Kein Fußballspiel ist in Österreichs Fußballgeschichte so verklärt wie dieses. Bei den einen sorgt schon das Wort „Córdoba“ für verdrehte Augen, für die anderen steht es, ebenso wie Edi Fingers berühmter Radio-Kommentar, für die größte Stunde im heimischen Fußball seit dem Krieg. Auch 42 Jahre danach sorgt der österreichische 3:2-Sieg über Deutschland noch für Emotionen.
Aber wie gestaltete das Spiel jenseits mythischer Zuschreibungen, wie trat das ÖFB-Team 1978 taktisch und spielerisch auf? Dieser weitgehend blinde Fleck verlangt nach neutraler, nüchterner Beobachtung.
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Hans Krankl hat mit dem FC Barcelona den Europacup gewonnen, Herbert Prohaska mit der Roma den Scudetto und Bruno Pezzey mit Frankfurt den UEFA-Cup, Walter Schachner verbrachte später sieben Jahre in der Serie A – für sie war die WM 1978 der internationale Durchbruch. Für die Routiniers Edi Krieger, zuvor mit Brügge im Meistercup-Finale, und Josef Hickersberger war die WM Höhe- und Schlusspunkt ihrer internationalen Karrieren.
Sie alle sind untrennbar mit dem Begriff „Córdoba“ verbunden, doch nicht bei allen war es tatsächlich klar, dass sie auch spielen würden. Andere hatten ihren Fixplatz im Team vermeintlich sicher gehabt.
Personalsuche im Vorfeld
So wäre das Wunsch-Duo im defensiven Mittelfeld eigentlich Josef Hickersberger und Roland Hattenberger gewesen. Hickersbergers lädiertes linkes Knie wurde rechtzeitig heil, Hattenbergers Schulter nicht. Stürmer Sepp Stering, die wie Hattenberger sämtliche Quali-Spiele absolviert hatte, war mit einem Kreuzbandriss out.
Auch Erich Obermayer hat sich erst in den letzten Vorbereitungsspielen statt Peter Persidis in die Startformation gespielt, als staubiger Ausputzer-Libero hinter dem aufrückenden Pezzey. Eine Offensiv-Variante mit Pezzey und Offensiv-Libero Edi Krieger, wie in der Quali etwa gegen Malta, war Teamchef Helmut Senekowitsch zu riskant. Außerdem laborierte Krieger im Vorfeld des Turniers an einer Rippenverletzung und war für das erste Match gegen Spanien ohnehin gesperrt.
Das Fehlen von Hattenberger wurde nach der Ankunft in Argentinien immer mehr zur Gewissheit. Zunächst schien Senekowitsch eine Variante mit Günther Happich oder Heribert Weber statt Hattenberger zu favorisieren; Ernst Baumeister wäre der Hickersberger-Backup gewesen.
Oder, andere Variante: Kreuz – hängender Stürmer oder Flügel – rückt ins Zentrum, dafür der flinke Oberacher oder der direktere Schachner neben Krankl ganz vorne. Auch als möglich wurde eine Variante mit Hickersberger (der in Düsseldorf vom Libero bis zur Sturmspitze schon alles gespielt hatte) am Flügel betrachtet. Dann hätten Weber, Prohaska und Kreuz im Mittelfeld sowie Jara am anderen Flügel gespielt sowie Krankl als Solo-Spitze.
Das eigentliche Schlüsselspiel
Bei der WM in Argentinien nahmen 16 Teams teil, in der Vorrunde wurden vier Vierergruppen absolviert. Die Top-2 jeder Gruppe zogen in die Finalrunde mit wiederum zwei Vierergruppen ein. Deren Sieger bestreiten das Endspiel, die jeweiligen Zweiten das Match um Platz drei. Österreich war in einer Vorrundengruppe mit Turnier-Mitfavorit Brasilien sowie mit Spanien und Schweden. Das als recht hoch gesteckt betrachtete Ziel war der Einzug in die Finalrunde, im Grunde war man in Österreich aber happy, überhaupt erstmals nach 20 Jahren wieder bei einer WM dabei zu sein.
