Vor 20 Jahren: Der Kegelabend von Valencia

Pep Guardiola hat den Ball am Fuß und viel Raum vor sich. Raúl bietet sich an, indem er aus dem Strafraum heraus entgegen kommt, weder Manndecker Schöttel noch Libero Feiersinger erwarten den Pass. Raúl bekommt den Ball, dreht sich, legt schnell rechts auf Nebenmann Urzaiz ab und zieht wieder in den Strafraum hinein. Urzaiz gibt den Ball auf Raúl zurück, dieser steht vor Wohlfahrt, zieht ab, trifft. Das 1:0 für Spanien, fünfeinhalb Minuten sind gespielt.

Valencia, 27. März 1999, 21.50 Uhr. Das Unheil nimmt seinen Lauf.

Spanien – Österreich 9:0 (5:0)

Bis auf Landskrona neun Jahre zuvor hat wohl kein anderes Spiel Österreichs immerwährenden fußballerischen Minderwertigkeits-Komplex so nachhaltig Nahrung gegeben wie der Kegelabend von Valencia, das 0:9 in Spanien. Der Abend, an dem Raúl und Co. dem ÖFB-Team die sprichwörtlichen „alle Neune“ einschenkten.

Und kaum ein anderes Zitat ist im heimischen Fußball so berühmt geworden wie Toni Pfeffers lakonischer Kommentar in der Halbzeitpause. „Na, hoch wer‘ ma’s nimmer g’winnen, des is amoi kloa“, keuchte er Andi Felber ins ORF-Mikro. Da stand es bereits 0:5.

Aber wie konnte es so weit kommen? War das 0:9 ein schmerzhafter, historischer Zufall oder eher ein sich anbahnendes Desaster, das irgendwann einfach passieren musste? Und wurden die richtigen Schlüsse daraus gezogen – oder wurde überhaupt aus der Blamage gelernt?

Hier der Versuch einer Einordnung.

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Die Vorgeschichte

Spanien hatte bei der WM enttäuscht, agierte zu verhalten und schied schon nach der Vorrunde aus. Die EM-Quali begann zudem mit einem peinlichen 2:3 in Zypern – einer Mischung aus schlampiger Defensive, kopfloser Offensive und auch ein wenig Pech. Die Blamage von Larnaca jedenfalls kostete dem angezählten Trainer Javier Clemente endgültig den Job. Sein Nachfolger José Antonio Camacho führte sich mit einem 2:1-Sieg in Israel ein.

Spanien und Österreich bei der WM 1998

Österreich war ebenso in der WM-Vorrunde ausgeschieden. Man haderte ein wenig mit der allzu vorsichtigen Spielweise, aber im Grunde war alles in Ordnung. Dass Teamchef Herbert Prohaska weitermachen würde, stand nie zur Debatte und die Verabschiedungen von Torhüter Konsel (eher freiwillig) und Goalgetter Polster (dezidiert gegen den Willen des Spielers) waren aufgrund des Alters der beiden argumentierbar. Nach seiner Rückkehr von Bremen nach Salzburg wurde auch Heimo Pfeifenberger nicht mehr berücksichtigt. Die tendenzielle Überalterung des Stammpersonals blieb vor allem in der Abwehr aber bestehen.

Nach der WM rang man in einem Freundschaftsspiel Weltmeister Frankreich ein 2:2 ab, in die EM-Quali startete man mit einem 1:1 in einer Regen-Lotterie gegen Israel. Es folgten ein solides 3:0 über das Team aus Zypern, welches man nach deren Überraschung gegen Spanien ernst nahm und ein 4:1 in San Marino. Man war im Plansoll.

Zypern hatte neben dem Spanien-Sieg noch die beiden Pflichterfolge über San Marino auf dem Konto, führte daher vor jenem 27. März 1999 die Gruppe an. Der Gruppensieger fuhr fix zur EM in Belgien und Holland, der beste der neun Gruppenzweiten ebenso; die restlichen acht Zweiten spielen im Playoff um vier weitere EM-Startplätze.

