G’day, Down Under: Die WM-Gruppen in Australien

Wie war das, Men at Work? Down Under ist dort, wo „the women glow and men plunder“. In den nächsten vier Wochen werden die Frauen in Australien nicht nur optisch, sondern auch mit Arbeit glänzen. Drei Olympiastädte – Melbourne (1956), Sydney (2000) und Brisbane (2032) – sowie die „Stadt der tausend Kirchen“ Adelaide und Perth an der entlegenen Westküste sind die fünf Destinationen für die vier Gruppen B, D, F und H sowie den Großteil der K.o.-Spiele.

Neben dem großen Co-Gastgeber Australien sind es Olympiasieger Kanada, Europameister England, der ewige Under-Achiever Frankreich und der zweimalige Titelträger Deutschland, die ihr ihre Vorrunden absolvieren – ebenso wie Brasilien bei Martas letzter WM. Was können diese Teams und ihre vermeintlich kleinen Gegner?

Gruppe B: AUS, CAN, NGA, IRL

2011 und 2015 war Australien im WM-Viertelfinale, 2016 auch bei Olympia. 2021 schnupperte man als olympischer Halbfinalist in Tokio schon an der Medaille, unterlag erst knapp und unglücklich Schweden und jagte dann im Bronze-Spiel das US-Team vor sich her. Die Matildas gehören schon lange zur erweiterten Weltspitze, jetzt, daheim, wird der ganz große Coup angepeilt.

Als Tony Gustavsson das Team nach dem undurchsichtigen Rauswurf von Ante Stajcic kurz vor der WM 2019 und dem biederen Stint von Ante Milicic als Zwischenlösung mitten in der Pandemie übernahm, hatte er eine Herkules-Aufgabe vor sich. Nach und nach stabilisierte er ein völlig verunsichertes Team, so weit, dass man ein verloren geglaubtes Olympia-Viertelfinale gegen das Team GB noch drehen konnte – die Geburtsstunde der Gustavsson-Matildas.

Nun, zwei Jahre später, hat sich ein recht klares 4-4-2 etabliert, in dem sich zumindest sieben, acht Spielerinnen seit einigen Monaten aufeinander einstimmen konnten. Vorne Superstar Sam Kerr mit Jungspund Mary Fowler als Adjutantin, auf den Flügeln Hayley Raso links (wenn Vine spielt) oder rechts (wenn Yallop spielt), im Mittelfeld-Zentrum das große Talent Cooney-Cross mit Routinier Gorry, auf den AV-Positionen Carpenter bzw. Grant und/oder Catley, die unverwüstliche Polkinghorne in der Abwehr, Mackenzie Arnold im Tor.

Am wohlsten fühlt sich Australien, wenn man den Gegner aus einer gesicherten Abwehr heraus nerven kann, indem man ihm zwar viel Ball lässt, aber wenig Raum in den gefährlichen Zonen. So haben die Matildas im Frühjahr Englands 30-Spiele-Serie geknackt und den Europameister im Wembley (!) 2:0 bezwungen. Weniger Spaß haben sie, wenn der Gegner den Spieß umdreht: Da fehlt es ein wenig an der Phantasie, am Tempo und an den Ideen. So haben sie einen Test gegen Schottland verloren, so sind sie im Asiencup-Viertelfinale 2022 gegen Südkorea ausgeschieden.

Realistischerweise ist das Viertelfinale für den Co-Gastgeber das Minimum (hierzu wäre es gut, als Gruppensieger einem Achtelfinale gegen England auszuweichen) und das Semifinale sehr schön. Alles, was darüber hinaus geht, käme aber doch eher unerwartet. Das sind sportliche „Probleme“, die Kanada gerne hätte: Der Verband steht vor dem Ruin, nicht nur Prämien können nicht ausbezahlt werden, selbst beim Staff und bei Trainingslagern muss kräftig der Sparstift angesetzt werden.