Für das erste Match gegen Spanien war klar, dass es zumindest einen Punkt braucht, um auf die Finalrunde hoffen zu können. Senekowitsch entschied sich für Schachner als zweite Spitze, der junge Steirer kam eher aus der Etappe des linken Flügels. Kreuz bearbeitete den rechten Flügel; Hickersberger bildete mit Prohaska ein Zwei-Mann-Zentrum und Jara wurde links aufgestellt.
Österreich begann nervös, ging aber nach zehn Minuten durch einen von Schachner sehenswert abgeschlossenen Konter 1:0 in Führung. Die Spanier blieben das Team mit mehr Ballbesitz und waren auch nach dem 1:1 durch einen Weitschuss von Dani (21.) die Mannschaft auf der aktiven Suche nach Gelegenheiten. Österreich klammerte sich an das Remis und setzte vereinzelte Nadelstiche, ehe in der 77. Minute sogar das Siegestor fiel: Miguel Angel konnte einen Weitschuss von Jara nicht fangen, Krankl staubte ab.
Der 2:1-Erfolg war ein „Hit and Run“, ein durch solide Defensive mit zwei verwerteten schnellen Gegenstöße sowie einem zwar dominanten, aber auch eher einfallslosen Kontrahenten aus Spanien gesicherter Erfolg. Ohne dieses etwas glückliche 2:1 zum Auftakt wäre das restliche Turnier aus österreichischer Sicht so nicht möglich gewesen.
Österreich 1978 aus taktischer Sicht
Eine wirklich aufregende Mannschaft im Sinne eines Spektakels war das ÖFB-Team 1978 nicht. Zwei Punkte muss man aber herausheben: Die sehr genau abgestimmte und zumeist ungemein taktisch disziplinierte Balance zwischen Abwehr und Mittelfeld sowie die gute Ballbehandlung. Gab es 1990 und 1998 immer (mindestens) eine handvoll technisch limitierter Kampfkicker, konnte 1978 tatsächlich jeder mit dem Ball umgehen und war ein potenzieller Spielgestalter – allenfalls der als reine Absicherung spielende Libero Erich Obermayer fällt da ein wenig heraus.
Das bestimmende Element im Aufbau waren die Vorstöße von Bruno Pezzey. Der damals noch sehr junge Wuschelkopf hatte im Vorwärtsgang genau jene Rolle inne, mit der Franz Beckenbauer in den zehn Jahren davor die Rolle des Libero revolutioniert hatte. Die Vorstöße Beckenbauers hatten im Zentrum für Überzahl gesorgt und boten somit Raum und Zeit zur Spielgestaltung.
Dies war grundsätzlich bei Pezzey genauso, mit dem Unterschied, dass er zusätzlich nomineller Manndecker der gegnerischen Sturmspitze war. Im ÖFB-Team war es Libero Obermayer, der Pezzey den Rücken frei hielt; einer aus dem zentralen Mittelfeld – zumeist Hickersberger – sicherte zusätzlich ab.
Routinier Hickersberger war im Zentrum für die Absicherung, die Balleroberungen, die Übersicht und das Stopfen von Löchern zuständig. Sein Aktionsradius war extrem groß, er arbeitete, damit Prohaska – stark in der Gestaltung, aber mit Schwächen in der defensiven Zweikampfführung – mit Läufen aus der Tiefe das Spiel nach vorne tragen kann. Krieger, der ab dem zweiten Match spielte, konnte je nach Anforderung als Wachhund für den gegnerischen Gestalter oder als vertikaler Box-to-Box-Spieler eingesetzt werden.
