Die WM 2022, oder: Bringen wir den Mist hinter uns

Jetzt also Katar. Seit über einem Jahrzehnt ist diese Veranstaltung der größte Stein des Anstoßes in der weltweiten Sport-Politik. In den kommenden vier Wochen rollt in dem Wüsten-Emirat der Ball, nachdem zwölf Jahre lang eine Lawine der Kritik über das Land hinweg gerollt ist. Das ist ein Zeichen, dass eben nicht mehr jedes autoritäte Regime mit jedem allzu offensichtlichen Versuch des Sportswashings davon kommt. Nichts dafür können die Spieler: Sie würden sicher auch gerne woanders um den Titel spielen.

Sichtbarkeit schaffen – nur, welche?

Katar ist ein gesellschaftspolitisches Shithole Country. Die rund 300.000 „echten“ Kataris, die mit Staatsbürgerschaft, leben das Dolce Vita: Was das Pro-Kopf-BIP angeht, liegen weltweit nur drei Länder besser, Existenz- oder gar Geldsorgen gibt es für sie nicht. Das System ist auf institutionellem Rassismus aufgebaut: Die 2,4 Millionen Ausländer in Katar haben keinerlei Rechte – dafür gibt es das „Kafala“-System. Begründung: Sonst wären die Kataris ja in siebenfacher Unterzahl im eigenen Land. Die Kafala-Sklaven dürfen ohne Erlaubnis ihres Herrn nicht mal das Land verlassen.

Menschenrechte zählen nichts, Frauenrechte wenig (wenn auch immerhin mehr als etwa in Saudi-Arabien, small mercies), für die LGBTQ*-Community ist Katar lebensgefährlich. Katar hat zudem pro Kopf den höchsten CO2-Ausstoß der Welt.

Grafik: Katapult Magazin

Das seit 1972 unabhängige Emirat hat in den 1990ern darauf gewettet, dass Erdgas mal sehr wichtig werden würde, hat alles auf diese Karte gesetzt und gewonnen. Das Land mit der Größe von Oberösterreich ist der fünftgrößte Erdgas-Exporteur der Welt, noch vor Saudi-Arabien. Man will sich als Global Player etablieren und sich damit auf der Welt unverzichtbar machen – vor allem als Existenzgarantie gegenüber den rivalisierenden großen Nachbarn Iran und Saudi-Arabien. Sportswashing ist ein elementarer Teil dieser Strategie.

Motorrad-Rennen seit 2004, Asien-Cup im Fußball 2011, Handball-WM 2015, Leichtathletik-WM 2019, die Formel 1 seit 2021 und, am allerwichtigsten, eben die Fußball-WM 2022.

Katar kommt nicht mehr davon

Wie viele Gastarbeiter aus Ländern wie Nepal, Pakistan und dem Sudan beim Bau der sieben neuen Stadien ums Leben gekommen ist, ist unmöglich zu quantifizieren – vor allem, weil sich nicht messen lässt, wie viele aufgrund der Bedingungen (Hitze, mangelnde Versorgung, etc.) gestorben sind, und nicht direkt bei Arbeitsunfällen. Die Zahl wird wohl in die Tausende gehen. Dass FIFA-Präsident Gianni Infantino am Tag vor dem Eröffnungsspiel zur Aussage hinreißen ließ, dass es sich ja schon deshalb nicht um sklavenartige Umstände handelt, weil die Arbeiter ja besser bezahlt würden als in ihren Heimatländern – durch die Bank die größten Hungerleider der Welt – ist an Zynismus kaum zu übertreffen.

Infantino selbst hat medienwirksam seinen Hauptwohnsitz nach Katar verlegt und hat zuletzt beim G20-Gipfel in Bali nur notdürftig verklausuliert Partei für Russland ergriffen, jenem Land, das er vor vier Jahren bescheinigt hatte, die beste WM aller Zeiten veranstaltet zu haben.

Kritik gab es schon an Russland 2018, letztlich ist das Land diesbezüglich noch relativ ungeschoren davongekommen. Dieser Luxus wird Katar nun nicht mehr zuteil. Seit das Land vor ziemlich genau zwölf Jahren die WM zugesprochen bekommen hat, gab es im globalen Westen – jenem Teil der Welt, dem sich Katar als Geschäftspartner in Erdgas-Fragen anbiedern will – praktisch nur negative Schlagzeilen. Die WM beginnt und das Sportliche ist so gut wie kein Thema, sondern nur, dass so ein Event in so einem Land eine gewissenstechnische Unmöglichkeit ist.

Das Last-Minute-Verbot von Bier in den Stadien und drumherum (mit Ausnahme der VIP-Bereiche) ist für sich nur ein Detail, fügt sich als Symbol jedoch durchaus in den Reigen von Hinweisen ein, was die warmen Worte von Uli Hoeneß, Pep Guardiola, David Beckham und Gary Neville langfristig wert sein werden. Dieses Verbot „dürfte auch ein Hinweis darauf sein, wie wenige der Zugeständnisse an den Westen nach dem Turnier noch bleiben werden. Im Fall von Bier nicht so wichtig, bei anderen Themen ganz sicher“, wie es Max-Jacob Ost vom Rasenfunk treffend formulierte.

PR-Debakel statt Sportswashing

Nicht außer Acht lassen sollte man bei alldem, dass andere Regionen dieser Erdkugel in der westlichen Kritik an Katar durchaus jene Heuchlerei sehen, die Infantino in seiner Rede vor WM-Start angesprochen hat. In Afrika etwa, wo der FIFA-Präsident durchaus Ansehen genießt, hört man aus vielerlei Quellen, dass man im West ja quasi reflexartig alle Austragungsorte als minderwertig betrachte, die nicht in Europa oder Amerika liegen – und dass sich der Westen mal schön zurückhalten soll, was das Anprangern von Sklavenarbeit angeht. Schließlich beruht die Macht und der Wohlstand des Westens maßgeblich an der rücksichtslosen Ausbeutung der ärmeren Weltregionen.