Der Olympiasieger von Tokio verfügt über eine gutklassige, aber nicht herausragende Truppe. Das Viertelfinale ist im Normalfall eine Zielvorgabe, die der Qualität der Truppe entspricht. Leichter würde sich das Team um Christine Sinclair, Grande Dame der Frauenfußball-Welt und mit 324 (!!!) Länderspiel-Einsätzen absolute Weltrekord-Halterin, dabei aber mit Janine Beckie tun. Die Offensiv-Kraft von Manchester City ist aber mit Kreuzbandriss out und bei allem Respekt: Mehr als eine Notlösung ist Adriana Leon, bei Manchester United mangels Einsätzen wegverliehen, nicht. Generell ist die Kadertiefe nicht gerade herausragend.

Priestman lässt üblicherweise in einem 4-3-3 oder einem 4-2-3-1 spielen (in letzterem Fall meist auf Kosten von Schmidt), die Herangehensweise ist eher defensiv, man absorbiert gerne den Druck und lauert mit den flinken Huitema, Leon oder Prince auf Gegenstöße. Der Olympiasieg war eher einem glücklichen Turnierverlauf geschuldet, aber Kanada war da, um die Gunst der Stunde zu nützen.

In Nigeria geht es vor dem Turnier mal wieder um alles außer Fußball. Der Verband hat schon genug Dreck am Stecken – vom offiziellen Verbot von homosexuellen Spielerinnen bis zur Zwangs-Einberufung außerhalb von Länderspiel-Fenstern unter Androhung ernster Sanktionen, nur um die Matches dann ohnehin abzusagen, bis hin zur schon traditionellen Nicht-Auszahlung von Prämien.

Es ist ein Problem der Funktionärs-Kultur im bevölkerungsreichsten Land Afrikas: Das Frauen-Team wird geduldet, so lange es Erfolg hat. Sobald dieser ausbleibt, wird der Würgegriff angesetzt. Beim Afrikacup rettete man sich letztes Jahr im Halbfinale mit acht Feldspielerinnen ins Elfmeterschießen und verlor dies gegen Marokko, von da an warf der Verband Trainer Waldrum (zweifacher US-College-Meister), seiner Assistentin Lauren Gregg (zweifache Weltmeisterin im US-Trainerstab) und vor allem den Spielerinnen Knüppel vor die Beine, wo es nur geht – begleitet von allertiefsten Beleidigungen.

Vor diesem Hintergrund hat das Team aus Irland – das sich zum allerersten Mal überhaupt für irgendwas im Erwachsenenbereich qualifiziert hat – durchaus Chancen, zumindest Gruppendritter zu werden. Der bisherige größte Erfolg im irischen Frauenfußball war das Halbfinale bei der U-19-EM vor neun Jahren. Eine, die damals dabei war, ist Katie McCabe.

Die Aufgabe der Flügelspielerin von Arsenal ist heute, gemeinsam mit der langjährigen US-Legionärin Denise O’Sullivan im ansonsten eher holzgeschnitzten irischen Team für die spielerische Qualität zu sorgen. Wie bei Teamchefin Vera Pauw üblich (die Holländerin führte ihre Heimat 2009 aus dem Nichts ins EM-Halbfinale und danach Südafrika zu Olympia 2016), ist die Stärke der Irinnen die defensive Organisation in ihrem 5-4-1, gleichzeitig ist Irland aber sehr gut aufeinander abgestimmt und durchaus clever. Das kann die fehlende individuelle Qualität – die meisten Stammkräfte spielen in England bei schwachen Erstligisten oder gar in der 2. Liga – aber wohl nicht so weit ausgleichen, dass es für das Achtelfinale reicht.

Gruppe D: ENG, DEN, CHN, HAI

Sie haben die EM vor einem Jahr gewonnen, danach auch die „Finalissima“ gegen Südamerika-Meister Brasilien im ausverkauften Wembley, die heimische Liga ist in der Breite sicher die stärkste in Europa und zieht – wie die Premier League bei den Männern – Top-Leute aus aller Welt an. Selbstverständlich geht England mit dem klaren Ziel in die WM, auch Weltmeister zu werden. Was auch sonst.

