Euro-Classics 2008 – Die Todesgruppe

Der Weltmeister, Italien. Der Vize-Weltmeister, Frankreich. Die personell großartig besetzten Holländer. Und Underdog Rumänien, der eine starke Qualifikation absolviert hat. Die Gruppe C der Euro2008, in Bern und Zürich ausgetragen, wurde unisono als die „Todesgruppe“ des Turniers bezeichnet…

Holland - Italien 3:0 (2:0)

Holland – Italien 3:0 (2:0)

Womit kann Italien nicht umgehen? Mit Pressing! Die Holländer traten von Beginn an dominant auf und setzten dem Weltmeister mit schnellem Gegenpressing bei Ballverlusten zu. Und mit hohem Tempo vor allem von Sneijder und Van der Vaart, die den personellen Nachteil im offensiven Zentrum des 4-2-3-1 von Bondscoach Marco van Basten so ausgleichen konnten.

Roberto Donadoni, der italienische Teamchef, hatte wie bei italienischen Mannschaften üblich ein Trio vor die Viererkette gestellt. Davor allerdings baute er auf Breite im Spiel: Di Natale und Camoranesi kamen von den Flanken, ganz vorne stand Luca Toni. Die Folge war, dass die Holländer mit De Jong und vor allem Orlando Engelaar im Zentrum seelenruhig das Spiel aufbauen konnten. Van der Vaart und Sneijder versuchten, durch ihre Laufwege Löcher zu reißen, was aber kaum gelang – so musste ein Weitschuss herhalten, den Van Nistelrooy fünf Meter vor dem Tor aufnahm und zum 1:0 versenkte. Nicht aus Abseits-Postion, denn Panucci hob dieses neben dem Tor liegend auf.

Die Italiener mussten nun etwas aufrücken und wurden nur wenige Minuten nach dem Rückstand dafür bestraft: Ein sensationeller Konter über Van Bronckhorst und Kuyt, den Sneijder mit einem Drehschuss vollendete, sorgten für das 2:0.

Holland stellte das Pressing nun komplett ein und ließ den Gegner kommen, blieb aber im Zweikampf giftig. Vor allem Kuyt machte gegen Zambrotta ein hervorragendes Spiel. Donadoni stellte nach einer Stunde erstmals um, brachte Del Piero (für Di Natale) und ging auf ein etwas schiefes 4-4-2, eine Viertelstunde vor Schluss kam Cassano (für Camoranesi) und aus dem System wurde ein wiederum etwas schiefes 4-3-1-2, mit Cassano hinter den Spitzen. Die Maßnahme fruchtete: Nun gab es endlich auch sinnvolle Aktionen durch das zuvor verwaiste Zentrum, Italien war – obwohl immer etwas langsam wirkend – die bestimmende Mannschaft und hatte drei große Ausgleichs-Chancen. Ehe ein weiterer blitzsauberer Konter der Holländer zehn Minuten vor Schluss das 3:0 zur Folge hatte. Die Entscheidung.

Rumänien - Frankreich 0:0

Rumänien – Frankreich 0:0

Schleppend hatte sie allerding zuvor begonnen, diese Gruppe. Was beim Spiel im Zürcher Letzigrund an beiden Teams lag. Zum einen also an den Rumänen, die in einem 4-1-4-1 mit einem sehr kompakten Mittelfeld auftraten und die Franzosen kommen ließen. Offensiv gab’s zwei Optionen: Lange Bälle auf Stürmer Daniel Niculae, der diese mit seinem robusten Körper halten sollte, oder über Adrian Mutu. Der damalige Fiorentina-Spieler spielte einen Linksaußen, der aber viele Freiheiten genoss und sich deutlich öfter im Zentrum aufhielt als Banel Nicolita auf der anderen Seite.

So mussten die Franzosen das Spiel machen, und das gelang nicht. Raymond Domenech ließ in einem 4-2-2-2 spielen. Die Probleme wurden schnell offensichtlich: Von der Doppel-Sechs mit Toulalan und Makélélé gab’s wenig Ideen gegen die drei Rumänen im Zentrum, Ribéry wirkte auf Rechts deplaziert und Malouda rieb sich in Zweikämpfen mit Cosmin Contra von Getafe auf. So blieben Flanken, die Sagnol und Abidal zum Teil von 40 Meter von der Grundlinie entfernt Richtung Strafraum segeln ließen. Alles harmlos.

Den Franzosen ging zwar Henry mit einer Zerrung ab, ja, aber Domenech versuchte erst in der 78. Minute, mit Nasri (statt Benzema) das kreative Loch im Zentrum zu schließen und auf ein 4-2-3-1 zu gehen. Doch Nasri – dessen Wechsel zu Arsenal schon festgestanden war – wurde auf der Zehn von seinem Team ignoriert, es spielte auch die Schlussphase uninspiriert über die Außen. So gab’s ein logisches 0:0.