Das bedeutete, dass Österreich 1978 eine solide Defensive sowie ein gut abgestimmtes und im Spiel gegen den Ball recht versiertes Mittelfeld hatte. Das hieß aber auch, dass sich die Arbeit im Aufbau auf die jungen Schultern von Prohaska (22) und Pezzey (23) konzentrierte. Dies machte die österreichische Spielgestaltung relativ berechenbar. In den fünf Spielen bis zum Deutschland-Match gelangen nur vier Tore: Ein Konter, ein Abstauber nach Weitschuss, ein Elfmeter und nur ein einziges nach einem gezielten Aufbau.
Turnierverlauf für das ÖFB-Team
Weil auch den Schweden eine Safety-First-Spielweise eigen und die Trekronor mit Spielmacher Anders Linderoth auch sehr eindimensional waren, entwickelte sich im zweiten Spiel Österreichs eine zähe Angelegenheit ohne Torraumszenen. Ein geschenkter Elfmeter verhalf dem ÖFB-Team kurz vor Ende der ersten Halbzeit zur Führung, Konter gegen die zum Risiko gezwungenen Schweden danach wurden nicht genutzt. Durch den 1:0-Erfolg stand der Aufstieg in die zweite Gruppenphase aber schon fest.
Brasilien hatte weder gegen Schweden (1:1) noch gegen Spanien (0:0) gewonnen und brauchte gegen Österreich einen Sieg, zudem fielen Spielgestalter Rivelino (krank) sowie dessen Partner Zico und Stürmer Reinaldo (beide verletzt) aus. Österreich kam mit dem damals unüblichen 4-2-2-2 Brasiliens nicht zurecht und der letzte mentale Punch fehlte auch, eine nervöse Seleção gewann 1:0. Damit war Brasilien weiter und Österreich Gruppensieger.
Österreich rechnete sich im ersten Finalrunden-Spiel gegen Holland Chancen aus, das von Ernst Happel trainierte Oranje-Team hatte bis dahin nicht überzeugt. Der stumpfe, langsame Rasen von Mendoza hatte Holland vor Probleme gestellt, aber auf dem kurzen, schnellen Geläuf von Córdoba kam das flinke Pressing- und Positionswechselspiel voll zur Geltung. Nach einem schlecht verteidigten Standard, einem patscherten Elfmeterfoul von Prohaska und einem Konter lag Österreich schon zur Pause 0:3 im Rückstand, die Köpfe blockierten, die defensive Disziplin war weg und am Ende hieß es gar 1:5.
Gegen die Italiener, die beim 0:0 gegen Deutschland klar dominierend gewesen waren, gab es hingegen die sicherlich cleverste Vorstellung im ganzen Turnier. Senekowitsch nützte den Systemvorteil, den Österreich gegen Bearzots italinisch-typisches, schiefes 3-5-2 hatte, voll aus. Kreuz und Schachner spielten auf vertauschten Seiten, wodurch Cabrini weit nach hinten gedrückt wurde, dafür stand Gentile oft verloren im Halbfeld herum; Krieger kümmerte sich um Rossi – somit hatte Sara keinen Gegenspieler und war der wahre Spielgestalter. Ein verlorenes Laufduell von Strasser gegen Rossi brachte eine unglückliche 0:1-Niederlage.
Das deutsche Team
Deutschland kam als amtierender Weltmeister und EM-Finalist nach Argentinien, aber es war nicht mehr das Team von 1974. Der Hauptunterschied: Franz Beckenbauer war nicht mehr dabei.
Die deutsche Erfolgself, die 1972 Europameister und 1974 Weltmeister war und 1976 noch einmal ins EM-Finale kam, war personell und taktisch eine Mischung der dominierenden Bundesliga-Teams von damals – den Bayern mit ihrem geduldigen Ballbesitzspiel und dem aufrückenden Beckenbauer sowie Mönchengladbach mit dem spritzigen Umschaltspiel und vielen Positionswechseln.