Im erwarteten Zweikampf zwischen Spanien und Österreich ging das ÖFB-Team also mit einem kleinen Vorteil ins Spiel im Mestalla von Valencia. Allgemeiner Tenor: Ein Punkt wäre schön, würde die Chance auf den Gruppensieg intakt halten und auf jeden Fall ein Bonus im Rennen um den besten Zweiten sein. Eine Niederlage wäre aber auch kein Drama. Man hat ja immer noch das Heimspiel gegen Spanien und zumindest Platz zwei wird’s schon werden.

Herbert Prohaska bot zudem eine Wette um seinen Bart an: Wenn Österreich in Spanien zumindest einen Punkt holt, kommt sein Markenzeichen weg. Der Schnurrbart blieb noch sieben Jahre dran.

Personal und Taktik

Didi Kühbauer, der bei Real Sociedad in der spanischen Liga spielte, kämpfte mit einer zähen Fußverletzung, die damals als nicht näher definierbare Knöchelblessur Rätsel aufgab und erst viel später als Riss des Syndesmosebandes diagnostiziert wurde. Ivica Vastic hatte sich beim 4:1 gegen San Marino die zweite gelbe Karte abgeholt und war gesperrt. Andi Herzog hatte Probleme mit dem Knie, bekam erst am Tag vor dem Match grünes Licht für einen Einsatz. Ohne personelle Sorgen war Prohaska also nicht.

Spanien – Österreich 9:0 (5:0)

Im Vorfeld wurden vor allem die spanischen Flügelspieler thematisiert. Den jungen Joseba Etxeberria (Bilbao) rechts und den routinierten Luis Enrique (Barcelona) links gelte es zu neutralisieren. Daran änderte sich auch nichts, als sich Luis Enrique im letzten Liga-Spiel vor dem Ländermatch verletzte und durch Fran von Deportivo La Coruña ersetzt wurde.

Daher entschied sich Prohaska dafür, die Außenbahnen jeweils doppelt zu besetzen – rechts mit Neukirchner gegen Fran und Cerny in der offensiveren Rolle, um Außenverteidiger Sergi zu binden. Links mit Wetl gegen Etxeberria und dessen Hintermann Salgado sowie mit Prosenik, der eher im Halbfeld agierte und Wetl defensiv helfen sollte.

Im Zentrum verlieb Roman Mählich, der die defensive Arbeit für Spielmacher Andi Herzog zu erledigen hatte. Als Solo-Spitze entschied sich Prohaska für den schnellen Mario Haas. Die Abwehr war ohnehin klar: Torhüter Wohlfahrt, Libero Feiersinger und die Manndecker Pfeffer (gegen den bulligen Urzaiz) und Schöttel (gegen den wendigen Raúl).

Man sieht schon: Sieben der zehn Feldspieler Österreichs waren in manndeckender Mission aufgestellt, das Zentrum wurde de facto abgeschenkt. Offenbar erwartete man von Guardiola und Valerón keine entscheidenden Aktionen – den Flügeln galt der volle Fokus.

Was für eine fatale Fehleinschätzung.

Spanischer Spielplatz in der Spielfeldmitte

Bei Spanien hatte Javier Clemente den Libero schon einige Jahre zuvor entsorgt, nach der WM 1994 nämlich. Schon bei der EM 1996 agierte man mit der Viererkette, wie auch 1998 mit Hierro als Sechser davor. Camacho sah dann aber das Potenzial mit Guardiola und Valerón im Zentrum.

Guardiola war zwar auch ein Sechser, aber kein Zweikämpfer und Ballgewinner, sondern ein Taktgeber und Ballverteiler. Einer, der Räume sieht und bespielt und von hinten heraus als Quarterback das Spiel seines Teams orchestriert. Er hatte fast das komplette Jahr 1998 mit einer Wadenverletzung passen müssen, der auf Zweikampf und Direktheit gepolte Ex-Teamchef Clemente hatte mit der Spielweise Guardiolas aber ohnehin nichts anfangen können. Der spätere Trainer Guardiola aber hätte den einstigen Spieler Guardiola geliebt.

