Das wandelnde Staatsgeheimnis

WM-SERIE, Teil 30: NORDKOREA | Im Frauenfußball gehört das Team aus dem nördlichen Teil der koreanischen Halbinsel zur absoluten Weltspitze – das Männerteam umgibt bei der ersten WM-Teilnahme seit 44 Jahren hingegen ein dicker Nebel des Unbekannten. Sicher nicht ohne Hintergedanken.

Hinten dicht und vorne beten – so könnte man das Spielprinzip des jungen Teams aus Nordkorea bezeichnen. Wären die Bewohner des kommunistisch regierten Staates nicht offiziell konfessionslos. Sehr viel mehr sportliche Erkenntnisse konnten aus der überraschenden Qualifikation, immerhin vor arrivierten Teams wie Saudi-Arabien und Iran, nicht gewonnen werden. Bis auf die drei Spieler, die außerhalb des von der Außenwelt abgeschotteten Staates spielen, sind Beobachtungsmöglichkeiten nur auf Nationalmannschafts-Ebene gegeben. Es steht aber zu vermuten, dass nicht ausschließlich der Staatsdoktrin schuld daran ist, dass auch so etwas profanes wie die Fußballmannschaft als wandelndes Staatsgeheimnis auftritt.

Denn Teamchef Kim Jung-Hun, von dem bis vor Kurzem nicht einmal ein Geburtsdatum herauszufinden war, weiß ganz genau: Sportlich hat seine blutjunge Rasselbande in der Gruppe mit Brasilien, Portugal und der Elfenbeinküste realistisch betrachtet nicht den Funken einer Chance. Also muss man die überlegenen Gegner über so viele Details im Unklaren halten, wie nur irgend möglich. Zudem gefallen sich die Nordkoreaner durchaus in der Rolle des unbekannten Außenseiters. Das hat in der Qualifikation wunderbar funktioniert, also warum ändern, was Erfolg hat?

Und es ist der größte Erfolg für Nordkoreas Männerfußball seit immerhin 44 Jahren. Damals, bei der Endrunde in England, schalteten sie sensationell mit einem 1:0 die Italiener aus, ehe das Viertelfinale gegen Eusebios Portugiesen nach einer 3:0-Führung noch 3:5 verloren ging. Das war das letzte große Ausrufezeichen für viele, viele Jahre. Erst in jüngster Vergangenheit deutete sich ein Aufschwung an. Denn die Junioren-Teams waren sowohl bei der U20-WM in Kanada 2007 dabei, als auch bei der U17-WM in Peru zwei Jahre zuvor. Und zwar jeweils mit respektablen Ergebnissen! In Peru schalteten die Burschen in der Vorrunde immerhin die Altersgenossen aus Italien aus (klingelt was?), und in Kanada wurden die Nordkoreaner zwar nur Gruppendritter – aber das hinter den späteren Finalisten Argentinien und Tschechien.

Kein Zufall also, dass diverse Spieler dieser beiden Teams auch im jetzigen WM-Kader zu finden sind, wenn auch nicht als Stammkräfte. Wie überhaupt die Asiaten mit einer recht jungen Mannschaft daherkommen, das Durchschnittsalter beträgt lediglich 24,8 Jahre. Was natürlich auch heißt: Die Erfahrung auf internationalem Top-Niveau fehlt komplett. Ja, insgesamt sechs der Kaderspieler haben schon Turniererfahrung durch die Nachwuchs-Endrunden und immerhin drei Führungskräfte sind in Japan und Russland in durchaus konkurrenzfähigen Ligen aktiv, aber verglichen mit den Gegnern, die nun warten, ist das natürlich sehr dünn.

Hinzu kommen auch andere kleine Problemchen. Etwa die Suche nach einem neuen Ausrüster – die chinesische Firma Erke, welche in den letzten Jahren der Zulieferer war, sprang vor kurzem ab, aber keiner der arrivierten, großen Firmen wollte sich mit dem Schmuddelkind der Weltpolitik einlassen. Am Ende erbarmte sich die italienische Firma Legea. Auch der Schachzug von Teamchef Kim Jong-Hun, einen Stürmer (namentlich Kim Myung-Won) zusätzlich als dritten Torhüter zu benennen, wurde von der FIFA durchkreuzt, nun darf sich der 26-Jährige gar nur noch als Torsteher betätigen.