Noch 1976 beim EM-Finale wurde ein Bayern-Ballbesitzspiel mit drei maßgeblichen Bayern-Spielern gezeigt – Beckenbauer, Schwarzenbeck und Hoeneß. Zwei Jahre später wurde vor allem Beckenbauer vermisst, dessen Platz als Libero von Manni Kaltz eingenommen wurde. Dieser war vor allem als Rechtsverteidiger von Offensivgeist beseelt, aber ihm fehlte die Übersicht und die gestalterische Gabe von Beckenbauer (wie allen anderen Kandidaten, fairerweise).
So ähnelte das deutsche Spiel jenem der Österreicher durchaus: Defensiv solide und kaum zu überwinden, aber ohne jeden Punch im Spiel nach vorne. Hölzenbein, Bonhof und Flohe waren gute Spieler, aber ohne die Präsenz und die Ideen vom Libero fehlte etwas. Dazu tüftelte Bundestrainer Helmut Schön ohne Erfolg an der Besetzung der Flügelpositionen. Dribbler Abramczik isolierte sich selbst, Dieter Müller war eher im Zentrum daheim, Hansi Müller eher im offensiven Mittelfeld.
Ein Interview von DFB-Präsident Hermann Neuberger, in dem er Schön und der Mannschaft fehlenden Teamgeist, fehlende Ideen, fehlende Kondition und schlechtes Training vorwarf sowie eine interne Standpauke ankündigte, sorgte zusätzlich für Zündstoff. Der daheim gebliebene Paul Breitner richtete der DFB-Delegation via seiner Kolumne in der „Bild“ öffentlichkeitswirksam allerhand Meinung aus. Es rumorte gewaltig.
In der Vorrunde kam Deutschland nicht über 0:0 gegen Polen und Tunesien hinaus, das 6:0 gegen Mexiko blieb der einzige Sieg; in der Finalrunde gab es ein glückliches 0:0 gegen Italien und ein unglückliches 2:2 gegen Holland. „Wer unter die besten Vier kommen will, muss schon hin und wieder eine Begegnung gewinnen“, stöhnte Schön, zumal Heinz Flohe nach einer Muskelzerrung im Italien-Spiel nicht mehr zur Verfügung stand.
Somit brauchte Deutschland für einen Finaleinzug ein Remis im Parallelspiel und einen eigenen Sieg mit fünf Toren Differenz über Österreich. Ein knapperer Sieg reichte sicher für das Spiel um Platz drei, ebenso ein eigenes Remis bei einer italienischen Niederlage gegen Holland. Österreich war fix schon vor dem Duell mit Deutschland fix ausgeschieden.
Trash Talk
Schon nach Abschluss der Vorrunde vermittelten die Österreicher den Eindruck, dass die Finalrunde ein schöner Bonus ist und alle Ziele im Grunde erreicht sind. Man wollte sich gegen Holland und Italien vernünftig verkaufen, aber man wusste vor allem: Im letzten Spiel gegen Deutschland kann man dem ungeliebten Nachbarn noch viel kaputtmachen. Entsprechend wurde gestichelt. „Wenn die Deutschen gegen uns so schwach sind wie gegen Polen und Tunesien, freue ich mich schon auf das Spiel“, feixte Hickersberger im Kicker.
Auf Manni Kaltz‘ selbstbewusste Ansage, er würde sich selbst zu den drei besten Abwehrspielern der Welt zählen, konterte Kurt Jara trocken: „Dann müssten aber mindestens 300 andere in den letzten Tagen gestorben sein.“ Herbert Prohaska attestierte dem DFB öffentlich „fehlende Spielerpersönlichkeiten“ und sogar Teamchef Senekowitsch versprach dem Titelverteidiger: „Ein Aussetzer wie gegen Holland passiert uns nur einmal.“
Nicht, dass die verbalen Spitzen nur von Österreich nach Deutschland geflogen wären, keineswegs. Aber der kleine Underdog lehnte sich bei medialen Trash Talk in den Tagen vor dem Match schon ungewöhlich weit aus dem Fenster.
