Zum 22. Mal wird 2022 ein Fußball-Weltmeister gesucht. Die 21 Vorgänger des kommenden Champions waren auch immer ein Spiegelbild ihrer Zeit, was die taktische und strategische Entwicklung des Fußballs im letzten Jahrhundert anbetraf. Vom alten 2-3-5 zum WM-System, vom Manndeckungs-Fetisch bis zum Tiki-Taka, aber auch von individuellem Helden-Fußball hin zum modernen System-Kick.
Hier eine kurze Übersicht: Fußballtaktik der letzten 92 Jahre, erklärt an den Weltmeistern.
Historia de los Mundiales 🙌🏻
¿Qué selección será la afortunada de levantar la ansiada Copa del Mundo? 🏆 pic.twitter.com/mirq5t1Ksx
— GOAL en español (@Goal_en_espanol) September 28, 2022
1930 in Uruguay: Uruguay
In den 1920ern war der Futbol Rioplatense – also jener aus Uruguay und Argentinien – ohne Zweifel weltweit führend. Uruguay kam als Nobody zu Olympia 1924 und stürmte zum Sieg; Argentinien wollte 1928 nachziehen und verlor das Finale gegen Uruguay nach einem 1:1 im ersten Versuch drei Tage später im Wiederholungsspiel. Um nicht in Probleme mit dem IOC in Sachen Berufsspielertum zu rennen, etablierte die FIFA 1930 eine eigene WM, wieder trafen sich Uruguay und Argentinien im Finale, wieder gewann Uruguay. Das WM-System als Reaktion auf die neue Abseitsregel 1925 hatte sich international noch nicht durchgesetzt; der Mittelläufer war ein Mittelding aus britischer WM-Schule (reiner defensiver Ausputzer) und der Donau-Schule (als kreativer Spielgestalter im 2-3-5). Das Finale verlief ausgeglichen, Argentinien führte zur Halbzeit 2:1, traf danach durch Varallo noch die Latte – dabei verletzte sich der Rechtsverbinder aber. Uruguay nützte das aus und gewann 4:2.
1934 in Italien: Italien
Der argentinische Mittelläufer Luis Monti soll vor dem 1930er-Finale Morddrohungen erhalten haben und spielte ein katastrophales Finale, nach der WM ging er nach Italien – als prominentester der „Oriundi“, Argentinier mit italienischen Wurzeln, die vier Jahre später für Italien aufliefen; auch Guaita und Orsi gehörten dazu, ebenso wie Guarisi und Demaría. Das ging, weil Vittorio Pozzo sein System ähnlich anlegte wie in Südamerika üblich. Das Team, welches Mussolinis faschistisches Italien repräsentierte, war auf Fitness und Robustheit aufgebaut, und einem starken Juventus-Block: FIAT und PNF kollaborierten, um Juventus zu „Italiens Mannschaft“ zu machen, zwischen 1931 und 1935 wurde man fünfmal in Folge Meister.
1938 in Frankreich: Italien
Italien war ein gutes Team, wäre aber 1934 niemals Weltmeister geworden, hätten nicht offenkundig bestochene Referees im Viertelfinale (gegen Spanien) und im Halbfinale (gegen ein schon über den Zenit gealtertes österreichisches Spät-Wunderteam) kräftig nachgehofen. Vier Jahre später ließen sowohl Brasilien im Halbfinale und Ungarn im Finale jeweils zwei, drei Schlüsselspieler ohne erkennbaren Grund draußen (geopolitische Notwendigkeit?), womit ein immer noch robustes und gutes und personell gegenüber 1934 schon recht radikal verändertes italienisches Team den Titel verteidigte. Verteidiger Alfredo Foni übrigens war Teamchef, als Italien 1958 die WM-Qualifikation gegen Nordirland versenkte.