Was dafür spricht: Neben der unbestrittenen Klasse der Lionesses ist es vor allem die Kontinuität und die Eingespieltheit, welche das Team von Trainerin Sarina Wiegman stark macht. Jede Spielerin kennt ihre Rolle genau, das Anlaufen funktioniert, die Strukturen im Gegenpressing sind etabliert, die Laufwege sind in Fleisch und Blut übergegangen. Eigentlich.

Denn was dagegen spricht? Wiegman ist keineswegs frei von Verletzungssorgen. Die Kreuzbandrisse von Kapitänin Leah Williamson (Abwehr) und EM-MVP Beth Mead (offensive Außenbahn) haben nicht nur Arsenal die Titelchance gekostet, sie fehlen natürlich auch im Team. Bei Zehner Fran Kirby macht das Knie nicht mit, sie fehlt ebenso. Immerhin soll Millie Bright, bei der EM Williamsons Partnerin in der Innenverteidigung, nach einer im März erlittenen Knorpelläsion im Knie rechtzeitig fit werden.

Williamson wird von Esme Carter oder Jess Carter ersetzt, Kirby von Ella Toone (die schon bei der EM stets für Kirby eingewechselt wurde), Mead von Final-Torschützin Chloe Kelly oder Lauren James. Sturmspitze Ellen White hat ihre Karriere beendet, statt ihr wird entweder Alessia Russo (die von ihrem Klub Man Utd so lange hingehalten wurde, bis sie bei Arsenal unterschrieb) oder Rachel Daly vorne spielen. Letztere ist gelernte Sturmspitze, spielte bei der EM aber noch als Linksverteidigerin.

Die durchaus vorhandene Kadertiefe ist ein Pluspunkt für die Lionesses, ebenso die nicht ganz ungünstige Auslosung – unkomplizierte Gruppe, laut Papierform Kanada im Achtel- und die zuletzt nicht ganz auf der Höhe agierenden Deutschen im Viertelfinale. Andererseits waren die Vorstellungen im Vorfeld nicht alle super. Dennoch gilt, seit 1991 Weltmeisterschaften ausgetragen werden: Europäische Teams werden nur dann Weltmeister, wenn sie als amtierende Europameister in die WM gehen.

England ist sich seiner Sache und seiner Stärke sehr bewusst, das genaue Gegenteil trifft auf China zu. Die große Zeit des Olympia- und WM-Finalisten von 1996 bzw. 1999 ist lange vorbei. In einer Frauenfußball-Welt, die in den letzten zehn, fünfzehn Jahren dramatische Umwälzungen in Sachen Athletik, Strukturen und Globalisierung erfahren hat, suchen die Steel Roses nach wie vor ihren Platz. Die verpasste WM-Quali von 2011 konnte man noch als Betriebsunfall abtun. Was seither passiert ist, nicht.

Das perfekt gedrillte, aber – bis auf die unvergleichliche Sun Wen – namenlose Kollektiv, mit dem China einst den Sport aufmischte und mit dem die Truppe auch im legendären Adidas-Spot zur eigentlich im Reich der Mitte geplanten WM 2003 kokketierten, ist aus vielerlei Gründen nicht mehr in die heutige Welt übertragbar. Immerhin: Nach dem verstörenden Chaos bei Olympia 2021 führte die danach installierte Trainerin Shui Qinxia (eine dieser „Namenlosen“ aus den späten 90ern) China zum Titel beim Asiencup 2022, aber sie sagt selbst: „Eine WM ist nochmal etwas völlig anderes!“

In China weiß man, dass man längst nicht mehr mit der körperlichen Robustheit der anderen mithalten kann, zudem kocht man – nicht nur coronabedingt, sondern auch aus ideologischen Gründen – fast ausschließlich im eigenen Saft. Shui ermutigt ihre Spielerinnen, den Weg nach Europa oder in die USA zu suchen, mehr als eine Handvoll haben den Schritt aber noch nicht in Angriff genommen, vor allem nicht in Top-Ligen. Dort sind nur Wang Shuang (USA) und Li Mengwen (Frankreich). Erstaunlich übrigens, dass die gelernte Stürmerin Wang Shanshan in den Innenverteidigung statt der verletzten Wang Xiaoxue aushelfen könnte, so wie sie das bei Asiencup schon in Halbfinale und Finale gemacht hat.

