Dunga und seine Arbeitstiere vom Zuckerhut

WM-SERIE, Teil 1: BRASILIEN | Sie sind der ewige Topfavorit. Sie sind der Rekordweltmeister. Und sie gelten auch in Süafrika als das Team, das es – neben Spanien – zu schlagen gilt. Doch mit einem hat Teamchef Carlos Dunga nichts am Hut: Mit Samba-Fußball!

Die Wurzeln des Teamchefs liegen in Europa. Als defensiver Mittelfeldspieler galt Carlos Dunga als einer der weltweit Besten, seine größte Zeit als Spieler hatte der heute 46-Jährige bei der Fiorentina und in Stuttgart. Und dieser Arbeitermentalität ist er bis heute treu geblieben: Mögen doch die Spanier zaubern. Die Seleção dieser Tage ist keine Gemeinschaft von Topstars, deren Vorbereitung auf WM-Turniere sich in Show-Trainings artikuliert und nur mit individiueller Klasse zum Erfolg zu kommen versucht. Mit diesem Ansatz ist Brasilien bei der Endrunde 2006 in Deutschland grandios gescheitert.

Eigenartigerweise war der Teamchef, unter dessen Regie exaltierte Egoisten wie Ronaldinho, Adriano und Robinho machen konnten, was sie wollten, mit Carlos Alberto Parreira just der Mann, der Brasilien 1994 mit Kapitän Dunga zum Titel geführt hat – als verschworene Gemeinschaft von Teamplayern. Der Exzentriker Romário war vorne für die Tore verantwortilch und auch seiner Klasse wegen unverzichtbar, aber dem Selbstdarsteller Raí wurde noch während des Turniers die Kapitänsbinde entrissen. Die Verantwortungsträger waren von nun an die „Deutschen“ Dunga und Jorginho und die taktisch disziplinieren Mauro Silva und Aldaír. Bei der Endrunde in den Staaten war nicht viel mit Zauberfußball, und das zeitigte Erfolg.

Nicht anders als damals ist der Zugang des 94er-Kapitäns Dunga als Teamchef anno 2010. Den schon jetzt altersschwachen Ronaldinho, den kaputten Adriano und Pummelchen Ronaldo wird man im Aufgebot vergeblich suchen; einzig Kaká wird als trickreicher, filigraner Offensivspieler brasilianischer Prägung eine tragende Rolle haben; wohl auch der allerdings oft unkonstante Robinho. Aber ansonsten? Bullige Stoßstürmer wie Luís Fabiano, unauffällige Mittelfeld-Quaterbacks wie Felipe Melo und Lucas Leiva, der kleine Elano als Einfädler auf rechts, eine humorlose Innenverteidigung mit Leuten wie Juan, Lúcio oder dem grimmigen Glatzkopf Cris, im Tor der ruhige Weltklassemann Júlio César: All das gemahnt eher als italienischen Systemfußball und deutsche Organisation, weniger an Copacabana-Strandkick.

Dazu mit Dani Alves und Maicon zwei der allerbesten Rechtsverteidiger überhaupt, vor allem Barcelonas Alves ist der legitime Nachfolger von Roberto Carlos als Ein-Mann-Büffelherde. Und mit Bastos könnte nun auch die letzte Problemposition besetzt sein – denn der Rücktritt von Roberto Carlos nach der 2006er-WM riss ein bis heute nicht adäquat geschlossenes Loch links hinten.

Nun ist Dunga damit deutlich europäischer unterwegs als der designierte Hauptkonkurrent Spanien, was sich auch in seine Populatität in der Heimat auswirkt: Dunga ist respektiert, wegen seiner Erfolge (wie dem 3:1 in der souveränen WM-Quali Argentinien, dem Copa-América-Titel 2007 mit dem 3:0-Finalsieg gegen den großen Nachbarn, und auch dem erneuten Erfolg beim Confed-Cup) geachtet – aber nicht geliebt. Im Land des Rekordweltmeisters schwärmt man eben für „jogo bonito“, das schöne Spiel. Das 82er-Team um Zico, Sócrates und Falcão, das vor lauter Zauben auf das Tore schießen vergaß und einen eigentlich sicheren WM-Titel leichtfertig schon in der Zwischenrunde wegwarf, wird bis heute als das beste brasilianische Team aller Zeiten verehrt. Der Titel von 1994? Erarbeitet, okay. Der 2002er-Titel gilt, obwohl sich die meisten Favoriten ohne brasilianisches Zutun selbst eliminiert hatten, als hochwertiger – Ronaldo, Ronaldinho und Rivaldo sei Dank.