1950 in Brasilien: Uruguay
Nach dem Krieg ging es 1950 weiter, inhaltlich hatte sich nicht viel getan – außer, dass sich nun doch immer mehr das WM-System durchzusetzen begann. Uruguay blieb aber noch beim Mittelläufer-Mittelding und Obdulio Varela gilt noch heute als großartiger Vertreter seiner Zunft. Vom ebenso charismatischen wie mysteriösen Exil-Ungarn Imre Hirschl auf das Turnier vorbereitet, fand Uruguay die richtige Mischung aus Disziplin, Schwung und Unbekümmertheit, düpierte im entscheidenden Spiel ein nervlich zerbröselndes Brasilien im Maracanã trotz 0:1-Rückstand noch mit 2:1. Offensiv-Kreativgeist Juan Alberto Schiaffino ging danach zum AC Milan und war dort sehr erfolgreich, ein annähernd unverändertes uruguayanisches Team erreichte 1954 immerhin noch einmal das Halbfinale.
1954 in der Schweiz: Deutschland
Das deutsche Team war 1950 noch ausgeschlossen und suchte nach Gründung der Bundesrepublik auch sportlich nach dem internationalen Anschluss. Bundestrainer Sepp Herberger hatte sich im Vorfeld der WM 1954 schon früh auf ein Team festgelegt, dessen Kern sich vom 1. FC Kaiserslautern rekrutierte – auch das 1:5-Debakel gegen Hannover im Finale um die Meisterschaft kurz vor der WM änderte nichts daran. Um und Auf im deutschen Spiel war Fritz Walter, der nach heutiger Begrifflichkeit einen klaren Zehner spielte, während Morlock in die Angriffsreihe aufrückte. Alle anderen hatten im Grunde nur die Aufgabe, die Bälle zu erobern und sie bei Fritz Walter abzuliefern. Das funktionierte schon beim 6:1 im Halbfinale gegen Österreich sehr gut, im Endspiel ließ man sich nicht von Ungarns ungewöhnlicher Angriffsformation – die nominellen Verbinder Puskás und Kocsis in der Spitze, dafür Mittelstürmer Hidegkuti aus der Tiefe – nicht entnerven, drehte einen schnellen 0:2-Rückstand zum 3:2-Sieg um und war Weltmeister.
1958 in Schweden: Brasilien
Rapid-Trainer Hans Pesser hatte 1949 von einer Südamerika-Tour das „Brasilianische System“ mitgebracht, in dem nicht nur der Mittelläufer schon als Stopper zwischen den Verteidigern spielte, sondern sich zudem der Linke Läufer ebenfalls nach hinten orientierte, den gegnerischen Mittelstürmer übernahm. Der Stopper hatte somit die Freiheit, das Spiel vor ihm zu eröffnen – die Vor-Form des Libero; bei Pessers Rapid war dies ein gewisser Ernst Happel. Karl Rappan ließ die Schweiz 1954 so spielen, gegen Ende der 1950er experimentierten auch Gipo Viani und Nereo Rocco (beim AC Milan) sowie Fulvio Bernardini (bei der Fiorentina) mit ähnlichen Ansätzen. Brasilien selbst kam 1958 nicht nur mit diesem System, sondern auch mit einem 17-jährigen Wunderkind nach Schweden: Pelé machte sich gemeinsam mit Dribblanski Garrincha und Regisseur Didi über die Gegner her und wirbelte ungefährdet zum ersten brasilianischen WM-Titel.
1962 in Chile: Brasilien
Wie man den brasilianischen Wirbelwind stoppen kann? Vier Jahre nach dem Sturm, den die Seleção über Schweden los ließ, versuchten es die Gegner beim Turnier in Chile vor allem mit Härte. Pelé wurde schon im zweiten Gruppenspiel aus dem Turnier getreten, Amarildo vertrat ihn für die verbleibenden vier Spiele. Im Halbfinale gegen einen im ganzen Turnier sehr zynisch auftretenden Gastgeber ließ sich auch Garrincha zu einer Tätlichkeit hinreißen, er durfte im Finale aber spielen – als Dribblanski auf der rechten Außenbahn, während Zagallo links mit viel Laufarbeit die Defensiv-Arbeit für Pelé bzw. Amarildo miterledigte. Im Finale gegen die Tschechoslowakei profitierte Brasilien auch von zwei groben Schnitzern des tschechischen Torhüters Schrojf, war über das Turnier aber wieder klar des beste Team.