Sportlich ist ein eher biederes 4-4-1-1 zu erwarten, China wird dem Gegner den Ball überlassen und mit den beiden Ketten die Passwege zumachen und auf die Ideen von Wang Shuang hoffen. Ob das reicht oder nicht, wird sich wohl schon im ersten Spiel entscheiden, da geht es nämlich gegen Dänemark. Wenn nichts Ungewöhnliches passiert, machen sich diese beiden Mannschaften den zweiten Platz hinter England und damit den Platz im Achtelfinale untereinander aus.

Lars Søndergaard hat aus dem einstmals stets spannenden, stets innovativen und stets nach neuen taktischen Kniffen suchenden dänischen Team eine typische Søndergaard-Mannschaft gemacht: Funktional, aber nicht besonders aufregend; solide, aber eben auch ein wenig bieder. Die EM hat man in einer toughen Gruppe gegen Deutschland und Spanien nach der Vorrunde verlassen, ohne irgendeinen Eindruck hinterlassen zu haben. In den 12 Monaten seither ist aus dem 3-4-3 von damals ein sehr klares 4-1-4-1 geworden, mit Pernille Harder (die gemeinsam mit ihrer schwedischen Lebensgefährtin Magda Ericsson von Chelsea zu den Bayern gehen wird) ganz vorne und der super talentierten Katrine Kühl auf der Acht.

Die individuelle Qualität ist bei Dänemark im Ganzen sicher höher als bei China, insofern müsste sich der Vize-Europameister von 2017 schon zumindest für das Achtelfinale qualifizieren können. Da gibt es in der Gruppe aber noch eine Unwägbarkeit, nämlich den vierten Teilnehmer. Denn bei Haiti ist womöglich mehr drin, als man auf den ersten Blick vermuten würde – obwohl das Land selbst von sozialen, politischen und finanziellen Krisen schwer gebeutelt ist.

Da ist natürlich Melchie Dumornay, die im 4-2-3-1 auf der Zehn spielt, eines der größten Talente der Frauenfußball-Welt, im Sommer geht’s von Reims zu Abonnement-Meister Lyon. Aber es ist nicht nur die 19-Jährige: Der französische Trainer Nicolas Delépine hat zahlreiche Kickerinnen zur Verfügung, die in der starken französischen Liga spielen. Rechtsaußen Nérilia Mondesir etwa, die einst mit Sarah Puntigam bei Montpellier gewirkt hat, und ihre Teamkollegin Kethna Louis, die in der Abwehr spielt. Oder Linksaußen Batcheba Louis, die schon einige Jahre D1F in den Beinen hat, ebenso Sturmspitze Roselord Borgella.

Im Unterschied zum philippinischen Team stammen die Grenadières im Kern tatsächlich aus Haiti. Aus der Stammformation trifft dies nur auf die in den USA geborene und aufgewachsene Innenverteidigerin Chelsea Surpris nicht zu. Der WM-Debütant ist eher mit defensivem Fußball zu erwarten, sehr gut organisiert und auch durch höheres Tempo nicht sofort auseinander brechend; bei der Concacaf-Meisterschaft hatte man selten mehr als 40 Prozent Ballbesitz.

Es wird eine Herausforderung für Dänemark und China, durch diesen Block durchzukommen und wer es nicht schafft, kann sich des Ausschiedens schon recht sicher sein.

Gruppe F: FRA, BRA, JAM, PAN

„Ich bin kein Zauberer“, mahnte Hervé Renard vor seinem ersten Spiel als Frauen-Teamchef von Frankreich vor drei Monaten gegen Kolumbien. Die Realität sieht anders aus, wie man seither sah. Grundlegendes bezüglich der Spielweise braucht er ohnehin nicht zu ändern, da geht es maximal um kleine Detailschräubchen. Sehr wohl aber hat Renard in Rekordzeit etwas geschaffen, was in den Jahren zuvor – vor allem unter Vorgängerin Corinne Diacre – völlig unbekannt war. Er hat nämlich für eine positive, wertschätzende und familiäre Stimmung gesorgt.