Ein Anfängerfehler, womöglich. Aber auch, wenn über die Nordkoreaner kaum etwas bekannt ist: Blöd sind sie sicher nicht. Durchaus möglich also, dass das Spielchen mit dem dritten Torwart ein gezieltes Manöver war, vergleichbar mit der Art und Weise, mit der vor zwei Jahren der türkische Teamchef Fatih Terim bei der EM alle für dumm verkaufte, als er immer wieder betonte, er habe so wenige Spieler zur Verfügung, dass er fast noch selbst auflaufen müsse. Die Gegner bekamen so ein Gefühl des „die sind so kaputt, die schlagen wir im Vorbeigehen“, an dem letzlich die an sich klar besseren Kroaten scheiterten und die Deutschen im Semifinale beinahe ebenso. Verunsichern der starken Konkurrenz ist in der „Todesgruppe“, in welche die Koreaner gelost wurden, zweifellos ein probates Mittel.

Denn sicher, die Gegner sind von ihrer Klasse her allemal stark genug, um die Nordkoreaner auch ohne allzu ausführliche spezielle Vorbereitung schlagen zu müssen. Aber bei der extrem defensiven Spielweise wäre es keine Sensation, wenn sie einem der Gegner auch mal ein 0:0 abtrotzen würden. Zwei Punkte, die dem Gegner im Kampf um den Achtelfinal-Einzug extrem schmerzen würden! Und wehe, die Koreaner gehen in Führung. Nicht nur, dass eine Niederlage gegen die völlig unbekannten Asiaten für die großen Gegner eine extreme Peinlichkeit wäre, nein, es würde mit einiger Wahrscheinlichkeit das Aus bedeuten. Wenn nicht gleich, dann im Achtelfinale gegen Spanien, denn für den Gruppensieg wird man die Koreaner zweifellos schlagen müssen.

Und zwar mit eigener Offensive, denn selbst wird der Fußball-Zwerg nicht initiativ. Der Schlüssel zur erfolgreichen WM-Teilnahme war eine extrem defensive Spielweise und eine starke körperliche Verfassung, die es erlaubt, das Abwehr-Konzept auch über 90 Minuten aufrecht zu erhalten. So blieben die Nordkoreaner in allen sechs (!) Vorrundenspielen der Qualifikation ohne ein einziges Gegentor, und in den acht Finalrunden-Partien musste der gute Torwart Ri Myung-Guk auch nur fünf Mal hinter sich greifen. Davon nur ein einziges Mal in den letzten fünf Spielen – beim 0:1 in Südkorea, der einzigen Niederlage in den vier Spielen gegen den ungeliebten Nachbarn.

Geduld ist also angesagt, wenn man der Abwehr einen einschenken will. Man darf nicht die Nerven verlieren sollte es nach 70 Minuten immer noch 0:0 stehen, denn genau darauf lauern die Koreaner, die sich ihrer Stärken, aber auch ihrer Schwächen sehr genau bewusst sind und sich hervorragend den Angriffssystemen der Gegner einstellen können. Zumindest war dies in der Qualifikation der Fall – wenn grandiose Einzelkönner wie Cristiano Ronaldo auf die zwar hervorragend organisierten, aber eher kleinen und schmächtigen Abwehrspieler treffen, kann das durchaus schon wieder ganz anders aussehen. Solche Spieler gibt es in Asien nun mal nicht. Und in der nordkoreanischen Liga, in der alle Abwehrspieler aktiv sind, schon gleich gar nicht.

Dass die Defensive der Trumpf ist, zeigt auch die ultra-vorsichtige Grundformation eines 5-3-2 bzw. 5-4-1, wie es Teamchef Kim Jong-Hun bevorzugt. Das Grundgerüst bilden Spieler vom Armeeklub 4.25 Sports Group, deren Name sich auf den 25. April, dem Gründungsdatum der Armee, bezieht. In der Abwehr streiten sich hier die routinierten Mannschaftskollegen Nam Song-Chol (28) und Ji Yun-Nam (33) um den Platz auf der linken Seite. In der Qualifikation war hier eher Ji die erste Wahl, aber da dieser auch als Sechser eine Alternative ist, kann sich Nam durchaus Chancen ausrechnen. Daneben ist auch Ri Kwang-Chon (24), einer der drei Zentralen, in Diesten des Armeevereins, der in Nampho etwa 40 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Pyöngyang stationiert ist. Die andere Seite gehört zwei Spielern des nach dem nordkoreanisch-chinesischen Grenzfluss benannten Vereins Amrok-Gang, welcher dem Sicherheitsministerium unterstellt ist. Es sind dies Pak Chol-Jin (24) und Rechtsverteidiger Cha Jung-Hyuk (24).