1966 in England: England
Bis Mitte der 1960er hatte sich das 4-2-4 weitgehend durchgesetzt. Nur in Österreich war man wieder zu spät zur Party gekommen: Denn als Edi Frühwirth (der schon Anfang der Fünfziger gegen den ausdrücklichen Willen des ÖFB den 2-3-5-Mittelläufer zum Stopper im WM-System machte) 1965 endlich als erster heimischer Trainer auf das 4-2-4 ging, war Alf Ramsey in England gedanklich schon einen Schritt weiter. Er hatte erkannt: Die Flügelspieler und die Außenverteidiger neutralisierten sich. Viel gewinnbringender wäre es doch, einen Flügelspieler aus dem Mittelfeld kommen zu lassen, wo er mehr Platz hat. Seine Idee ließ er im Viertelfinale der Heim-WM 1966 erstmals auf die große Weltbühne los. Alan Ball gesellte sich zum Umhack-Monster Stiles und zum offensiv denkenden Peters ins Zentrum, dafür kam mit Geoff Hurst ein zweiter Mittelstürmer neben Hunt vor Bobby Charlton rein. Die „Wingless Wonders“ waren geboren und dem berüchtigten Wembley-Tor im Finale zum Trotz: England war mit diesem System den Deutschen im Endspiel inhaltlich klar überlegen.
1970 in Mexiko: Brasilien
Als Brasilien 1969 bei einer Tournee in Europa im Mittelfeld einige Male überrannt wurde, bestand Handlungsbedarf. João Saldanha provozierte mit schnippischen Wortmeldungen in Richtung der mittlerweile in Brasilien herrschenden Militär-Diktatur seinen Rauswurf, Nachfolger Zagallo installierte mit dem jungen Clodoaldo einen Zweikampf-Muskel im Mittelfeld – nicht unüblich der Rolle eines Casemiro in den Nuller-Jahren. Damit hatte die Seleção die defensive Stabilität, die für die offensive Party nötig war: Während die Europäer unter Hitze und Höhenlage in Mexiko stöhnten, brannte Brasilien ein wahres Feuerwerk ab. Das Team, mit dem Pelé seinen dritten WM-Titel feierte, wird in der Heimat (und nicht nur dort) bis heute als das beste National-Fußballteam gefeiert, dass es jemals gab.
1974 in Deutschland: Deutschland
Ende der 1960er entwickelten sich in der Bundesrepublik (neben einem 4-3-3 mit Libero und Manndeckungs-Fetisch) zwei verschiedene Ansätze, wie man mit der zunehmend destruktiven Interpretation des 4-2-4 umgehen konnte: Bayern München mit einem geduldigen, ballbesitzorientieren Spiel, das sich Lücken erarbeitete. Und Borussia Mönchengladbach, das Gegner lockte und mit explosivem Vertikalspiel in entstandene Räume stach. Bei Bayern rückte Libero Beckenbauer nach vorne auf und dirigierte, bei Gladbach ließ sich Netzer fallen und schlug zentimetergenaue 50-Meter-Pässe. 1972 wurde Deutschland mit überragendem Fußball Europameister, dann wechselte Netzer zu Real Madrid, die Form für die Heim-WM passte nicht. Overath gab einen wesentlich konservativeren Widerpart zu Beckenbauer, es klickte einfach nicht und es brauchte eine Niederlage gegen die DDR und eine krachende interne Aussprache. Aber es gelang tatsächlich, im Finale gegen das vom „Totaalvoetbal“ beseelte Holland zu besiegen – dank eines herausragenden Sepp Maier im Tor.
1978 in Argentinien: Argentinien
César Luis Menotti ist einer der faszinierendsten Trainer, die es in den letzten 50 Jahren gegeben hat. El Flaco präsentierte sich gleichzeitig als linke Galionsfigur unter einer ekelhaften Militärdiktatur; als geschickter Verkäufer seiner Arbeit und als Fußballromantiker. Er führte den Backlash nach dem brutalen argentinischen Anti-Fußball der 1960er an, ließ „linken Fußball“ spielen – und zwar mit einer modernen Adaption des alten 2-3-5. Américo Gallego räumte in Stopper-Manier hinter den Quasi-Verbindern Ardiles (klein, quirlig, giftig) und Kempes (bullig, direkt, torgefährlich) ab. Das Duo orchestrierte Fußball für’s Auge. Auch Menottis Argentinien war Boshaftigkeiten aber keineswegs abgeneigt, wodurch man Gegner auch psychologisch bearbeitete – wie die Holländer im Finale, die man vor dem Anpfiff 10 Minuten unter dem Furor der fanatischen Fans einfach warten ließ.