Pep und Valerón jedenfalls mussten sich innerlich über Österreichs Taktik kaputtgelacht haben. Der defensiv nicht gerade begnadete und zudem angeschlagene Herzog, dazu Mählich als Solo-Abräumer für 45 Meter Spielfeldbreite – das spanische Zentrum hatte einen Heidenspaß. Guardiola alleine kam auf 114 Ballkontakte, Valerón und der später eingewechselte Mendieta gemeinsam auf 102.

Die unbekannte Dimension „Raum“

Besonders schonungslos aufgedeckt wurden aber die Schwächen des Manndeckungs-Fußballs. Im Spiel gegen den Ball klebten Pfeffer, Schöttel, Neukirchner und auch Wetl sklavisch an ihren zugeteilten Gegenspielern. Mählich orientierte sich an Valerón.

Somit war es für die Spanier ein Kinderspiel, bizarre Löcher in die ÖFB-Formation zu reißen. Die Dimension „Raum“ kam im Denken eines österreichischen Fußballers (und eines österreichischen Fans, Journalisten, Trainers, etc.) schlicht nicht vor. Abwehrspieler hatten ihre Gegenspieler zu verfolgen, und wenn alle Stricke reißen, steht hinten noch der Libero zum ausputzen.

Das 1:0 durch Raúl: Schöttel im Rücken, Feiersinger herausgezogen, Doppelpass mit Urzaiz, alleine vorm Tor. Und bumm.

Schon beim oben beschriebenen Tor zum 1:0 in der 6. Minute wurde dies schön deutlich. Neukirchner stellte Fran an der Außenlinie, Mählich hing an Valerón. Zwischen Herzog und den beiden Manndeckern dafür: Freier Raum, wohin man auch blickt. Diesen konnten die Spanier bespielen.

Dafür brauchten sie noch nicht einmal Überzahl zu haben. Es reichte der Lockvogel-Lauf eines Spielers, um Platz zu schaffen – ohne dass Österreich einen Gedanken daran verschwendete, was mit dem Raum im frei gewordenen Rücken passiert. Wenn auch noch, wie beim Tor zur spanischen Führung, Libero Feiersinger gemeinsam mit Schöttel Raúls Lockvogel-Lauf mitmacht, spielt das dem Torschützen natürlich zusätzlich in die Hände.

Das 2:0 in Minute 17

Ganz ähnlich beim 2:0 rund zehn Minuten später. Fran zieht von außen ins Zentrum, nimmt Neukirchner mit. Valeron kreuzt vor ihm, um Mählich wie ein Magnet aus dem Zentrum zu nehmen, weil Mählich ihm natürlich nachläuft. Feiersinger orientiert sich erst zum Knäuel mit Valeron und Urzaiz, um dort Überzahl herzustellen – der Sechserraum ist völlig frei.

Weil Fran so frei ist, stürzen Feiersinger und auch Raúls Manndecker Schöttel auf Fran zu, Raúl hat in deren Rücken keinen Gegenspieler mehr. Fran spielt Raúl den Ball zu, dieser lupft ihn über den heraus stürmenden Wohlfahrt. Dass Mählich dem Ball bis zum Pfosten nachrennt und diesem dort gebannt zusieht, anstatt ihn wegzudreschen und/oder Raúl daran zu hindern, den Ball endgültig über die Linie zu drücken, passt ins patscherte Gesamtbild.

Beim 3:0 nach einer halben Stunde setzt sich Fran außen im Laufduell gegen Neukirchner durch, seine Traum-Flanke hechtet Urzaiz per Flugkopfball in die Maschen – ein kaum zu verhinderndes Traumtor. Spätestens jetzt wäre Spanien in Führung gegangen.

Fünf Minuten später kann sich Wetl gegen Etxeberria nur mit einem Foul wehren. Dummerweise war das im Strafraum, Hierro verwertet den fälligen Elfmeter zum 4:0. Quasi mit dem Halbzeitpfiff legt Raúl eine flach gespielte Flanke zentral vor den Strafraum, wo Pfeffer meterweit von Urzaiz weg steht. Dieser zieht ab und trifft zum 5:0.

Ach ja, die Flügelzange?