Selbstbewusste österreichische Anfangsphase
Von einem deutschen Sturmlauf, um den angepeilten 5:0-Sieg einzufahren, war von Anfang an nichts zu bemerken. Im Gegenteil: Schon in den ersten Minuten wurden alle Schwächen, welche das DFB-Team im Turnierverlauf gekennzeichnet hatte, deutlich sichtbar. Das Spiel wurde fast nur mit dem Ball am Fuß nach vorne getragen. Vor der Abwehr gab es vor allem Querpässe, um einen Kanal zu finden, in den man hineindribbeln konnte.
Ganz anders die Österreicher. Das Mittelfeld wurde sehr schnell überbrückt und vor allem die linke Seite war sehr konstruktiv. Heini Strasser nützte seinen Ballbesitz gegen den defensivfaulen Abramczik gut, Willy Kreuz sorgte für Überladungen gegen Berti Vogts. So konnte Kreuz auf der linken Seite weitgehend ungehindert nach vorne arbeiten, vor allem, wenn es schnell ging.
Vermutlich hatte Schön Kreuz tatsächlich auf der linken Angriffsseite erwartet, so wie er es zumeist gegen Italien gespielt hat, weil er seinen rechten Manndecker Vogts auf Kreuz angesetzt hatte und Dietz, der immer den gegnerischen Rechtsaußen übernahm, auf Schachner. Weil Kreuz und Schachner aber bald auf ihre üblichen Seiten wechselten, war Dietz plötzlich rechts-defensiv und Vogts links aufgestellt. „Strikte Manndeckung“, wie auch ORF-Kommentator Robert Seeger schnell bemerkte.
Auch, dass „Österreich so offensiv agiert wie noch in keinem Spiel bei dieser WM“, vermittelte Seeger recht bald. Dennoch war es das deutsche Team, das wie aus dem Nichts nach 18 Minuten in Führung ging: Karl-Heinz Rummenigge taucht plötzlich auf der rechten Seite auf, kein Österreicher ist da, um ihn zu übernehmen, doppelter Doppelpas mit Dieter Müller, und schon steht’s 1:0 für Deutschland.
Weiter keine Struktur bei Deutschland
Die angriffigere Spielweise hatte dafür gesorgt, dass im österreichischen Zentrum die gewohnte Kompaktheit gefehlt hatte und man relativ offen gegen den Ball agierte, so hatte man sich auch das Gegentor eingefangen, aber dennoch blieb Österreich grundsätzlich das besser abgestimmte Team. Doch bei allem Offensivgeist: Da Kreuz und Schachner von relativ weit hinten kamen und – wie in den vorangegangenen fünf Spielen auch – das Nachrücken einem gewissen Sicherheitsgedanken geopfert wurde, blieb Krankl ganz vorne oft ein wenig isoliert.
Deutschland ließ auch mit der Führung im Rücken jede Struktur vermissen. Es ließ sich noch weiter zurückfallen und die Spitzen wurden nur noch durch lange Bälle ins Spiel gebracht. Beer hing in der Luft, Hölzenbein wurde durch Sara und Kreuz vermehrt zum Helfen zur Außenbahn gedrängt und Bonhof fand selten ein Ziel für seine dynamischen Vertikalläufe.
Die größte Vorgabe blieb aber Abramczik. Strasser hatte den Standard-Trick des 22-Jährigen schnell durchschaut (Haken nach rechts), ließ Abramczik immer wieder auflaufen und der Schalker blieb isoliert. Nur sein Mundwerk lief heiß. „Ein ekelhafter Mensch“, sollte Robert Sara danach sagen: „Jeder Italiener, gegen den wir gespielt haben, war sympathischer als er!“ Ambraczik provozierte seine Gegenspieler am laufenden Band, kurz vor Schluss streckte er Koncilia nach einem Abwurf nieder, wandelte vor allem gegen Ende am Rande des Ausschlusses.