1982 in Spanien: Italien
Die Wurzeln von Italiens Taktik 1982 liegen in Brasiliens Erfolg 20 Jahre zuvor und den Ideen, mit denen Helenio Herrera in den 1960ern den Catenaccio erfunden hat: Ein Flügelspieler (in Italien meist der rechte) zieht sich weit zurück, um Platz für den Spielmacher zu schaffen; auf der anderen Seite konnte der linke Verteidiger in den Raum aufrücken, während der Linksaußen von einem Manndecker am Flügel gestellt wurde. Das „Zona Mista“-Spiel, als ultimative Raumdeckung gedacht, wurde zum Inbegriff von Manndeckung, weil in der Serie A irgendwann alle das Selbe spielten. Schon Österreich hatte 1978 die Schwächen des Systems aufgedeckt, 1982 stellte sich die mentale Resilienz Italiens – mit einem Wettskandal im Rücken – als Trumpf heraus. Mit drei Remis gegen Polen, Peru und Kamerun durch die Vorrunde geschlichen, bremste man in der Zwischenrunde den hohen WM-Favoriten Brasilien aus. In einem zähen Finale gegen ein zynisches BRD-Team mit Zerstörerfußball setzten sich die italienischen Kraftreserven durch – selbst hatte man im Halbfinale Polen locker besiegt, die Deutschen hatten 120 harte Minuten gegen Frankreich in den Beinen.
1986 in Mexiko: Argentinien
1978 als 17-Jähriger war Maradona nicht dabei, 1982 war er dem Druck nicht gewachsen. Aber 1986 sollte sein Turnier werden: Als Regisseur mit allen künstlerischen Freiheiten ausgestattet, sorgte er für Tore, Vorlagen, Flair und Spielfreude. Von ihm abgesehen nämlich war das Team von 1986 das genaue Gegenteil von Menottis 1978er-Generation. Teamchef Carlos Bilardo hatte nichts für fußballerische Meta-Ebenen übrig: Es ging einzig ums Gewinnen, egal wie. Das hieß: Fehlervermeidung um jeden Preis, andere für Maradona die Drecksarbeit machen lassen; hinten nix zulassen und vorne wird’s der Goldjunge schon richten. Das funktionierte: Maradona erzielte beide Tore im Viertelfinale gegen England, beide Tore im Halbfinale gegen Belgien und obwohl er von Lothar Matthäus lange komplett aus dem Finale gedeckt wurde, gelang Maradona der entscheidende Assist zum 3:2-Sieg.
1990 in Italien: Deutschland
Fußballerisch waren die 1980er eine mühsame Zeit. Bis auf wenige Ausnahmen hatte sich plumper Manndeckungs-Fußball durchgesetzt. Gewonnene Zweikämpfe wurden zum ultimativen Mantra, inhaltliche Überlegungen spielten eine Nebenrolle. Und als sich bei der WM 1990 – aller Dolce-Vita-Stimmung zum Trotz – ein Schnarchfest von einem Fußballspiel an das nächste reihte, erfand man sich beim IFAB die Rückpass-Regel, die 1992 in Kraft treten sollte. Der Wende-Weltmeister war bei dem Turnier noch eine der wenigen zumindest halbwegs beschwingten Ausnahmen. Gerade Deutschland! Lothar Matthäus war als aus der Tiefe kommender Spielmacher im Zentrum von zwei grundsätzlich auch kreativen Spielern flankiert, während Buchwald hinter ihm den gegnerischen Spielmacher abmontierte – wie Maradona im Finale. Brehme versenkte kurz vor Schluss den entscheidenden Elfmeter im Endspiel.
