Die Rückkehr der Dreierkette, gute Goalies und die ewige Diskussion um die Refs

Deutschland ist also zum vierten Mal Weltmeister. Das ist, woran man sich vordergründig erinnert, wenn von der Weltmeisterschaft 2014 die Rede ist, mehr noch als vom 1:0-Finalsieg gegen Argentinien dazu sicher von der deutschen 7:1-Vernichtung von Brasilien im Halbfinale. Aber was sind die inhaltlichen Erkenntnisse der 20. Endrunde? Hier zehn Punkte, die im Rückblick Erwähnung verdienen.

WM 2014 All-Stars
Streng subjektiv: Die All-Stars. Natürlich würde etwa auch Arejen Robben da hinein gehören. Nur: Statt wem?

1. – Die Dreierkette ist zurück

Vor vier Jahren in Südafrika spielten 27 Mannschaften durchgängig mit einer Viererkette, eine weitere (Uruguay) zumindest meistens. Waren Chile, Neuseeland, Nordkorea und Algerien 2010 diesbezüglich Exoten, hat die Dreier/Fünfer-Abwehr nun wieder einen gehören Schritt zurück in Richtung Mainstream genommen. Chile, Costa Rica, Mexiko, Uruguay und natürlich die Holländer: Alle fünf Teams, die nicht mit der Viererkette hinten agierten, überstanden die Vorrunde.

Die Dreierkette ist dabei die Reaktion einer Entwicklung, die sich in den letzten paar Jahren erst ergeben hat: Aus dem 4-2-3-1, das weltweit seit seinem Siegeszug bei der WM 2006 das dominierende System wurde, schob der Zehner in den letzten Jahren bei sehr vielen Mannschaften wieder weiter nach vorne, wodurch ein 4-4-1-1 entsteht – sehr schön zu sehen war dieses Vorrücken etwa bei Borussia Dortmund, als erst Kagawa und im letzten Jahr zumeist Reus bzw. Mkhitaryan als hängende Spitze agierten, weniger als Zehner.

War das 4-2-3-1 eine Reaktion auf das endgültige Aussterben der Dreierkette bis zur EM 2004 (die vom System her eine Übergangs-Phase markierte), das sich eben ab 2006 durchsetzte, ist die Dreierkette nun eine Reaktion darauf, dass der Zehner darin zum Anpressen der gegnerischen Spieleröffnung wieder so hoch steht wie der früher klassische zweite Stürmer.

Es ist also alles ein ewiger Kreislauf, die Reaktion auf eine Entwicklung hat die Reaktion auf die Reaktion zur Folge. So ist es auch in diesem Fall.

2. – Scharfe, kurze Pressing-Wege im Mittelfeld

Die Verwendung der Dreierkette hatte noch einen weiteren Vorteil, den alle Teams, die eine solche spielten, auch ausnützten – also nicht nur ein Dreierkette spielen um den Dreierkettespielens wegen, sondern mit Hintergedanke (logisch, sonst wären sie ja nicht bei einer WM dabei). Mit den höher stehenden Flügelverteidigern nämlich und dem verdichteten Zentrum war es möglich, die Gegner in diesem Bereich mit kurzen, aber scharfen Pressing-Wegen unter Druck zu setzen. Nicht selten sorgte ein sich zurückfallen lassender Stürmer (wie bei Mexiko oder Chile) bzw. zwei sich schräg zurück auf die Außen fallen lassende, verkappte Zehner (wie bei Costa Rica) oft für ein Sechser-Mittelfeld.

Gerade Costa Rica machte es extrem gut, den gegnerischen Ballführenden zu zweit, sehr oft aber auch zu dritt anzulaufen, und wegen der eigenwilligen Raumaufteilung mit sehr kurzen Wegen. Das ist natürlich den Bedingungen geschuldet: Bei großer Hitze und/oder hoher Luftfeuchtigkeit kann man nicht wild über dem ganzen Platz ein Pressing aufziehen, wie es Dortmund in den zwei Meisterjahren gezeigt hat.

Was ein Ansatz war, den sich aber im Grunde auch Jogi Löw mit seiner Umstellung vom 4-2-3-1 (das er im ganzen Turnier nur in der zweiten Hälfte des Finales spielen ließ) auf das 4-1-4-1 zu eigen machte. Auch hier wurde im Mittelfeld (Khedira und Kroos vor allem) kurz und scharf angepresst, aber nicht auf dem ganzen Platz.