„Ich kann’s nur so erklären, dass wir zu weit weg waren vom Mann“, sagte Toni Pfeffer wenige Augenblicke danach im ORF-Interview, mit dem Nachsatz: „Wir müssen wirklich näher dran sein am Mann, denn sonst wird es ein schlimmes Debakel.“

Dieses Interview verrät sehr viel über die Art und Weise, wie Fußball damals gedacht wurde. Denn ja, bei den Toren zum 3:0 und zum 5:0 – ein schneller Lauf an der Außenlinie und ein Gegenstoß – war tatsächlich er selbst zu weit weg von Urzaiz. Gerade bei den ersten zwei spanischen Treffern aber war es gerade das Problem, dass die Österreicher allzu nah an den ihnen zugewiesenen Spielern klebten – und dabei zu viel freien Raum ließen. Das klassische Manndecker-Dilemma.

Andreas Felber sprach auch die Flügelzange an, auf welche Österreich die Taktik ausgerichtet hatte. Ja, wo war sie denn? Nur ein einziges der neun Tore wurde tatsächlich klassisch von den Außenbahnen vorbereitet. Dazu kommen ein Eckball, ein Elfmeter (bei dem Etxeberria gefoult wurde, ja, ein Außenspieler) – und sechs Tore, die durch das Zentrum eingeleitet wurden.

Die Andeutung von Gefährlichkeit

Etwas zynisch formuliert: Die Hauptaufgabe der vier spanischen Flügelspieler war es, den Österreichern die Illusion vorzugaukeln, dass sie wichtig wären. So nämlich banden sie immer vier der sechs nominellen Mittelfeldspieler und im Zentrum konnte sich das Quartett mit Hierro, Guardiola, Valerón und Raúl ungehindert austoben. Die nackten Zahlen: Raúl verbuchte vier Tore und drei Assists, Pep Guardiola spielte bei fünf Treffern den vorletzten Pass.

Die Außenverteidiger Sergi und Salgado hatten 54 bzw. 53 Ballkontakte, Fran links ebenfalls 53; Etxeberria und der in der Schlussphase für ihn eingewechselte Dani kamen zusammen auf 57 Ballaktionen. Man sieht: Sehr gleichmäßig verteilt. Auch die Rollenverteilung – die AV hinterlaufen die einrückenden Flügelstürmer – war schon sehr modern für diese Zeit.

Fran erzielte ein Tor (nach einer einstudierten Freistoß-Variante) und bereitete drei vor (eine Flanke, ein Eckball, ein Lochpass aus dem Sechserraum). Etxeberria zog den Elfmeter zum 4:0. Sie waren gefährlich, wann immer sie einrückten. Salgado und Sergi sorgten dafür, dass sich nur ja nicht zu viele Österreicher mit ins Zentrum bewegten.

6:0 reicht uns… oder geht’s etwa zweistellig?

Das 6:0, wieder Raúl nach Doppelpass mit Urzaiz in den Rücken von Schöttel

Gleich nach Wiederanpfiff erhöhte Raúl auf 6:0, wieder konnte er ein Zuspiel von Guardiola im Entgegenkommen zu Urzaiz weiterspielen, sich umdrehen, in den Rücken von Schöttel kommen, den Doppelpass von Urzaiz annehmen und Wohlfahrt umkurven. Eine Kopie des ersten Tores. Die österreichischen Spieler – alle stur auf Manndeckung bedacht, weil sie nichts anderes kannten – waren so unglaublich leicht zu manipulieren.

In der Folge nahmen die Spanier deutlich den Zug zum Tor heraus. Das 6:0 reichte ihnen offensichtlich. Man verlegte sich darauf, den Ball in den eigenen Reihen zu halten – die längste Ballstaffette ging über 20 Stationen.

Marcelino, Guardiola, Valerón, Guardiola, Fran, Valerón, Raúl, Guardiola, Salgado, Valerón, Guardiola, Fran, Marcelino, Urzaiz, Hierro, Valerón, Fran, Guardiola, Raúl, Sergi. Es folge ein Foul von Cerny an Sergi, man schrieb die 59. Minute.