In der unmittelbaren Zentrale steht zudem, ähnlich wie etwa bei der griechischen Mannschaft, noch ein zusätzlicher Verteidiger, der die Rolle eines echten Organisators, gar einer Art Libero, spielt. Der junge Ri Jun-Il (22) dirigiert mit grimmigem Blick die seine beiden Innenverteidiger, die mit 1.84m (Ri KC) und 1.85m (Pak CJ) auch die körperlich größten Spieler der Mannschaft sind. Vor allem bullige Strafraumstürmer wie Didier Drogba oder Luís Fabiano könnten die nordkoreanische Verteidigung hier durchaus für unlösbare Probleme stellen. Zumal ein Spieler wie Drogba den Körperkontakt gerade im Strafraum durchaus sucht, um Strafstöße heraus zu holen.

Vor der Fünfer-Abwehrkette stellt Teamchef Kim Jong-Hun ein Dreiermittelfeld auf, deren Spieler nicht mehr gar so jung sind wie in der Abwehr. Hier agier Ahn Yong-Hak als Sechser, also als weiteren defensiv orientieren Spieler. Ahn gehört der nordkoreanischen Minderheit in Japan an, wurde dort geboren und spielt bei Omiya Ardiya auch in der sportlich durchaus starken J-League. Der 31-jährige Routinier, der kurioserweise auch schon mal bei Suwon in der südkoreanischen Liga aktiv war, ist der Denker und Lenker, das Bindeglied zwischen Defensive und der (eher spärlich vorhandenen) Offensive. Ihm zur Seite stehen wieder zwei Spieler vom Armeeklub, nämlich der nur 1.69m kleine Flügelflitzer Mun Ing-Guk (31), sowie Pak Nam-Chol (24) – sein Namensvetter ist drei Jahre jünger und stellt eine Alternative in der Innenverteidigung dar. Auch das Mittelfeld denkt überwiegend defensiv, ist nicht gerade ein Ausbund an Kreativität.

Für diese sind die beiden explizit offensiven Kräfte zuständig – die Legionäre Jong Tae-Se (26) und Hong Yong-Jo (28). Letzterer kommt eher aus der Etappe und agiert mehr aus dem Mittelfeld heraus, was dieses schnell zu einer Viererformation in einer Raute werden lässt. Ob man das System also nun als 5-3-2 oder als 5-4-1 liest, ist Interpretationssache. Die Crux bei Hong ist, dass er zwar in der Qualifikation der erfolgreichste Torschütze seines Teams war, bei seinem Klub – dem russischen Mittelständler FC Rostov – aber kaum eine Rolle spielt und über ein Dasein als Joker nicht hinauskommt. Die einzige wirkliche auch als solche erkennbare Sturmspitze ist Jong Tae-Se, wie der Sechser Ahn ein bereits in Japan geborener Spieler, der sich aber laut eigener Aussage „zu 100% als Nordkoreaner“ fühlt – solche linientreuen Aussagen sind das einzige, was aus dem Kreis der Nationalmannschaft dringt.

Der 26-jährige Stürmer, der aufgrund seines robusten Körperbaus so ein wenig wie ein Riesenbaby aussieht, ist im Gegensatz zu seinem verkappten Sturmpartner absolut Stammspieler bei seiner Mannschaft, und ist in der J-League auch durchaus torgefährlich. Zwar kommt ihm bei Kawasaki Frontale auch die offensivere Spielweise dieser Mannschaft zugute, aber Jong erzielte knapp ein Viertel der Treffer seiner Klubmannschaft und hat somit durchaus seinen Anteil daran, dass zur WM-Pause der Abstand zur Tabellenspitze nur gering ist. Auf seinen Qualitäten als Vollstrecker verlassen sich die Nordkoreaner, wenn es Konter gibt.