Doch ein Titel in Südafrika wäre aus einem ganz anderen Grund ein wichtiger Fingerzeig für Brasilien. In vier Jahren wird erstmals seit 1950 der höchste Pokal des Weltfußballs in Brasilien vergeben – ein schlechtes Abschneiden in Südafrika würde den ohnehin schon riesigen Druck noch weiter erhöhen. Dabei ist schon die Vorrundengruppe, mit der sich die Seleção in Südafrika konfrontiert sieht, sauschwer und schon der Weg ins Achtelfinale kein lockerer Durchmarsch, wie es das vor allem beim Titel 2002 mit einer wirklich schwachen Gruppe der Fall war. Nach der Pflichtaufgabe gegen Fußballzwerg Nordkorea warten mit der Elfenbeinküste die wohl gefährlichste afrikanische Mannschaft, und wenn es da keinen Sieg gibt, steht Dunga mit seiner Mannschaft beim letzten Gruppenspiel gegen Portugal schon unter absolutem Erfolgszwang.

Das Gemeine an der Auslosung nämlich: Wird Brasilien „nur“ Zweiter, bekommt man es im Achtelfinale mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schon mit den Spaniern zu tun, die in ihrer für einen Topfavoriten recht billigen Gruppe wohl auch mit neun Mann Gruppensieger würden. Einziger Rettungsanker für den Fall eines verpassten Gruppensiegs: Die Spanier würden wohl auch liebend gerne auf die Seleção schon im Achtelfinale verzichten und könnten ihr letztes Spiel gegen Chile abschenken, denn die Iberer wissen zu diesem Zeitpunkt schon, wer im Falle eines eigenen Gruppensiegs warten würde.

Und noch etwas kommt erschwerend hinzu: Um eine solch schwere Gruppe zu überstehen, braucht es schon eine ordentliche Form zum Turnierstarte. Erfahrungsgemäß schadet eine solche aber im weiteren Verlauf, weil sie schwer zu konservieren ist, und „Todesgruppen-Überlebende“ sind nicht selten prominente Opfer in Achtel- und Viertelfinals. Es kann aber natürlich auch sein, dass nach einem Sieg gegen die Elfenbeinküste schon alles klar ist und man sich im letzten Spiel nur noch über Gruppenplatz 1 oder 2 Gedanken machen muss.

So oder so: Teamchef Dunga hat mit seinen Arbeitstieren vom Zuckerhut einen schweren Brocken Arbeit zu erledigen, in Südafrika. Und zwar schon in der Vorrunde.

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BRASILIEN
gelbes Shirt und grüne Hose, Nike – Platzierung im ELO-Ranking: 1.

Gruppenspiele in Südafrika:
Nordkorea (Abendspiel Di 15/06 in Johannesburg/Ellis Park)
Elfenbeinküste (Abendspiel So 20/06 in Johannesburg/Soccer City)
Portugal (Nachmittagsspiel Fr 25/06 in Durban)
eventuelles Achtelfinale gegen ein Team der Gruppe ESP/SUI/CHI/HON

TEAM: Tor: Doni (30, Roma), Gomes (29, Tottenham), Júlio César (30, Inter). Abwehr: Dani Alves (27, Barcelona), Cris (33, Lyon), Bastos (26, Lyon), Juan (31, Roma), Kléber (30, Int. Pto Alegre), Lúcio (32, Inter), Luisão (28, Benfica), Maicon (28, Inter), Thiago Silva (25, Milan). Mittelfeld: Anderson (22, Man Utd), Elano (29, Galatasaray), Felipe Melo (26, Juventus), Gilberto Silva (33, Panathinaikos), Kaká (28, Real Madrid), Kléberson (31, Flamengo), Lucas Leiva (23, Liverpool) Ramires (23, Benfica). Angriff: Hulk (23, Porto), Julio Baptista (28, Roma), Luís Fabiano (29, Sevilla), Nilmar (25, Villareal), Pato (20, Milan), Robinho (26, Man City).

Teamchef: Carlos Dunga (46, Brasilianer, seit August 2006)

Qualifikation: 0:0 in Kolumbien, 5:0 gegen Ecuador, 1:1 in Peru, 2.1 gegen Uruguay, 0:2 in Paraguay, 0:0 gegen Argentinien, 3:0 in Chile, 0:0 gegen Bolivien, 4:0 in Venezuela, 0:0 gegen Kolumbien, 1:1 in Ecuador, 3:0 gegen Peru, 4:0 in Uruguay, 2:1 gegen Paraguay, 3:1 in Argentinien, 4:2 gegen Chile, 1:2 in Bolivien, 0:0 gegen Venezuela.

Endrundenteilnahmen: 18 (1930 und 34 Erste Runde, 38 Dritter, 50 Zweiter, 54 Viertfelinale, 58 und 62 Weltmeister, 66 Erste Runde, 70 Weltmeister, 74 Vierter, 78 Dritter, 82 Zwischenrunde, 86 Viertelfinale, 90 Achtelfinale, 94 Weltmeister, 98 Finale, 2002 Weltmeister, 06 Viertelfinale)

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Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.