Das Publikum in Valencia forderte schon während des Tores zum 6:0 mit lauten Stimmen „Mendieta! Mendieta!“ Der Blondschopf feierte an jenem Tag seinen 25. Geburtstag, war der Star des heimischen FC Valencia und hatte bis zu diesem Match noch kein Länderspiel absolviert. In der 71. Minute kam Mendieta dann auch rein, er ersetzte Valerón, und wenig später versenkte Raúl einen Eckball zum 7:0.

Da bekamen die Spanier, vermehrt angetrieben von Mendieta, dann doch wieder ein wenig Lust. Na, geht sich das vielleicht sogar noch zweistellig aus? In der 77. Minute landete Wetls Versuch, eine Flanke von Raúl zu klären, zum 8:0 im Netz. In der 84. Minute hatte Fran eine diebische Freude daran, eine einstudierte Freistoßvariante zum 9:0 im Tor zu versenken.

Der ÖFB-Teamchef heizte sich auf der Bank eine Tschick an, seine Spieler waren längst sturmreif geschossen. Der für Urzaiz ins Spiel gekommene Munitis narrte Kogler (der Feiersinger als Libero ersetzt hatte) und Wetl mit vier 180-Grad-Drehungen in sieben Sekunden (86.). Dann traf Dani nach einem schnellen Doppelpass mit Munitis aus zu spitz gewordenem Winkel nur das Außennetz (90.). Dann musste Wohlfahrt auch noch ein Geschoss von Mendieta parieren (93.).

Aber, nein, mit aller Macht ging Spanien nicht mehr auf das zehnte Tor. Kurz vor dem neunten hatte Hierro sich ja auch noch die gelbe Karte abgeholt. Wegen Zeitverzögerung.

Kein Witz.

Harsche Reaktionen…

Nach 94 Minuten und 18 Sekunden hatte der französische Referee Gilles Veissière ein Erbarmen und beendete das Spiel. Die große Zerfleischung in der österreichischen Medienlandschaft konnte beginnen.

Die „Krone“ reihte das 0:9 gar in eine Reihe von Tragödien wie jene der tödlich verunglückten Skifahrer Rudi Nierlich und Ulli Maier ein, während direkt daneben Andi Herzog mit den Worten „Das war eine Hinrichtung“ zitiert wurde. Deutlich weniger geschmacklos, aber nicht weniger scharf kritisierten die OÖN, dass auch am Tag nach der „Weltblamage“ weder Prohaska zurückgetreten ist, noch ÖFB-Präsident Mauhart. Dieser weigerte sich trotz des 0:9, den Teamchef zu entlassen.

Wie Mauhart stellten sich auch die Spieler demonstrativ hinter Prohaska. „Aufstellung und Konzept waren in Ordnung“, sagte Herzog. „Es wäre nicht korrekt, wenn es jetzt den Unschuldigsten trifft“, meinte Wohlfahrt. Dennoch: Zwei Tage nach dem 0:9 warf Prohaska ob des öffentlichen Drucks das Handtuch. Er wäre als Teamchef untragbar geworden, erklärte er, er habe die Fans nicht mehr auf seiner Seite und ohne deren Rückhalt kann niemand ein glaubhafter Teamchef sein.

… aber keine Grundsatzfragen

Was in Valencia aber wirklich passiert ist, war nie wirklich ein Thema. Dass das 0:9 aufgezeigt hat, dass die Spielidee mit Libero und Manndeckern dem Untergang geweiht war – wie es fast alle anderen Länder der Fußballwelt erkannten. Bei der WM 1998 hatten noch 18 der 32 Teams mit diesem System gespielt (56 Prozent), bei der WM 2000 waren es nur mehr drei von 16 (19 Prozent).

In Österreich wurde nur diskutiert, wer denn nun den Libero geben könnte, jetzt wo Wolfgang Feiersinger endgültig zu alt für internationales Niveau war. Prohaskas Nachfolger Otto Baric stellte lieber Stürmer Ivica Vastic als Abwehrchef auf, anstatt auch nur darüber nachzudenken, wie alle anderen auf Viererkette und Raumdeckung zu wechseln.