3. – Der Experte für eh alles

Das totale Abkippen der Sechser zwischen die Innenverteidiger, das vor vier Jahren begonnen hatte und seither zeitweise sehr verbreitet war, hat sich weitgehend wieder aufgehört. Das ist eine Folge davon, dass immer mehr Mannschaften dazu übergegangen sind, selbst pressen zu wollen, anstatt den Ball zu haben und damit angepresst zu werden. Außerdem wird der Sechser nicht mehr so sehr als Spieleröffner und quasi „Quarterback“ gebraucht, weil diese Agenden immer mehr die Innenverteidiger übernehmen (oder zuweilen die Torhüter, siehe Manuel Neuer).

Der Sechser muss damit aber auch immer mehr zum Experten für eh alles werden: Sicheres Passspiel, gutes Auge und damit Stellungsspiel, im Zweifel erfolgreiche Tacklings, Pressen sollte er können und das Mittelfeld lesen und lenken auch noch. Andererseits geht die Bedeutung der Außenverteidiger ein wenig zurück. Belgien spielte mit vier Innenverteidigern in der Kette, Deutschland immer mit zumindest drei, Argentinien mit drei. Holland stellte einen gelernten Stürmer dorthin, Ghana einen Zehner.

Das ist wohl eine Folge der spielenden Stürmer, die immer mehr auf die Außen gehen und auch so für die Breite sorgen können, ohne dass durch allzu forsch aufrückende Außenverteidiger defensive Risiken eingegangen werden – Paradebeispiel, wie man es nicht macht, waren Marcelo und Dani Alves bzw. Maicon bei Brasilien.

Im Grunde ist auch diese Entwicklung nur der Versuch der Trainer, gleichzeitig offensiv variabler und defensiv gefestigter zu werden. Ein Balance-Akt.

4. – Südamerika rückt zusammen

Erstmals in der Geschichte der Weltmeisterschaften holte zum dritten Mal hintereinander eine europäische Mannschaft den Titel. Das ist vor allem spannend vor dem Hintergrund, dass Südamerika dennoch weiter aufgeholt hat – allerdings schließt dabei die zweite Reihe (Chile, Kolumbien, in den letzten Jahren auch Uruguay) die Lücke zu den beiden Hegemonialmächten Brasilien und Argentinien; nicht aber diese beiden an den europäischen Top-Teams.

Argentinien scheiterte zum dritten Mal hintereinander an Deutschland (wiewohl man dabei in nur einem Spiel wirklich die klar schlechtere Mannschaft war), Brasilien hat unglaublicherweise nur einen einzigen Offensiv-Spieler von Welt-Format. Sprich: Die Albicelete und die Seleção werden natürlich weiterhin als logische (Mit)-Favoriten in die nächste Copa America gehen, aber es gibt zumindest fünf, sechs Teams, die sich absolut realistische Titelhoffnungen machen dürfen. Das gab’s in den gefühlt vierzig Jahren davor nie.

5. – Ausgesprochen solide Torhüter

Natürlich: Jedes WM-Turnier ist auch geprägt von einer Handvoll absolut herausragender Torhüter. Was Neuer und Ochoa diesmal waren, war vor vier Jahren zum Beispiel Casillas, oder vor acht Buffon oder vor zwölf Kahn. Es gab aber auch immer eine Handvoll Pannenmänner, bei denen man schon Bauchweh hatte, wenn ein Ball nur in die Nähe kam – vornehmlich waren das Afrikaner.

Diesmal nicht. Natürlich gab es das eine oder andere richtig billige Gegentor (wie das zweite bei Ghana gegen Portugal oder Valladares‘ Eigentor für Honduras gegen Frankreich). Aber generell waren die Leistungen der Torhüter, quer über alle Kontinente, ausgesprochen solide. Über Keeper, von denen man sich fragte, warum sie bei einer WM spielen, sprach man im ganzen Turnier eigentlich nie.