Genau das schien Diacre bewusst vermeiden zu wollen. Ihre Fehden vor allem mit routinierten Spielerinnen sind geradezu legendär. Diese führten so weit, dass vor allem jene von Europacup-Dauersieger Lyon eine nach der anderen gesagt haben: „Trén bien, fuck it, ich bin raus“. Vor vier Monaten hat schließlich auch die große Wendie Renard (mit dem neuen Trainer in keinster Weise verwandt) gemeinsam mit zwei weiteren anderen ihren Boykott verkündet, so lange Diacre da ist. Diese hätte wohl selbst das überlebt, wenn nicht kurz danach ihr großer Fürsprecher, Verbandspräsident Noël le Graët, inmitten von Vorwürfen sexueller Belästigung aus dem Amt gespült worden wäre. Buchstäblich die erste Amtshandlung der Leitungs-Kommission, die Le Graëts Nachfolge zu regeln hatte, war der hochkantige Rauswurf von Diacre.

Hervé Renard versteht es, ein brillantes Teamgefühl herzustellen. So führte er Sambia 2012 und die Elfenbeinküste 2015 zu Titeln beim Afrikacup, formte Marokko für die WM 2018 zu einer hoch-aufregenden (wenn auch vor dem Tor versagenden) Truppe und überstand vier Jahre als Teamchef von Saudi-Arabien, wo die Halbwertszeit von Trainern sonst bei kaum mehr als ein paar Monaten liegt.

Was von einer gut gelaunten französischen Mannschaft zu erwarten ist? Viel! Denn technisch, taktisch, vom Tempo und der individuellen Klasse steht ohnehin seit einem Jahrzehnt selten jemand viel besser da als Frankreich. Man stand sich nur immer selbst im Weg: Schlechte Stimmung (wie bei Diacre 2019), schlechtes Coaching (wie bei Echouafni 2017), schlechte Nerven (wie bei den Viertelfinal-Niederlagen im Elferschießen 2015 und 2013) – aber sehr selten ein besseres Team.

Renard holte Eugenie Le Sommer aus ihrem Exil zurück und lässt sie, statt wie früher am Flügel, nun in der Spitze spielen, statt der Langzeitverletzten Marie-Antoinette Katoto. Amel Majri ist auch wieder da, Kadi Diani ebenso, und selbst Amandine Henry – die Diacre unter lächerlichen Vorwänden für die EM 2022 ausgebootet hatte – war wieder im Kreis des Teams, fällt nun aber verletzt für die WM aus. Ein Frankreich in (annähernd) voller Stärke, mit einem erwiesenermaßen exzellenten Trainer und noch dazu guter Stimmung: Das ist eine beängstigende Aussicht für die Konkurrenz.

Vor vier Jahren forderte Brasilien das französische Team extrem, es brauchte eine unglaubliche Rettungstat von Griedge Mbock-Bathy, um das brasilianische Aus zu besiegeln – im Achtelfinale. Es war das erste Mal nach 24 Jahren, dass Südamerikas klare Nummer eins nicht in die Runde der letzten Acht vorstieß. Es übernahm Pia Sundhage, ein richtig großer Name im Frauenfußball, und es passierte: Nichts.

Zwei Jahre lang, bis inklusive Olympia 2021, blieb es die selbe biedere und einfallslose Spielweise, die vor allem von der individuellen Qualität einzelner lebt. Beim anonymen Auftritt von Tokio war sogar die damals 43-jährige Formiga noch als Stammkraft mit dabei. Nun drängen sich allerdings einige jüngere Spielerinnen auf. Mit Kerolin, die sich auf der Acht festgespielt hat, gibt es jetzt auch die Möglichkeit, aus dem zuvor recht unkreativen Zentrum im 4-4-2 unvorhergesehene Vertikalpässe in die Spitze zu spielen. Mit Ary Borges, Adriana, Ana Vitória sowie eigentlich auch Nycole (die kurzfristig verletzt ausfällt) bieten sich einige neue, jüngere offensive Flügelspielerinnen an.