„Wir haben Anschauungsunterricht in modernem Fußball, Raumaufteilung und Technik bekommen“, gab Kapitän Herzog zwar zu Protokoll. Auf den Einfall, aus diesem Unterricht zu lernen, kam aber fast niemand.

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Nur Leo Windtner, damals noch Vize-Präsident des ÖFB und Landespräsident von Oberösterreich, brachte bei der Suche nach Prohaskas Nachfolger leise den Namen Roy Hodgson ins Spiel. Hodgson hatte von 1992 bis 1995 die Schweizer von den Vorzügen des Verzichts auf den Libero überzeugt und die Eidgenossen so zu WM 1994 und EM 1996 geführt. Nach fast drei Jahrzehnten ohne jegliche Endrunden-Teilnahme.

Aber Hodgson hatte nie eine Chance. In Österreich hatten in den Jahren zuvor zwei Trainer die Viererkette probiert. Per Brogeland beim LASK und Wolfgang Frank bei der Austria, und beide waren krachend gescheitert. An der geistigen Unbeweglichkeit der österreichischen Fußballer und deren Unwillen, sich von vermeintlich Bewährtem zu trennen. Ein halbes Jahr vor dem 0:9 Österreichs hatte sich schon Berti Vogts daran versucht, eine Viererkette im DFB-Team zu installieren. Die Spieler verweigerten ihm die Gefolgschaft nach einem holprigen 2:1 über Malta und dramatisch unzunlänglichen 45 Minuten gegen Rumänien istallierte er in der Halbzeit wieder einen Libero. Und trat kurz darauf als Bundestrainer zurück.

Wir haben’s schon immer so gemacht in Österreich. Wir sind eben nicht die Spanier oder die Italiener. um eine Viererkette zu spielen, muss man ein perfekter Fußballer sein. Wir bleiben beim Libero und bei der Manndeckung. Das kennen wir, das können wir.

Jüngere Geschichte vernebelte den Blick

Immerhin waren Salzburg 1994 und Rapid 1996 mit Libero jeweils ins Europacup-Finale eingezogen, immerhin hatte sich Österreich mit Libero als Gruppensieger für die WM 1998 qualifiziert.

Ja, eh.

Aber gerade im Nationalteam wurden die Warnzeichen wegen der guten Resultate nicht erkannt. In der Qualifikation spielte man gegen Schweden und Schottland. Zwei Raumdeckungs-Teams. Nur: Schweden besiegte man einmal eher glücklich und einmal mit Mega-Dusel. Gegen Schottland holte man einen Punkt aus zwei Spielen.

Bei der WM spielte man gegen Italien, Chile und Kamerun. Es war die letzte Gruppe in der Geschichte des internationalen Fußballs, in der alle vier Teams mit Libero aufliefen.

Und so wurde weiter eisern dem zugeteilten Gegenspieler nachgedackelt, wohin er auch rannte, und welche Räume auch immer man damit aufmachte. Otto Baric kam, holte sich sein persönliches Debakel drei Monate später beim 0:5 in Tel-Aviv ab und brachte die EM-Quali auf Gruppenplatz drei zu Ende. Dieses Debakel gegen Israel – ein Libero-Team – verstärkte den Eindruck: Es liegt nicht an der Spielweise. Die Spieler sind nur einfach nicht gut genug.

Fatale Blindheit für das Offensichtliche

Nach Landskrona, der Niederlage gegen die Färöer, war praktisch allen sofort bewusst, was los war. Das WM-Team von 1990 hatte nie die Qualität, die man ihm fälschlicherweise zugeschrieben hatte. Das Ticket wurde in einer leichten Gruppen gesichert, die starken Testspiele vor der WM waren eben nur Testspiele, und die Spieler glaubten, dass sie die Insel-Kicker arrogant aus dem Stand abschießen können würden.

In der Folge gab es danach noch weitere Lehrstunden wie das 1:9 von Ernst Happels Innsbruckern gegen Real Madrid oder das 2:6 der Austria gegen Arsenal. Österreichs Spieler waren einfach nicht besonders gut und sie ergaben sich nach Landskrona zusätzlich in Fatalismus.