6. – Kontroverse Referees

Im großen und ganzen waren die Leistungen der Schiedsrichter weder dramatisch schlechter noch signifikant besser als bei den letzten Endrunden. Die Tatsache, dass innerhalb von vier Wochen 64 Spiele im Fokus der Welt-Öffentlichkeit stehen, bringt es mit sich, dass die gefühlte Dichte an verpfiffenen Spielen höher ist, was mit der Realität aber natürlich nicht korreliert.

Tatsache ist aber zweifellos: Die beiden zentralen Vorgaben von FIFA-Referee-Boss Massimo Busacca waren beide ein grandioser Schuss in den Ofen. Seine Direktive, zentralere Laufwege einzuschlagen als die gewohnten Diagonalen (also jeweils die vom Assistenten entfernte Seite abzudecken), führte zu ungewöhnlich vielen Kollisionen mit Spielern (vor allem bei Ravshan Irmatov im Spiel USA-Deutschland, was ihm neben der etwas eskalierten Partie Mexiko-Kroatien wohl das Finale gekostet hat).

Und dann war natürlich die Sache mit den gelben Karten, mit denen Referees sparsam umgehen sollten. Gerade bei taktischen Fouls sollte im Zweifel eher nicht verwarnt werden, was genau dem Gegenteil von dem entspricht, was viele Trainer fordern. Vor allem Jürgen Klopp ist da ein Vorreiter, was das angeht. Eine Direktive, die (wenn auch erst ab der zweiten Turnier-Woche) dazu geführt hat, dass immer mehr geholzt wird. Mit dem traurigen Höhepunkt beim Viertelfinal-Spiel zwischen Kolumbien und Brasilien. Damit ist weniger das Foul von Zuñíga an Neymar gemeint (das war Gelb, aber nicht Rot), sondern mehr der Rekordwert an Fouls.

Die wenigen Referees, die sich nicht an die Gelb-Direktive hielten (am auffälligsten war das Howard Webb bei Brasilien-Chile, wo er sieben Verwarnungen verteilte; aber auch etwa Ben Williams), bekamen nach den Achtelfinals kein Spiel mehr.

6.a – Kein Grund für weniger Referees aus kleineren Ligen

Einzelne totale Fehlleistungen (wie Nishimura im Eröffnungsspiel oder Haimoudi im kleinen Finale) können immer passieren. Eine generelle Tendenz, dass Referees aus vermeintlich starken Ligen und/oder guten Konföderationen auch besser pfeifen, war nicht erkennbar – ganz im Gegenteil.

Ravshan Irmatov aus Usbekistan ist schon mit 36 Jahren ewiger Rekordhalter mit neun geleiteten WM-Spielen. Der Gambier Gassama bekam zwar nur ein Spiel, leitete dieses aber absolut fehlerlos, der Algerier Haimoudi war bis zu seinem Totalausfall im kleinen Finale grundsolide. Der Amerikaner Geiger und der Australier Williams gefielen über weite Strecken, auch Joel Aguilar aus El Salvador fiel nicht negativ auf.

Anders als Profi-Referee Nishimura aus Japan, als Rizzoli mit seinem fehlerhaften Finale, als Brych, der über einen nicht gegebenen Elfmeter stolperte, als Kuipers, der mitten in ein französisches Tor hinein abpfiff, als Velasco Carballo, der ziemlich hacken ließ.

7. – Wider dem Dogma, Pragmatismus ist „in“

Natürlich würde sicher auch Louis van Gaal sicher spektakulären Fußball mit Dauerdruck und vielen Toren sehen. Aber er wusste: Ohne Kevin Strootman nicht zu machen. Also wurde das komplette System und die ganze Spielweise auf die neuen Gegenbenheiten ausgerichtet. Natürlich wusste auch Joachim Löw, dass Lahm in seinem Kader rechts hinten besser aufgehoben ist – weil aber Khedira und Schweinsteiger in der Vorrunde noch ihrer Fitness nachliefen, ließ er halt vorübergehend Lahm im Zentrum ran. Genauso Sabella und letztlich auch Scolari – ihre Überlegungen fußten nicht auf Dogma, sondern auf Pragmatismus.

Im Grunde war es nur Jorge Sampaoli, der es auf die Kompromisslose versuchte und seine Chilenen ein strenges Ab-nach-Vorne-Koste-es-was-es-wolle-Konzept durchziehen ließ. Damit war Chile zum zweiten Mal hintereinander schon die geilste Mannschaft des Turniers und es ist ewig schade, dass Pinilla im Achtelfinale gegen Brasilien in der 120. Minute nur die Latte getroffen hat, und nicht ins Tor.

