Der Abstoß: Eine Sinnsuche

Österreich verabschiedet mit einem 0:2 gegen Deutschland aus der EURO 2022. Das Frauen-Nationalteam hat gegen hoch favorisierte Gegnerinnen eine starke Leistung abgeliefert (Philipp wird nach seinem Urlaub noch mehr dazu schreiben). Aber am Ende des Abends sprachen trotzdem alle von einem Patzer, der den Deckel draufgemacht hat. Dieser Abstoß. Der Versuch einer Erklärung.

88:56

Es war bei Minute 88:56. Österreich war im Ballbesitz. Eine Standardsituation. Keine Gefahr. Als Innenverteidigern Carina Wenninger den am Fünfer aufgelegten Ball an Torfrau Manuela Zinsberger abspielt.

88:58

Zinsberger nahm den Ball an. Sie legte ihn sich vor. Etwas weiter als sonst. Aber wie schon einige Male im Spiel Turnier, wollte sie ihn weit wegschlagen.

88:59

Doch die Deutsche Alexandra Popp war in der Zwischenzeit im halben Sichtschatten von Zinsberger herangenaht, und blockte den Ball.

89:00

Als die Matchuhr vier grausame Sekunden nach dem Abstoß auf 89:00 umschlug, rollte der Ball über die Linie. Popp hatte ein Tor erblockt. Das 2:0 war das zweite österreichische Geschenk des Abends. Der Sommertraum der Österreicherinnen war vorbei.

Und das Publikum in Österreich fragte sich: Wieso, bitte?

Wieso ein solcher Abstoß?

Die Antwort ist nicht einfach zu finden. Aber weil die Variante so offensichtlich beabsichtigt eingesetzt wurde, und wir Irene Fuhrmann zumindest im Moment gerade nicht fragen können, wage ich den hypothetischen Versuch.

Zuerst einmal zur Erinnerung: der Abstoß wäre noch vor kurzer Zeit unmöglich gewesen. Ein Abstoß hatte den Regeln zufolge den Strafraum zu verlassen, bevor ein:e Mitspieler:in ihn berühren hätte dürfen. Seit sich das zur Saison 2019/20 geändert hat, wird mit den neuen Gegebenheiten experimentiert. Kürzere Abspiele sind bei einigen ballsicheren Mannschaften populär geworden. Es ist ein legitimer Versuch, das Feld so groß wie möglich zu machen.

Trotzdem ist die ÖFB-Frauen-Variante ein Fall für sich. Aufgrund der schieren Richtung, in die Bälle wie dieser abgespielt werden. Andere Teams spielen den Ball in der Regel die Torlinie entlang zur Seite. Von der Torfrau zur Verteidigerin. Und dort suchen sie eine nächste Station. Doch die ÖFB-Innenverteidigerinnen spielen den Ball immer wieder in die Mitte zur Torfrau. Und die wird meist recht schnell unter Druck gesetzt und tritt meist ohne Raumgewinn einen weiten Ball.

Kann es einen Grund dafür geben?

Das ist ehrlichweise eine Kopfnuss. Konzeptionell gesehen ist der eigene Fünfmeterraum die Zone am Feld, in der wenig gewonnen aber viel verloren werden kann. Man würde meinen, es ist DIE Zone, in der man keinen Druck einladen möchte. Trotzdem scheint genau das die Strategie zu sein.

Wenn das gut geht, ist die Belohnung klein. Aber es könnte beim hartnäckigen Versuch vielleicht einen Sinn in der schwer erklärbaren Vorgehensweise zu finden, zumindest eine geben: Die gegnerischen Stürmerinnen, wären so weit wie möglich aufgerückt. Einmal überhoben wären sie in der nächsten Aktion ziemlich sicher aus dem Spiel. Und das Spiel ist in Bewegung gebracht. Beides erleichtert vielleicht etwas den Kampf um den vor allem zweiten Ball im Mittelfeld, den die Österreicherinnen immer wieder sehr gut beherrschen.

Bei einem direkten Abschlag auf ein unbewegtes Feld ist das verteidigende Team besser aufgestellt. Nur: wenn diese Überlegungen zutreffen, geht es allenfalls um eine leichte Verschiebung der Wahrscheinlichkeiten. Und das Verhältnis zwischen einem theoretischen Nutzen der Abstoßvariante und einem immer gegebenen Risiko scheint hier einfach nicht zu stimmen.

Und zudem stellt sich die Frage. Hätte ein Pass von Zinsberger auf Wenninger (oder in die andere Richtung auf Georgieva) vom Tor weg nicht wirklich einen ähnlichen aber etwas weniger riskanten Effekt? Ja, man wäre etwas zur Seite verlagert, aber würde ebenfalls mindestens eine Stürmerin an sich ziehen und das Feld in Bewegung bringen.

Was hätte das gegen Deutschland gebracht?

Nicht nur, weil sie es nach diesem Zuspiel die ganze Zeit tat, sondern auch weil es die 89. Minute war und Österreich im Rückstand, war immer wahrscheinlich, dass Zinsberger den weiten Ball suchen würde. Die Mitspielerinnen im Strafraum wussten es, den sie boten sich für einen kurzen Pass gar nicht mehr an. Und Popp wusste es. Die Deutschen hatten (wie immer wenn Wenninger sich zu dieser Variante zum Ball stellte) zwei Spielerinnen am Sechzehner, die so aus dem Spiel genommen worden wären.

Allerdings: Die standen schon zu Beginn der Szene ganz nah am Strafraum und hätten auch nach einem direkten Abschlag – oder einem Abschlag nach einem Pass zur Seite – kaum in die nächste Aktion eingegriffen. Der Gewinn in der Situation wäre also gering gewesen. Selbst wenn sie funktioniert hätte.

Gemischte Bilanz früherer Versuche

Und wenn es hinhaut? Es gab auch in der 41. Minute mit derselben Variante zwar einen geglückten Abschlag, aber einen direkten Ballverlust im Mittelfeld. In der Nachspielzeit der ersten Hälfte funktionierte die Variante mit Georgieva einmal und musste davor mit Wenninger wegen eines Regelverstoßes einmal wiederholt werden. In anderen Szenen war im TV aufgrund der Regie schwer zu erkennen, ob sie versucht wurde (ebenso wie wohlgemerkt andere mögliche Bewegungen oder aufschlussreiche Bilder aus dem Mittelfeld nie zu sehen waren).

Neben der prinzipiellen Frage des Sinnhaftigkeit war es wohl auch situativ am Ende vermutlich eine Fehlentscheidung der Spielerinnen, die Option in der 89. Minute überhaupt zu ziehen. Mit dem hektischen Willen, so schnell wie möglich vor zu kommen und der Torfrau gar keine alternative Anspielstation zu bieten, wurde das Risiko eines katastrophalen Fehlers maximiert – ein Automatismus vielleicht zum falschen Zeitpunkt abgespielt. Der Trost: im Endeffekt war es wohl auch nicht das entscheidende Tor, sondern nur das, das endgültig den Deckel drauf gemacht hat.

Ob es sich aber lohnt, die Variante in der Zukunft im Repertoire zu behalten, ist schwer fraglich.

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