Das Fatale am Kegelabend von Valencia war, dass man es nicht für das begriff, was es war: Die bittere Vorführung der Tatsache, dass das mit dem raumdenkenden Spiel und der Abkehr vom Libero eben nicht nur eine mögliche Variante von vielen ist, sondern die radikalste Revolution des Fußballspiels an sich seit den 1920er-Jahren.

Schweiz – Österreich 3:2

Es dauerte drei Jahre und fünf Monate, ehe Österreich erstmals ohne Libero antrat. Erst musste Zoran Barisic, Michael Streiter, Ivica Vastic, Günther Neukirchner, Martin Hiden und Michael Baur den Ausputzer hinter den Manndeckern spielen.

Als Hans Krankl in einem Testspiel in der Schweiz im August 2002 eine Viererkette aufstellte, war sie so heillos damit überfordert, dass Krankl in der Folge lieber doch wieder auf das alte System zurückgriff.

Baur stürmte in gewohnter Manier schon nach wenigen Minuten ungeniert in die gegnerische Hälfte. Die Außenverteidiger Wimmer und Panis standen so verschüchtert hinten und so eng am eigenen Strafraum, als wollten sie die eigenen Innenverteidiger decken. Das hatte nicht einmal Schülerliga-Niveau. Die Schweizer spielten das Jahrzehnt, das sie an Viererketten-Erfahrung Vorsprung hatten, cool aus.

Langsames Erwachen

Andererseits: Woher hätte das Wissen darüber, wie man eine Viererkette ohne Libero spielt, auch kommen sollen? Alle zehn Trainer in der Liga hatten im Frühjahr 1999 ihren Ausputzer hinter den Manndeckern. Osim, Weber, Augenthaler, Krankl, Koljanin, Jara, Verdenik und später Koncilia, Roitinger, Stöhr und Sundermann – die Herkunft der Bundesliga-Coaches zu diesem Zeitpunkt sind genau jene Regionen, die am längsten am Libero festgehalten haben. Österreich, Deutschland und der Balkan.

Und auch die Legionäre im ÖFB-Team spielten überwiegend im klassischen Libero-Land Deutschland. Kühbauer, der in Spanien unter dem deutschen Viererketten-Pionier Bernd Krauss trainierte, war die einzige echte Ausnahme.

Erst mit Walter Schachner, der 2001 mit einer Viererkette (übrigens mit dem ganz jungen Emanuel Pogatetz) beim FC Kärnten in die Bundesliga aufstieg und Cupsieger wurde, kamen auch andere Teams auf den Geschmack. Als Krankl im August 2002 sein Experiment gegen die Schweiz startete, spielten die Austria (eben mit Schachner) und Salzburg (mit dem Dänen Lars Söndergaard) mit einem 4-4-2. Immerhin zwei Teams.

Zwei.

Der letzte Trainer, der sich in Österreichs Bundesliga vom Libero verabschiedet hat, war Franz Lederer. Dieser ließ Mattersburg noch 2006 mit den Manndeckern Patocka und Ratajczyk vor Libero Mravac im Cupfinale spielen.

Der perfekte Sturm

Beim Spiel in Valencia ist alles zusammen gekommen. Eine veraltete Spielweise, die gegen das moderne Raum-Spiel eklatante Nachteile hatte. Eine Häufung von Österreichern, die auch davon abgesehen einen schlechten Tag hatten. Eine komplette Fehlleistung im Scouting des Gegners und die Unfähigkeit, den Fehler zu sehen und zu korrigieren. Ein Kontrahent, der dringend ein Ergebnis brauchte, der nicht nach dem 3:0 völlig abstellte und bei dem auch annähernd jeder Schuss ein Treffer war.

Das 0:9 war der perfekte Sturm.

Der eigentliche Wahnsinn aber ist, dass man – vom Trainerwechsel abgesehen – völlig zur Tagesordnung übergegangen ist und NICHTS in Frage gestellt hat. Und zwar noch viele Jahre nicht.

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Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.