Gerade der letzte Punkt ist gleichermaßen nicht von der Hand zu weisen und geht doch am Kern der Diskussion vorbei. Zumal da wie dort die Ärmsten der Armen die Leidtragenden sind.

Katar 2022 ist das erste Großereignis in einem – sagen wir mal so – umstrittenen Land, bei dem der Plan des Sportswashings so gar nicht aufgeht. Das war bei Peking 2008 und 2022 vermutlich aufgrund der bereits existierenden politischen Macht Chinas noch nicht so, Putin konnte sich 2014 und 2018 ohne geminderten Werbewert in der Rolle des Gastgebers sonnen. Selbiges gilt für das F1-Rennen etwa in Saudi-Arabien, wo Alexander Wurz die neue Strecke entwirft, und das jährliche Wrestling-Event von Vince McMahons WWE, wo man hinter vorgehaltener Hand ein schlechtes Gewissen durchklingen lässt, während man offiziell sehr froh um das Geld ist, das „Crown Jewel“ bringt.

Wie weit geht der Boykott?

Ganz abgesehen von der Fußball-WM 1978 in der ekelhaften Militär-Diktator in Argentinien, die rund 60.000 politische Gegner liquidert hat, und über die Berti Vogts einst ungeniert sagen durfte, er habe keine politischen Gefangenen gesehen, so schlimm konnte es ja also wohl nicht sein.

Andererseits sollte man nicht in die Falle laufen, auch noch den Zeitpunkt als allzu großes Negativum auszulegen. Zum einen ist das, verglichen mit dem Leid der Gastarbeiter in Katar, wirklich eine Petitesse. Andererseits muss die Frage schon erlaubt sein, warum man letztes Jahr schrie, es wäre doch ein Wahnsinn, die Olympischen Spiele von Tokio im Juli abzuhalten, wo die Hitze unerträglich ist – es andererseits jedoch genauso ein Wahnsinn sein soll, wegen der Hitze die Fußball-WM in den Winter zu legen. Can’t have it both ways.

Zuletzt ergab eine Umfrage des market-Instituts, dass 44 Prozent der Menschen in Österreich die WM boykottieren wollen. Das klingt erstmal viel, ein Vergleich mit den Zahlen von 2018 zeigt jedoch, dass das gegenüber dem Turnier in Russland ein Verlust von „nur“ 20 Prozent der Seher bedeutet – weil ja bei den 44 Prozent jene Leute, die sich ohnehin nicht für Fußball interessieren, auch dabei sind. Vier von fünf österreichischen tatsächlich oder auch nur am Rande am Fußball interessierten Menschen haben sich also gegen einen Total-Boykott entschieden.

Und ob am Ende nicht doch wieder fast alle einschalten, wird sich zeigen. Bei Olympia in Peking 2022 waren die Zuschauer-Zahlen am ORF praktisch die selben wie bei Olympia in Südkorea vier Jahre zuvor, in einem freien Land und in einer vergleichbaren Zeitzone.

Selbst Amnesty International ließ wissen, dass es für einen Boykott längst zu spät sei. Im Gegenteil rät die Organisation, jetzt umso genauer hinzusehen, was in Katar geschieht und wie die Bedingungen dort sind. Die Berichterstattung der letzten Wochen, Monate und Jahre zeigt, dass genau das auch der Fall ist.

Ein Titel ist hier nicht weniger Wert

Und am Ende wird in den kommenden vier Wochen ja tatsächlich auch eine Fußball-WM ausgespielt. Wie bei den 21 Turnieren bisher werden auch 2022 sportliche Entwicklungen in komprimierter Form widergegeben werden, es gibt Enttäuschte und Überraschende – letztere aufgrund der nicht vorhandenen Vorbereitungszeit vermutlich mehr als sonst. Zudem machten in der Nations League im Juni und im September die europäischen Top-Teams eher einen bleiernen Eindruck, während sich Argentinien und Brasilien mangels europäischer Gegner (weil die ja Nations League spielten) auf lateinamerikanischem Terrain einen Spaß aus weniger guten Kontrahenten gemacht haben. Die Chance für einen Außenseiter wie Uruguay? Seit 1954 hat es keinen echten Überraschungs-Weltmeister mehr gegeben. Lange her.

Es lässt sich auch schwer argumentieren, dass ein WM-Titel für Lionel Messi, einer für Neymar, einer für Virgil van Dijk, für Kevin de Bruyne oder – wer weiß – sogar einer für Harry Kane nicht gilt, nur weil er in Katar errungen worden ist.

Wir sind nicht vor Ort und es wäre billig zu sagen, dass wir es auch nicht wären, wenn sich die Gelegenheit dafür ergeben hätte (und nein, wir wären definitiv nicht vor Ort, selbst wenn sich die Gelegenheit dafür ergeben hätte). Katar wird für die Art und Weise, wie man die WM vor zwölf Jahren bekommen hat und die Art und Weise, wie man sich seither im Umgang mit dieser WM verhalten hat, weltweit durch einen medialen Pool der Schande gezogen.

Gleichzeitig wäre es unfair den 32 Teilnehmern gegenüber, so zu tun, als gäbe es das Turnier nicht. Darum werden wir als Sport-Medium auch nicht so tun, als gäbe es die WM nicht. Wir hassen die FIFA dafür, dass sie uns allen eine WM in Katar antut. Die Spieler auf dem Feld können dafür nichts, wie groß der Gewissens-Zwiespalt auch sein mag.

Also bringen wir den Mist hinter uns.

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Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.