Österreich fast der Zahn gezogen
Deutschland brachte die 1:0-Führung in die Halbzeit, Schön brachte für den zweiten Abschnitt Hansi Müller statt Erich Beer. Der 20-jährige Stuttgarter brachte spürbar Linie ins deutsche Spiel. Mit ihm gelang es dem DFB-Team viel besser, den Ballbesitz im Angriffsdrittel zu halten, er unterstützte auch die Offensiv-Reihe darin, Vorstöße von Pezzey zu unterbinden und Steilpässe zu den österreichischen Stürmern zu verhindern.
Zwar brannte in der ÖFB-Defensive nicht viel an, weil diese in der Rückwärtsbewegung gut verzögerte und den Deutschen die Anspielstationen nahm. Hansi Müllers Positionierung auf der halblinken bis linken Seite bedeutete aber, dass Rummenigge mehr Freiheiten hatte und nun als extrem mobiler Zehner agierte. So waren Sara (mit Hansi Müller) und Pezzey (mit Dieter Müller) gebunden und Rummenigge wurde ohne direkten Gegenspieler zum klar gefährlichsten Deutschen.
Dies wiederum zwang Hickersberger zu vermehrtem Hintenbleiben und die Versuche der Österreicher, Chancen zu kreieren, waren immer mehr von einer gewissen Ratlosigkeit gezeichnet. Deutschland war, immer noch 1:0 in Führung, auf dem besten Wege, den rot-weiß-roten Kontrahenten den Zahn zu ziehen. Bis zur 60. Minute, als Krieger nach einem Vorstoß den Ball von halbrechts vor das Tor hebt, Kreuz nicht ganz zum Kopfball kommt und die Kugel dem hinter Kreuz postierten Vogts auf die Beine fällt und von dort ins Tor kullert.
Der österreichische Ausgleich zum 1:1 hatte sich in der Viertelstunde davor nicht gerade abgezeichnet.
Schlag auf Schlag
Der deutsche Plan, das 1:0 staubig über die Zeit zu bringen, war durchkreuzt. Das Finale hatte das DFB-Team offenkundig abgeschrieben, aber zumindest das Spiel um Platz drei hätten sie schon gerne noch gespielt. Jedenfalls stachelte der Ausgleich die deutschen Lebensgeister spürbar an; für den kaum sichtbare Dieter Müller kam mit Klaus Fischer eine neue Sturmspitze.
Im eigenen Defensiv-Drittel schufen die Deutschen nun stets schnell Überzahl in Ballnähe und das Zweikampfverhalten im Mittelfeld war nach dem Ausgleich ebenfalls robuster, die ganze Herangehensweise körperlicher. Im Parallelspiel hatte Holland gegen Italien zum 1:1 ausgeglichen, es brauchte also immer noch einen deutschen Sieg für das Kleine Finale.
Aber es war die österreichische Mannschaft, die nachsetzte. Strasser spielte auf der linken Seite den vorstoßenden Krieger frei, dessen Flanke fand Krankl. Dessen Bewacher Rüssmann war zwei Meter weg, Libero Kaltz stand *irgendwo*, so konnte Krankl die scharfe Flanke mit links stoppen, einmal am Boden auftropfen lassen und mit einem Drehschuss zum 2:1 verwerten.
Die österreichische Führung währte aber nicht lange: Nach Wiederanpfiff war der Ball exakt 12 Sekunden im Spiel, ehe Hickersberger mit einem Foul an Abramczik einen Freistoß verursachte. Bonhof brachte diesen vor das Tor, Hölzenbein war mit dem Kopf zur Stelle, Ausgleich zum 2:2.
Schlagabtausch in der Schlussphase
In der Folge bekam das Spiel immer mehr von einem Handball-Match. Beide Offensiv-Reihen und beide Defensiv-Abteilungen blieben jeweils in ihrem Bereich, ein konstruktives Mittelfeld gab es nicht mehr und die Bälle flogen in hohem Bogen von einem Strafraum zum anderen. Die Kräfte waren offenkundig am Schwinden.