1994 in den USA: Brasilien
24 Jahre waren seit dem letzten brasilianischen Titel vergangen, mal fehlte die Klasse (1974, 1978, 1990), mal stand einem ein einzelnes Spiel im Weg (1982, 1986). Mit Carlos Alberto Parreira kam ein ungewöhnlicher Pragmatismus zur Seleção: Das nominelle 4-4-2 war eher ein 4-1-1-2-2, sehr eng interpretiert. Mauro Silva spielte ganz tief einen verkappten Libero; davor dirigierte Dunga das Spiel. Außenverteidiger mit Offensivdrang (Jorginho rechts und der spätere PSG-Sportchef Leonardo bzw. nach dessen Ausschluss im Achtelfinale Branco links) sorgten im Alleingang für die Breite. Zehner Raí, Bruder des großes Sócrates, ging als Kapitän ins Turnier, wurde nach einer schwachen Vorrunde von Parreira aber rasiert; Mazinho übernahm den Platz, Dunga die Binde. Die Seleção verbreitete wenig spielerischen Charme, war solide, aber nicht besonders einfallsreich. Das war in einem Turnier, in dem sich viele Titelkandidaten selbst eliminierten, genug – auch dank Roby Baggios Fehlschuss im finalen Elfmeterschießen.
1998 in Frankreich: Frankreich
In der Frage „Kollektiv- oder Helden-Fußball?“ stand Aimé Jacquet klar auf der Seite der gut aufeinander abgestimmten Mannschaft. Daher hatten Idole wie Eric Cantona und David Ginola auch keinen Platz mehr in seinem Team, als Jacquet nach der verpassten WM-Quali für 1994 das französische Team übernommen hat. Langweiliger Zweck-Fußball hielt Einzug, aber das Kollektiv funktionierte: Blanc als Abwehrchef mit dem agilen Desailly neben ihm; Deschamps als Balleroberer und -verteiler, die Energie von Karembeu, die eleganten 30-Meter-Pässe von Petit, davor ein Zidane mit allen Freiheiten. Bei seiner Sperre im Achtelfinale zeigte sich aber andererseits, wie sehr die Offensive von Zidane abhängig war. Frankreich war gerade offensiv (ein Tor in 235 Minuten gegen Paraguay und Italien, auch gegen Kroatien im Halbfinale hinten) sicher nicht das beste Team des Turniers. Aber man beging die wenigsten Fehler und war erstmals Weltmeister.
2002 in Japan und Südkorea: Brasilien
In der Qualifikation für 2002 hatte Brasilien vier Trainer verschlissen, beinahe hätte man ins Playoff müssen. Luiz Felipe Scolari brachte dann Stabilität ins Team – buchstäblich. Eine Dreierkette in der Abwehr, davor zwei defensive Abräumer (auch der Verletzung von Kapitän Emerson vor derm WM geschuldet); Cafu und Roberto Carlos beackerten die Außenbahn. Alles, um RoRiRo den Rücken freizuhalten: Trickser Ronaldinho, der wuchtige Rivaldo und Ronaldo – von elenden Verletzungen seiner unhaltbaren Explosivität beraubt und zum reinen, aber extrem effektiven Strafraum-Stürmer reduziert – durften mit vielen Freiheiten zaubern, ohne sich um Defensivaufgaben scheren zu müssen. Das war möglich, weil ein kompaktes Verteidigen im Block noch unbekannt war und weil sich fast alle ernsthaften Gegner selbst aus dem Turnier genommen haben. Der Titel von 2002 hat durchaus Parallelen mit jenem von 1970, als letzte Zuckung des Heldenfußballs. In den Siebzigern hatte gesteigerte Physis und Manndeckung den Zauber beendet, in den Nuller-Jahren defensiv-taktische Disziplin.
2006 in Deutschland: Italien
Auch der Libero war 2002 am aussterben, zur EM 2004 hatte sich das flache 4-4-2 als quasi allgemeingültiges System durchgesetzt, die Ketten blieben eng, Flügelspiel war wichtig, das Flair blieb zunehmend auf der Strecke. Was aber, wenn man durchaus einen fähigen Zehner hätte, der im flachen 4-4-2 keinen Platz hat? Dann eben die Raute (die in der deutschen Bundesliga zum vorherrschenden System wurde) – wie Italien mit Totti 2006. Tatsächlich geschah der Wechsel zum 4-2-3-1 (das nicht eher ein Exoten-System war) erst im Viertelfinale. Da opferte Lippi Chancentod Gilardino und besetzte die Flügel doppelt, was vor allem im Halbfinale gegen Deutschland und im Finale gegen Frankreich sinnvoll war. In einem Turnier mit vielen anständigen, aber keinem herausragenden Team war Italien am Ende jenes, das die Lotterie gewann.