Stand nach dem ersten Spieltag: Holland 3, Frankreich, Rumänien 1, Italien 0.

Italien - Rumänien 1:1 (0:0)

Italien – Rumänien 1:1 (0:0)

Nach der Pleite gegen Holland drehte Roberto Donadoni sein Team komplett um: Fünf personelle Wechsel nahm er vor, dazu begann er in jenem System, das in der letzten halben Stunde gegen Holland guten Druck nach vorne ausüben konnte. Im 4-3-1-2 spielte nun Camoranesi auf der Zehn, er zeigte dabei deutlichen Rechtsdrall. Auch im defensiven Mittelfeld gab’s Wechsel: Statt Gattuso und Ambrosini von Milan kamen De Rossi und Perrotta von der Roma.

Damit gab es keinen echten Tackler mehr, sondern drei Ballverteiler. Maßnahmen, die Wirkung zeigten, zumal auch Grosso und Zambrotta massiv nach vorne marschierten und für Breite im Spiel sorgten. Italien hatte das Spiel komplett im Griff und kam auch zu einigen guten Chancen, allerdings zeigte wie schon gegen Holland vor allem Luca Toni eine grausame Leistung.

Die Rumänen ihrerseits versuchten, die offensive Ausrichtung der Italiener zu nützen, indem sie ihrerseits in den Rücken der Mittelfeld-Achse zu kommen versuchten und den Platz hinter den oft weit aufgerückten italienischen Außenvertedigern zu nützen. Zudem waren Mutu und Co. vor allem mit gut platzierten Weitschüssen immens gefährlich.

So entwickelte sich eine sehr sehenswerte Partie, in der Mutu nach einer Stunde einen schweren Patzer von Zambrotta zur rumänischen Führung nützte, die im direkten Gegenzug von Panucci (nach einem Eckball) ausgeglichen wurde. Doch weil beide Teams wegen des guten Auftretens der Holländer im ersten Spiel wussten, dass sie eigentlich gewinnen mussten, gaben auch beide weiterhin Gas. Die Italiener rückten immer mehr auf, wodurch sich für die ballsicheren Rumänen Platz ergab. Zehn Minuten vor Schluss schien das Pendel dann zu Gusten der Rumänen auszuschlagen, als Panucci im Strafraum Niculae niederriss – doch Mutu scheiterte mit seinem Elfer an Buffon. So blieb’s beim 1:1.

Holland - Frankreich 4:1 (1:0)

Holland-Frankreich 4:1 (1:0)

Das französische Team hatte viele Probleme, das gespannte Verhältnis der Spieler zu Domenech war nur eines davon. Das Team war außerdem alt. Zidane hatte zwei Jahre davor aufgehört. Thuram, 36, bekam zusehens Tempo-Probleme. Makélélé, 35, in seiner Glanzzeit für bombensicheres Passspiel berühmt, wusste sich oft nur noch mit Härteeinlagen zu helfen. Thierry Henry, 30, hatte eine schwierige Saison in Barcelona, und ihm fehlte es zudem nach einer Muskelzerrung an Spielpraxis. Kapitän Vieira, 31, konnte wegen Knieproblemen überhaupt nicht eingreifen, für ihn musste Toulalan spielen. Ein braver Kämpfer, aber mehr auch nicht.

So verwundert es nicht, dass die Équipe Tricolore gegen Holland zunächst einen ähnlich leblosen Auftritt hinlegte wie zuvor gegen Rumänien, auch nachdem die Holländer schon nach zehn Minuten durch einen Kuyt-Kopfball nach einer Ecke in Führung gegangen waren.

Dabei war die Überlegung hinter Domenechs System-Umstellung gut gewesen: Er stellte im 4-2-3-1 auf, mit Franck Ribéry auf der Zehn, wodurch das kreative Loch in der Theorie geschlossen wurde. In der Praxis auch, aber erst nach einer halben Stunde.

Die Holländer stellten ihr anfängliches Pressing nach dem 1:0 wiederum ein, aber von den Franzosen kam gar nichts. Erst, als Ribéry merkte, dass Orlando Engelaar in seinem Positions-Spiel immer übermütiger wurde, riss er das Spiel an sich. Mit seinen Dribblings und Tempo-Läufen in Engelaars Rücken zog er Gegenspieler auf sich, so entstanden Löcher und vor allem Govou nützte diese immer wieder. Zur Halbzeit wäre der Ausgleich durchaus verdient gewesen.