Diese können auch Marta entlasten, die mit ihren 37 Jahren vor ihrer sechsten und letzten WM steht. Nach ihrem Kreuzbandriss vom April 2022 ist sie nie mehr so richtig in Schwung gekommen, hat auch in keinem einzigen der sechs Aufbauspiele in diesem Kalenderjahr von Beginn an gespielt. Im Angriff hat Sundhage ein Quartett für zwei Plätze zur Auswahl (Geyse und Gabi Nunes, dazu die Routinierten Debinha und Beatriz Zaneratto) und die Innenverteidigung ist mit Kathellen und Raffaele exzellent besetzt, vermutlich so gut wie noch nie.

In der Gruppe an Frankreich vorbei zu kommen, wird dennoch schwierig und als Zweiter würde im Achtelfinale laut Papierform das deutsche Team warten – das man im Frühjahr aber in Nürnberg 2:1 besiegen konnte. Auch beim 1:1 in der Finalissima gegen England (das im Elferschießen verloren wurde) hielt man mit einem 5-3-2-Experiment gut mit, beim SheBelieves Cup konnte man Japan schlagen.

Für den Titel wird es höchstwahrscheinlich nicht reichen, angesichts der Auslosung wäre schon das Viertelfinale als Erfolg zu werten, aber diese WM könnte der erste echte Schritt zurück sein, um an die glanzvollen Tage der jungen Marta-Jahre (WM-Finale 2007, Olympia-Finale 2004 und 2008) anschließen zu können.

Der neue Quali-Modus mit dem interkontinentalen Playoff NACH der Auslosung sorgte für die kuriose Situation, dass zwei kleine Concacaf-Länder in der selben Gruppe landeten – nämlich Jamaika bei der zweiten Teilnahme nach 2019 sowie das Team aus Panama, das über die Hoffnungsrunde im Februar mit Siegen über Papua-Neuguinea und Paraguay noch das WM-Ticket gelöst hat. Realistische Achtelfinal-Chancen haben beide nicht.

Jamaika hat neben Angriffs-Wirbelwind Bunny Shaw von Manchester City noch eine Handvoll weiterer Leute, die auf recht ordentlichem Niveau spielen (Solaun ist Stammkraft und Matthews Wechselspielerin in der NWSL, Spence hat für Tottenham schon zahlreiche Einsätze in England). Aber sonst ist trotz teilweise guten Klubs nicht viel geboten, was tatsächliche Einsätze in guten Ligen angeht. 2019 hat man sich brav gewehrt, aber dreimal klar verloren und das eine Tor beim 1:4 gegen Australien wurde bejubelt wie einen Sieg.

Da nun Panama dabei ist, besteht für Jamaika sogar die Chance auf den ersten Sieg, dem Wirbel in der Vorbereitung zum Trotz. Denn der WM-Debütant Panama ist zweifellos nur wegen der Erweiterung auf 32 Teams dabei, hat keine einzige Spielerin in einer international halbwegs konkurrenzfähigen Liga (einzig Stürmerin Riley Tanner steht im erweiterten Kader von Washington in der NWSL) und wird bei dieser WM vermutlich kräftig Lehrgeld zahlen müssen. Gelingt ihnen ein Tor, wäre das ein ähnlicher Erfolg wie bei den Reggae Girlz vor vier Jahren. Der letzte – und einzige – Sieg gegen Jamaika ist jedenfalls 19 Jahre her.

Gruppe H: GER, KOR, COL, MAR

Was ist jetzt das „echte“ deutsche Team? In guten Phasen spielt es sich mit cleverer Taktik und guten Adaptierungen verdient ins EM-Finale und ist dort über weite Strecken das bessere Team. An schlechten Tagen gibt es Pflichtspiel-Niederlagen gegen Island und zuletzt Serbien und eine peinliche Test-Pleite gegen Sambia zwei Wochen vor WM-Start.