2010 in Südafrika: Spanien
Der Siegeszug des 4-2-3-1 war der Notwendigkeit geschuldet, einem flachen 4-4-2 eine Schnittstelle zwischen Mittelfeld und Stürmer einzuziehen. In Spanien (wo man zehn Jahre zuvor der Pionier des 4-2-3-1 war), ging man 2010 aber schon einen Schritt weiter: Pep Guardiola hatte ab 2008 in Barcelona das „Juego de Posición“ entwickelt, ohne echten Zehner, mit zurückgezogenem Stürmer (beide Rollen nahm Messi ein), mit viel Ballbesitz und hartem, schnellen Gegenpressing. Vicente del Bosque hatte nicht ganz die Finesse von Pep und auch keinen Messi – die Folge war viel brotloser Ballbesitz. Die meisten Teams neutralisierten sich bei dem mühsamen Turnier gegenseitig und scheuten das Risiko, auch Spanien, zumal man einen deutlich nicht fitten Fernando Torres als Stürmer durch das Turnier schliff und daher effektiv mit zehn Mann spielte. Der Ballbesitz als ultimative Form des Defensiv-Fußballs setzte sich durch: Kein Gegentor in der kompletten K.o.-Phase, dafür vier 1:0-Siege, jener im brutalen Finale gegen Holland nach Verlängerung.
2014 in Brasilien: Deutschland
Angriffs- und Gegenpressing der Marke Guardiola bzw. Klopp dominierten die Entwicklung der frühen 10er-Jahre, im schwülheißen Brasilien war Heavy-Metal-Fußball aber keine Option. Jogi Löw hatte das Glück, dass die beiden bestimmenden Trainer in Deutschland arbeiteten und er verstand es, die etwas differenten Stile von Pep-Bayern und Kloppo-Dortmund zu einem funktionierenden Team zusammen zu fügen. Das geschah mit gezielten, kurzen Pressing-Läufen und einem Gamble, der sich bezahlt machte: Weil Schweinsteiger und Khedira zu Turnierbeginn nicht fit waren, begann er mit Lahm auf der Sechs. Als das Duo bereit war, kehrte es mit einigen strapaziösen Spielen weniger ins Team zurück, Lahm ging auf die angestammte Position rechts hinten. Nach wackeligen Spielen wie dem Achtelfinale gegen Algerien mit Neuer als Sweeper-Keeper ließ man Frankreich verhungern und zerstörte Brasilien beim legendären 7:1. Der Finalsieg gegen Argentinien war etwas glücklich, über das Turnier war Deutschland aber das solideste und intelligenteste Team.
2018 in Russland: Frankreich
Der Boom des Brutalo-Pressings erreichte durch die extremen physischen Anforderungen davon sein natürliches Ende und zwischen 2014 und 2018 gewann Real Madrid vier von fünf Champions-League-Titeln. Mit… ja, womit eigentlich? Es war kein dogmatischer Masterplan von Ancelotti und Zidane, sondern einfach die perfekte Balance aus einem Top-Stürmer, gutem Flügelspiel, kreativen Mittelfeld-Leuten und einer stabilen defensiven Absicherung. Genau so ein grundsolider Balance-Spieler war Didier Deschamps, und sein französisches Team bei der WM 2018 ging auch in diese Richtung. Die Tore kamen zwar von Griezmann und Rakete Mbappé anstatt von Sturmspitze Giroud, aber sonst? Pogba war großartig, Kanté war Kanté, die Abwehr (zumeist) sicher. Großes Entertainment bekam man von Frankreich nicht geboten und man es gab durchaus Kritik, dass man mit diesem Kader auch attraktiver spielen könnte. Aber schon Otto Rehhagel wusste 2004: Modern ist, wer Erfolg hat. Oder so.