Marco van Basten nahm Engelaar umgehend aus dem Spiel und brachte Arjen Robben, der wegen einer Leisten-Verletzung die erste Partie aussetzen hatte müssen, für die linke Seite. Dafür ging Sneijder ins Zentrum und Van der Vaart auf die Acht. Logisch: Denn während auf der rechten Flanke der defensiv bekannt starke Kuyt den bemühten Evra unter Kontrolle hatte, konnte Sagnol gegen den einrückenden und gegen den Ball inkonsequenten Sneijder ungehindert durchgehen. Mit Robben hatte Sagnol zu tun, wodurch das Spiel der Franzosen sich nun komplett nur noch über die Mitte abspielte.

Das zwar nicht schlecht, aber nach einer Stunde schlug es in die Drangphase der Franzosen dennoch ein – Van Nistelrooy hielt mit einem Fersler den Ball für Robben im Spiel, dieser ging zur Grundlinie durch, flankte auf den kurz zuvor für Kuyt eingewechselten Van Persie, und es stand 2:0. Das Risiko von Van Basten, nun auf beiden Seiten auf eine defensive Absicherung im Mittelfeld zu verzichten, hatte sich ausgezahlt.

Domenech reagierte, indem er mit Gomis (statt Malouda) einen zweiten Stürmer brachte und wieder auf jenes 4-2-2-2 ging, das schon gegen Rumänien nicht funktioniert hatte. Auch, wenn das zwischenzeitliche Anschlusstor der Franzosen über die rechte Seite fiel (Flanke Sagnol, Tor Henry): Weiterhin war einzig Ribéry ein ständiger Gefahrenherd. Und als Robben nur acht Sekunden nach Wiederanpfiff nach dem 1:2 mit einem Kunstschuss aus spitzem Winkel das 3:1 erzielte, war die Partie entschieden. Holland hatte den Weltmeister und den Vize-Weltmeister mit insgesamt 7:1 Toren geschlagen – Sneijder setzte in der Nachspielzeit noch ein viertes Tor drauf – und war damit Gruppensieger.

Frankreich hatte zwar ab der 30. Minute eine an sich gar nicht so schlechte Leistung gezeigt, doch lebte diese praktisch ausschließlich von Franck Ribéry. Mit 24 Jahren der Zweitjüngste im Team.

Stand vor dem letzten Spieltag: Holland 6, Rumänien 2, Italien, Frankreich 1.

Holland - Rumänien 2:0 (0:0)

Holland – Rumänien 2:0 (0:0)

Die Lage für die Rumänen war klar: Nach dem beiden respektablen Remis gegen Italien und Frankreich würde gegen Holland ein Sieg in jedem Fall zum Viertelfinal-Einzug reichen. Angesichts der Tatsache, dass Marco van Basten ob des schon feststehenden Gruppensiegs seine Reservisten spielen ließ und sich die etatmäßigen Starter auf der Bank mehr um die Blähungen von Rafael van der Vaart kümmerten als ums Match, standen die Vorzeichen gar nicht so schlecht.

Doch die Rumänen wirkten seltsam gehemmt. Ähnlich wie im Spiel gegen Frankreich zog man sich sehr weit zurück, überließ den Holländern den Ballbesitz (bis zu 65%) und harrte der Dinge. Oranje spielte in dieser Partie eher mit einem 4-4-1-1, weil Robin van Persie – nominell auf der Zehn – sehr weit aufrückte und zuweilen als zweiter Stürmer neben Huntelaar stand. Holland machte es gegen die passiven Rumänen nicht ungeschickt: Afellay und De Cler sorgten für die Breite im Spiel, Robben orientierte sich eher feldeinwärts, und vorne waren Huntelaar und Van Persie ständige Gefahrenherde.

Auch, wenn das Tempo bei den Holländern nicht rasend war, hatte man die Rumänen doch gut im Griff. Bei Adrian Mutu hatte man den Eindruck, dass ihm sein verschossener Elfer aus dem Italien-Spiel immer noch nachhängt, Nicolita kam gegen De Cler überhaupt nicht zum Zug – so war Razvan Cocis der auffälligste bei Rumänien. Der Mann von Lok Moskau half hinten aus und war mit seinen Vorstößen lange noch der gefährlichste Spieler seines Teams. Und er war es auch, der kurz vor der Pause die einzige wirkliche Torchance hatte, aber aus wenigen Metern über das Tor hämmerte. Ansonsten kam Rumänien nur aus Weitschüssen zum Abschluss.

