien bezahlte. Eine ideale Vorbereitung auf eine WM sieht wahrlich anders aus.
Auch in Argentinien haben Aktive und Funktionäre in der Vergangenheit so manchen Strauß ausgefochten. Nach der letzten WM beklagten sich einige langjährige Stützen um Spielmacherin Estefanía Banini über fehlende Strukturen, fehlende Wertschätzung und vor allem fehlende Qualität auf dem Trainersektor, der damalige Teamchef Borrello warf sie daraufhin alle aus dem Team.
Erst Jahre später und nach Installierung eines neuen Trainers, Germán Portanova, wurde Burgfrieden geschlossen – davon, dass alle Ungereimtheiten ausgeräumt sind, kann aber keine Rede sein. Banini und Co. sind jedenfalls zurück, Argentinien kam bei der Copa América zu einem zittrigen 3:1-Sieg gegen Paraguay im entscheidenden Spiel um Platz drei (bis Minute 78 lag man noch 0:1 zurück) und darf nun auf der Weltbühne zeigen, was seit dem beherzten Auftritt von 2019 weitergegangen ist.
Es gibt nun viel mehr junge, nachrückende Talente, die auch den Weg ins Ausland nicht scheuen, zudem schaut man sich auch nach Auswanderer-Kindern um – so wie Verteidigerin Sophie Braun, US-Amerikanerin mit argentinischer Mama, die aber kein spanisch spricht. Überhaupt offenbart das lässige Nominierungs-Video des Verbandes einige erstaunliche Details: Camila Gómez-Ares arbeitet nebenbei als Sportjournalistin, Érica Lonigro hat als Kind auf den Straßen Rosarios mit Weltmeister Ángel Correa gekickt, Miriam Mayorga ist Ärztin. Ihr gemeinsames, großes Ziel: Bei der vierten WM-Teilnahme erstmals ein Match gewinnen.
Wenn’s nicht im zweiten Spiel gegen Südafrika klappt – mit extra früher Anstoßzeit zu High Noon neuseeländischer Ortszeit angesetzt, damit es daheim in Argentinien zur Prime-Time ab 21 Uhr laufen kann – wird es schwierig.