Was die einzige Möglichkeit sein dürfte, zu Torchancen zu kommen. Besonders attraktiv anzusehen ist das natürlich nicht, das ist aber auch nicht der Anspruch. Im Grunde genommen ist die bloße Teilnahme schon deutlich mehr, als man sich in Nordkorea realistischerweise erhoffen konnte. Selbst wenn es drei klare Niederlagen gäbe, würde das dem grundsätzlichen Erfolg der Qualifikation keinen Abbruch tun.

Nur die Bevölkerung des so völlig von der Außenwels abgeschnittenen Landes wird von den Spielen ihrer Mannschaft in Südafrika nichts mitbekommen, was nicht vorher schon durch den staatlichen Propaganda-Fleischwolf gedreht wurde – denn der TV-Feed, der wie etwa vor vier Jahren bei der Endrunde in Deutschland von Südkorea aus in den Norden gesendet wurde, ist wegen des jüngsten kriegerischen Säbelrasselns zwischen den beiden Staaten ausgesetzt.

Vielleicht gar nicht so schlecht, denn anders dürften Kim Jong-Il und sein Regime die Spiele kaum als großen, staatstragenden Erfolg verkaufen können.

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NORDKOREA
ganz in rot, Legea – Platzierung im ELO-Ranking: 82.

Spiele in Südafrika:
Brasilien (Abendspiel Di 15/06 in Johannesburg/E)
Portugal (Mittagsspiel Mo 21/06 in Kapstadt)
Côte d’Ivoire (Nachmittagsspiel Fr 25/06 in Nelspruit)

TEAM: Tor: Kim Myung-Gil (25, Amrok-Gang), Kim Myung-Won (26, Amrok-Gang, eigentürlich Stürmer), Ri Myong-Guk (23, Pyöngyang City). Abwehr: Cha Jong-Hyok (24, Amrok-Gang), Nam Song-Chol (28, 4.25 Sports Group), Pak Chol-Jin (24, Amrok-Gang), Pak Nam-Chol I (21, 4.25 Sports Group), Ri Jun-Il (22, Sobaeksu), Ri Kwang-Chon (24, 4.25 Sports Group), Ri Kwang-Hyok (22, Kyong Gongop). Mittelfeld: Ahn Yong-Hak (31, Omiya Ardiya), Ji Yun-Nam (33, 4.25 Sports Group), Kim Kyong-Il (21, Rimyongsu), Kim Yong-Jun (26, Pyöngyang City), Mun In-Guk (31, 4.25 Sports Group), Pak Nam-Chol II (24, 4.25 Sports Group), Pak Sung-Hyok (20, Sobaeksu), Ri Chol-Myong (22, Pyöngyang City). Angriff: An Chol-Hyok (25, Rimyongsu), Choe Kum-Chol (23, 4.25 Sports Group), Hong Yong-Jo (28, Rostov), Jong Tae-Se (26, Kawasaki Frontale), Kim Kum-Il (22, 4.25 Sports Group).

Teamchef: Kim Jong-Hun (53, Nordkoreaner, seit Februar 2008)

Qualifikation: 4:1 in und 5:1 gegen die Mongolei. 1:0 in Jordanien, 0:0 auf neutralem Boden gegen Südkorea, 0:0 in und 1:0 gegen Turkmenistan, 2:0 gegen Jordanien, 0:0 in Südkorea. 2:1 in den VAE, 1:1 auf neutralem Boden gegen Südkorea, 1:2 im Iran, 1:0 gegen Saudi-Arabien, 2:0 gegen die VAE, 0:1 in Südkorea, 0:0 gegen den Iran, 0:0 in Saudi-Arabien.

Endrundenteilnahmen: 1 (1966 Viertelfinale)

>> Ballverliebt-WM-Serie
Gruppe A: Südafrika, Mexiko, Uruguay, Frankreich
Gruppe B: Argentinien, Nigeria, Südkorea, Griechenland
Gruppe C: England, USA, Algerien, Slowenien
Gruppe D: Deutschland, Australien, Serbien, Ghana
Gruppe E: Holland, Dänemark, Japan, Kamerun
Gruppe F: Italien, Paraguay, Neuseeland, Slowakei
Gruppe G: Brasilien, Nordkorea, Côte d’Ivoire, Portugal
Gruppe H: Spanien, Schweiz, Honduras, Chile

* Die Platzierung im ELO-Ranking bezieht sich auf den Zeitpunkt der Auslosung

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Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.