Unbestritten ist, dass Deutschland in vielerlei Hinsicht den Anschluss an die absolute Spitze verloren hat. Die Zeiten, als man in den Nuller-Jahren fast alles niedergewalzt hat, sind vorbei. Das gilt nicht so sehr für die Spielerinnen, der DFB wird immer eine qualitativ gute Truppe haben. Aber was Umfeld, Strukturen, Publicity und Investitionen auf dem ganz hohen Niveau angeht, sind schon einige andere Länder weiter.

Die Kaderstruktur hat sich gegenüber dem Final-Einzug bei der EM kaum geändert, wie üblich werden Spielerinnen von Meister Bayern und Europacup-Finalist Wolfsburg die Stammformation stellen und jene vom Liga-Dritten Frankfurt das Gros der restlichen Einsatzzeit bekommen. Das Team kann erbarmungslos pressen und auch geduldig warten, das Trainerteam reagiert zumeist präzise auf den Spielverlauf, der Teamgeist war zumindest bei der EM letztes Jahr sehr gut.

In der Vorbereitung hat man aber auch die Bruchlinien gesehen. Der Zank um das Abstellungsdatum für die Spielerinnen des FC Bayern, der mit wesentlich mehr Getöse öffentlich ausgetragen wurde als die Sache rechtfertigen würde, legte eine recht dünne Nervendecke offen. Die beiden Aufbauspiele gegen Vietnam (2:1) und Sambia (2:3), die vom Selbstverständnis zwei deutliche Siege hätten bringen müssen, waren Festivals der Ungenauigkeiten, das schlampige Passspiel und die relative Ideenarmut bei viel Ballbesitz sorgt durchaus für Sorgenfalten, ebenso wie die Verletzungssituation: Durch den Kreuzbandriss von Giulia Gwinn muss nun die nächste gelernte Offensivspielerin rechts hinten aushelfen, nämlich Svenja Huth. Gerade in der Defensive ist die Personaldecke dünn.

Der Vize-Europameister hat das Glück einer Gruppe, die eher unkompliziert daherkommt und selbst ein Punktverlust wird verschmerzbar sein, ohne den Gruppensieg zu riskieren. Denn von den anderen drei Teams ist keiner ein klarer Kandidat darauf, die jeweils anderen beiden Kontrahenten beide (klar) zu besiegen.

Da wäre zunächst Südkorea. Der Asiencup-Finalist hat dank Trainer Colin Bell, der viele Jahre in der deutschen Liga gecoacht hat, einen klaren Deutschland-Bezug und ist davon abgesehen vor allem eines – nämlich alt. Mehr als die Hälfte (!!!) des Kaders hat den 30. Geburtstag schon hinter sich. Acht Stammkräfte von 2019, als der Kader auch schon nicht mehr taufrisch war, sind noch dabei. Vor vier Jahren waren sie bei zwei der drei Vorrunden-Niederlagen (jene gegen Nigeria und Norwegen) das klar bessere Team waren und null Punkte nach drei Spielen spiegelte die gezeigten Leistungen in keinster Weise wider. Das soll nun geradegerückt werden.

Bekannteste Spielerin ist Spielgestalterin Ji So-Yun, lange Zeit Leistungsträgerin bei Chelsea, seit einem Jahr wieder in der Heimat. Sie spielt im recht fluiden 4-3-1-2 üblicherweise auf der Zehn und ist mit sehr vielen Freiheiten ausgestattet, kann aber auch zurück ins Mittelfeld-Zentrum zu Cho So-Hyun (von Tottenham, mit auffällig blondgefärbten Haaren) und Lee Geum-Min (von Brighton). Auf die drei langjährigen bzw. aktuellen England-Legionärinnen wird es zu einem großen Teil ankommen.