Und wurde nach der Pause auch hinten schludrig. So stand Tamas bei einer Flanke von Afellay nur entspannt neben Huntelaar, sodass dieser problemlos zum 1:0 nach 54 Minuten verwerten konnte. Erstaunlicherweise wurde das Spiel der Rumänen aber weiterhin nicht aktiver und auch von der Bank kamen nur direkte Wechsel, aber keine echten Impulse. Selbst im Schongang hatte Holland alles im Griff und Van Persie nützte kurz vor dem Schluss eine weitere Schlafmützigkeit zum 2:0-Endstand.

Die Holländer nahmen den leichten Sieg gerne mit, taten aber selbst nicht sehr viel dazu. Das Tempo war überschaubar, das Pressing ebenso, und selbst im Rückstand und im Wissen um den Stand im Parallelspiel schafften es die Rumänen nie, aus der eigenen Lethargie zu erwachen. So haben sie das Viertelfinale letztlich selbst verbockt.

Frankreich - Italien 0:2 (0:1)

Frankreich – Italien 0:2 (0:1)

Schlimmer kann eine erste halbe Stunde nicht verlaufen wie für die Franzosen in diesem Entscheidungsspiel um den Einzug ins Viertelfinale. Nach acht Minuten reißt sich Franck Ribéry bei einem Foul an Zambrotta das Syndesmose-Band – somit musste der einzige Spieler, der das französische Team am Leben erhalten hatte, raus. Für ihn kam Nasri, aber schon 15 Minuten später musste auch der wieder raus. Abidal hatte nach einer Notbremse an Toni die rote Karte gesehen, mit Boumsong kam ein neuer Innenverteidiger.

Somit waren die Franzosen, die zum 4-2-2-2 aus der ersten Partie zurückgingen, gefühlt schon geschlagen. Einer weniger, ein Tor hinten, und der beste Spieler weg, was sollte da noch möglich sein. Zumal man nun auf ein 4-2-3 wechselte und im Mittelfeld nicht mehr viel übrig war. Toulalan rückte bei Bedarf etwas auf.

Seltsamerweise wirkten aber die bis dahin starken Italiener mindestens genauso irritiert wie die Franzosen. Es stellte sich ein Gefühl von Unkonzentriertheit ein, durch das die Franzosen – die  zu diesem Zeitpunkt schon wesentlich deutlicher als 0:1 im Rückstand hätte liegen müssen – merklich Luft schnappen konnten.

Fabio Grosso war ungewohnt zurückhaltend, obwohl seinem Gegenspieler Govou erstens wenig gelang und der durch die personell ausgedünnte Offensive der Franzosen auch wenig Anspielstationen hatte. Das Mittelfeld-Trio rückte immer wieder etwas gar weit auf, ohne dass jemand den Blick nach hinten behielt, so konnten Henry (zentral) und Benzema (von der linken Seite) zwischen die Reihen stoßen. Und auch das Offensiv-Trio wirkte ungenügend abgestimmt.

Trotzdem musste Italien nie Sorge haben, den Sieg zu verspielen. Frankreich kam im ganzen Spiel zu zwei ernsthaften Torchancen und mit dem 2:0 nach einer Stunde, einem abgefälschten Freistoß, war das Spiel im Grunde schon entschieden. Was man merkte: Die Franzosen steckten auf und den Italienern fehlte die Notwendigkeit, das eigene Spiel auf die Reihe zu bekommen. Die Folge: Eine unansehnliche letzte halbe Stunde.

Endstand der Gruppe: Holland 9, Italien 4, Rumänien 2, Frankreich 1

Italien war nur in einem Spiel wirklich gut, kam aber letztlich dennoch verdient als Gruppenzweiter ins Viertelfinale. In einer überalterten und uninspirierten französischen Mannschaft gab es nur einen Spieler, der Verantwortung übernehmen wollte, und der musste im entscheidenden Spiel nach zehn Minuten raus. Die Rumänen agierten nach einer starken Qualifikation viel zu zurückhaltend, ja fast feig. Gegen Frankreich und Holland wurde viel zu wenig Initiative übernommen und außer dem Hoffen auf Mutu war an Offensiv-Plan nicht viel zu erkennen.

Die Holländer waren ohne Zweifel die klar beste Mannschaft der Gruppe, allerdings mit zwei kleinen Einsprüchen. Erstens waren die Gegner schwach und mit sich selbst beschäftigt, zweitens kam in den beiden Spielen gegen Italien und Frankreich der Spielverlauf entgegen. In beiden gab’s eine verhältnismäßig frühe Führung, nach der man sich zurückziehen und auf Konter lauern konnte. Zwei Kontertore gegen Italien, eines gegen Frankreich – und Rumänien forderte das B-Team einfach nicht,

(phe)

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Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.