8. – Wo ist der Knipser?

Diese Sache mit dem „falschen Neuner“ wird natürlich deutlich hysterischer diskutiert, als es nötig wäre (vor allem in solchen Kreisen, die sich nicht per se mit Fußball-Taktik eingehender befassen). Aber auch bei diesem Turnier war auffällig: Torjäger der Marke Ronaldo, Klose oder Batistuta gibt es de facto nicht mehr. Gefragt ist der Stürmer, der Bälle halten kann, sich zurückfallen lässt und Räume schafft. Und die Spieleröffnung anpresst.

Es ist kein Zufall, dass sieben der zehn erfolgreichsten Torschützen des Turniers NICHT in vorderster Front aufgeboten waren (James, Neymar, Messi und Shaqiri als Zehner; Müller und Schürrle als Flügel; Enner Valencia als hängender Stürmer). Dazu ist Arjen Robben eigentlich auch gelernter Flügelspieler – und Van Persie und Benzema sind auch spielende Stürmer, die nicht nur im Strafraum auf die Zuspiele warten.

9. – Wilde Vorrunde, vorsichtige K.o.-Phase

Hollands 5:1 gegen Spanien, Costa Ricas Siege gegen Uruguay und Italien, die Never-Say-Die-Auftritte der US-Amerikaner, die unglaublichen Chilenen, das hochdramatische 2:2 zwischen Deutschland und Ghana, das 4:2 von Algerien gegen Südkorea – die Vorrunde strotzte nur so vor Kurzweil. Spaßbringende Spiele am laufenden Band, überraschende Früh-Heimflieger (Spanien, Italien, auch England, Portugal und Japan), respektlose Außenseiter. So macht eine WM Freude.

Als in der K.o.-Phase aber jede Niederlage das Aus bedeutet hat, war’s vorbei mit dem Risiko und es galt wie immer der Grundsatz: Wer früh glänzt, der früh verliert. Weil man eine Top-Form aus der Vorrunde nicht über vier Wochen konservieren kann. So kamen vor allem die Teams weiter, die erstmal hinten keine unnötigen Dinger reinbekommen haben. Das war deswegen nicht weniger interessant. Sehr wohl aber deutlich weniger spektakulär.

10. – Sture Kontinuität wird nicht belohnt

Der Titelgewinn von Deutschland ist der verdiente Lohn für zehn Jahre gezielte und kontinuierliche Aufbau-Arbeit von Grund heraus. Das heißt aber nicht, dass Kontinuität per se belohnt wird. Ganz im Gegenteil, das hat dieses Turnier auch gezeigt.

So war es von Amtsantritt an das Ziel von Luiz Felipe Scolari, mit einem Kader die WM bestreiten zu wollen, der schon ein Jahr davor praktisch feststeht. Dabei wurde aber nicht berücksichtigt, dass etwa Paulinho, der einen großartigen Confed-Cup gespielt hat, völlig außer Form ist. Dass Hulk eine maue Saison hinter sich hat, dass Fred von der letztjährigen Form weit entfernt ist. Oder Uruguay – praktisch das selbe Team wie vor vier Jahren, keinerlei Impulse von Jungen. Japan hat das Personal gegenüber der Asientitel 2011 nicht verändert und ist nicht nur älter, sondern wirkt auch so.

Kontinuität ist unerlässlich, bringt aber nur etwas, wenn man sich nicht dogmatisch sieht, sondern seine Augen immer offenhält für Adaptierungen, leichte Veränderungen und sich auch traut, unpopuläre Entscheidungen zu treffen.

Das war’s.

Bald startet die Qualifikation für die EM in zwei Jahren in Frankreich, auch in den anderen Kontinenten geht’s mit großen Turnieren weiter – überall außer in Europa und Ozeanien geht’s schon 2015 wieder um Titel, dazu wartet 2016 die erste gemeinsame Copa America von Süd- und Nordamerika. Im Juni nächsten Jahres steigen dann die ersten Qualifikationsspiele für die 21. WM-Endrunde, die am 8. Juli 2018 in Moskau im nächsten Finale kulminieren wird.

Es wird und also nicht fad.

 

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Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.