Holland erzielte zeitgleich das 2:1 gegen Italien und den Deutschen würde damit das 2:2 zum zweiten Gruppenplatz reichen. Ab etwa der 80. Minute ging Bonhof vermehrt nach vorne, mit dem offensichtlichen Bestreben, einen österreichischen Aufbau von hinten schon im Keim zu ersticken. Mit Erfolg: Lange Seitenverlagerungen und hohe Steilpässe kamen praktisch nicht mehr an.
Krankls zweiter großer Auftritt
Es war offensichtlich, dass das Spiel einem Endstand von 2:2 entgegen schnaufte, mit dem die Deutschen um Platz drei spielen dürften und mit dem sich Österreich mit erhobenem Haupt von der WM verabschieden würde können. Und dann, 87. Minute, schlug Robert Sara von der Mittellinie eine 50-Meter-Seitenverlagerung, die Rüssmann falsch berechnete und so den Weg zu Hans Krankl fand.
Rüssmann sprintete Krankl hinterher, holte ihn aber nicht mehr ein. Kaltz konnte den Rapid-Stürmer auch nicht mehr aufhalten, der schoss, traf, das 3:2, Jubel. „Das ganze Turnier habe ich keinen Libero hinter mir gebraucht – nur bei diesem Tor, und da war von Manni Kaltz nichts zu sehen“, sollte Rüssmann noch Jahre später schimpfen.
Eine Minute später hatte Abramczik den erneuten schnellen Ausgleich noch auf dem Fuß, als die österreichische Abseitsfalle bei einem Standard nicht funktionierte, aber der Schuss ging knapp rechts am Tor vorbei. Dann pfiff Referee Abraham Klein das Match ab.
Der erste österreichische Sieg über Deutschland nach 47 Jahren war Tatsache.
Ende und Anfang
Ohne das späte Tor von Krankl hätte es Deutschland tatsächlich geschafft, mit einem einzigen Sieg in sechs Spielen um Bronze kämpfen zu dürfen. So hatte Italien trotz des 1:2 gegen Holland den zweiten Gruppenplatz gesichert und holte sich im P3-Spiel ein 1:2 gegen Brasilien ab. Helmut Schön vollzog seinen angekündigten Rückzug und zwei Jahre später, als sich das DFB-Team den EM-Titel holte, waren nur noch Kaltz, Dietz, Rummenigge und Hansi Müller übrig. In Córdoba endete eine große deutsche Ära…
…und eine starke österreichische begann. Für Krankl, Prohaska und Pezzey war das Turnier das Sprungbrett zu erfolgreichen Karrieren in Spanien, Italien bzw. Deutschland. Helmut Senekowitsch, der von Sekaninas bonzenhaften Gutsherren-Art, den ÖFB zu führen, genug hatte, zog es nach Mexiko, später nach Spanien, Griechenland und für ein paar Monate auch nach Deutschland. Die mit acht Teams ausgetragene EM 1980 verpasste Österreich hauchdünn gegen den späteren Finalisten Belgien, bei der WM 1982 zog man trotz internen Problemen wieder in die zweite Gruppenphase ein.
Das Spiel in Córdoba selbst war untypisch für das ÖFB-Team bei der WM 1978 – weil eine an sich eher defensivstarke Mannschaft von Beginn an mit großem Drang nach vorne agierte und es sichtbar war, dass es sich für sie um mehr als das sechste Turnier-Spiel handelte. Hier war eine Truppe am Werk, die ein Statement setzen wollte. Nicht das Spiel an sich, aber dieses gesetzte Ausrufezeichen in diesem bis heute letzten Bewerbsspiel außerhalb Europas prägte den österreichischen Fußball und dessen interne Wahrnehmung über viele Jahre hinweg – zumal Österreich in den zehn Bewerbsspielen gegen den DFB seither ein Remis und neun Niederlagen bei 4:23 Toren eingefahren hat.
Und der Mythos Córdoba ist bis heute präsent – zumindest, wenn es mal wieder gegen Deutschland geht.
Ballverliebt gibt es nur mit deiner Hilfe!
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