Südkorea fühlt sich durchaus wohl mit dem Ball, versucht die Passwege kurz und das Tempo hoch zu halten. Langes Quergeschiebe wird man von dem Team eher nicht sehen, es kann im Spiel gegen den Ball – vor allem gegen starke Teams – aber sehr geduldig verteitigen und verschieben und nach Ballgewinnen sofort das Tempo anziehen. Sambia schenkte man in zwei Matches zehn Tore ein, ansonsten ist das tatsächliche Erzielen von Toren aber eher ein Problem. Das war es auch schon 2019. Erstaunliches Detail: Mit der 16-jährigen Casey Phair hat Korea erstmals überhaupt – Männer oder Frauen – jemanden mit gemischter Herkunft im Kader. Die in den USA geborene und aufgewachsene Stürmerin hat eine südkoreanische Mutter. Ob sie tatsächlich bei der WM eingesetzt wird, ist aber eher zweifelhaft.

Kolumbien ist nach der überraschend verpassten Teilnahme 2019 nun wieder zurück und hat sich jenen zweiten Platz hinter Brasilien bei der Copa América gesichert, der Kolumbien nach den eigenen Ansprüchen auch zusteht. Eine Handvoll der Spielerinnen, die 2015 das Achtelfinale gegen die USA gespielt haben, sind noch dabei – Verteidigerin Daniela Arias, Sechser Daniela Montoya, Kreativspielerin Lady Andrade, Stürmerin Catalina Usme. Die Augen werden aber auf ein 18-jähriges Wunderkind gerichtet sein: Linda Caicedo.

Schon seit einigen Jahren erzählt man sich große Dinge von ihr, mit 14 war sie Torschützenkönigin in der Heimat, längst ist sie bei Real Madrid Stammspielerin. Im Team kommt sie im 4-4-2 über die linke Seite und es ist die dritte WM, die sie innerhalb eines Jahres spielt – nach der U-20-WM letzten August (Viertelfinale) und der U-17-EM letzten Oktober (Finale).

Trotz der Trickserin mit dem Hang zum Weitschusstor machen Kolumbiens Frauen aber eher mit zwei anderen Attributen Schlagzeilen – nämlich, wie fast üblich in Südamerika, mit aktivem Dagegenarbeiten seitens des Verbandes und mit der Spielweise, die im besten Falle robust ist, manchmal aber die Grenzen zum Dreckigen und Brutalen überschreitet. Eine Woche vor der WM trat Testgegner Irland nach 20 Minuten voller Tritte, bösen Fouls und „überhartem Spiel“ ab, nachdem Denise O’Sullivan krankenhausreif umgeschnitten wurde.

In Marokko sieht man, was möglich ist, wenn ein Verband sich konsequent der Förderung des Frauenfußballs verschrieben hat. Aus dem Nichts ist die Mannschaft letztes Jahr ins Finale des Afrikacups vorgestoßen, es wird viel in die Infrastruktur, ins Scouting und vor allem in externen Know-How aus Amerika (Sportdirektorin Kelly Lindsey) und Frankreich (Trainer Raynald Pedros) investiert. Der Halbfinalsieg gegen Nigeria vor über 45.000 Zusehern in Rabat man glücklich gewesen sein, der generelle Aufschwung ist es nicht.

Der Kader ist rund zur Hälfte aus gebürtigen Marokkanerinnen und Auswandererkindern zusammen gesetzt, von den elf Stammkräften vom letztjährigen Afrikacup waren sieben Einheimische. Die wichtigsten Spielerinnen sind Achter Ghizlane Chebbak und die aus England stammende Stürmerin Rosella Ayane, gespielt wird ein 4-2-3-1 (bzw. ein 4-4-2 gegen den Ball) und ja, natürlich profitierte man auch davon, dass das generelle Niveau beim Afrikacup nicht gerade überragend war.

Marokko versteht es, diszipliniert mit den zwei Ketten zu verschieben und wird bei der WM vermutlich versuchen, die Gegner vom eigenen Tor wegzuhalten und schnell umzuschalten. Große Erwartungen in Form eines Achtelfinal-Einzuges wären wahrscheinlich etwas überzogen, es wird eher darum gehen, sich auf dem höchsten Niveau zu beweisen und gegen zwei Teams, die potenziell nicht völlig außer Reichweite sind, die eine oder andere Überraschung zu schaffen – dann hätte man sich schon als echte neue Kraft im Kreis der kontinentalen Spitze etabliert und eine Basis geschaffen, auf der man ambitioniert aufbauen kann.

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Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.