Die ??? bei den Drei Löwen

WM-SERIE, Teil 28: ENGLAND | Bis auf das bedeutungslose Spiel in der Ukraine gewann England nach der verpassten EM alle Quali-Partien klar. Dennoch kann das Team von Fabio Capello nicht als ganz großer Favorit gelten. Neben einigen kleinen dominieren drei große Fragezeichen.

„Machtdemonstration“ – anders kann man die Qualifikation der Engländer nicht nennen. Vor allem, nachdem die „Three Lions“ die vergangene Europameisterschaft verpasst hatten, waren gerade das 4:1 und das 5:1 gegen Kroatien wichtig. Und zwar für die eigene, innere Hygiene – schließlich waren es die Kroaten, welche England vor zwei Jahren die Teilnahme gekostet hatten. Diesmal konnte der Spieß umgedreht werden.

Was vor allem ein Verdienst von Fabio Capello ist. Der italienische Trainerfuchs verstand es, aus den Spielern aus den verschiedenen Lagern eine funktionierende Mannschaft zu machen. Eine, die hinten sicher steht, im Mittelfeld endlich einigermaßen funktioniert und vorne auch die Tore schießt. Capello brachte beinahe italienische Organisation ins englische Team. So will der zumeist als Mitfavorit gehandelte Weltmeister von 1966 diesmal wirklich ein ernsthaftes Wort um die Titelvergabe mitreden.

Doch alles verläuft auch diesmal nicht nach Wunsch. Die Vorbereitung ist bislang durchwachsen, mit Gareth Barry und Wayne Rooney kämpfen zwei absolute Stützen gegen Blessuren. Zudem spielten mit Steven Gerrard, Glen Johnson und Jamie Carragher drei potentielle Stammspieler mit Liverpool eine schreckliche Saison und strotzen daher nicht gerade vor Selbstvertrauen. Außerdem gibt es die in England ja schon fast traditionelle Torhüterdiskussion. Und nicht zuletzt nagt sicherlich auch das frühe Champions-League-Aus der Premier-League-Giganten – kein einziges englisches Team überstand auch nur das Viertelfinale – am Selbstverständnis.




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Was Capello am meisten zu schaffen macht ist, was für das Land der Premier League erstaunlich erscheint, die fehlende Kaderdichte. Zwar verfügen die Engländer über eine eminent starke erste Mannschaft, aber viele Ausfälle darf es nicht geben – nicht zuletzt deshalb, weil die Ausländeranteil in der Liga bei etwa zwei Dritteln liegt und es Spielern, die nicht bei den absoluten Topklubs spielen, mangels Champions-League-Einsätzen doch so ein wenig an internationaler Erfarhung auf allerhöchstem Niveau fehlt. Dass die Herren Milner und Heskey mit Aston Villa gegen einen internationalen No-Name wie Rapid Wien schon vor der EuroLeague-Gruppenphase gescheitert waren, mag dafür als Anzeichen herhalten.

Genau deshalb ist auch das große Fragezeichen hinter dem Sechser Gareth Barry so schmerzlich. Der Mittelfeldspieler von Manchester City wäre im fitten Zustand ohne Zweifel die Wunschbesetzung, aber eine Knöchelverletzung setzte ihn zuletzt außer Gefecht. Sein Back-up Michael Carrick wurde von nicht wenigen für die letztlich nicht den hohen Erwartungen entsprechende Saison und den verpassten Titel von Manchester United verantwortlich gemacht und konnte auch im Testspiel gegen Mexiko, in welchem er statt Barry zum Einsatz kam, nicht überzeugen. Und selbst wenn Barry rechtzeitig fit werden sollte, wonach es zur Erleichterung der Beteiligten aussieht, fehlt es ihm an der Spielpraxis und weiter Teile der WM-Vorbereitung.

Weswegen es in erster Linie an Frank Lampard sein wird, das Spiel der Engländer im defensiven Mittelfeld zu ordnen und zu lenken, egal ob nun an der Seite des indisponierten Carrick oder den rekonvaleszenten Barry. So oder so, die zentrale Position neben dem Star von Chelsea ist die erste große Bauchweh-Entscheidung von Capello. Der das Problem „Lampard und/oder Gerrard“ gelöst hat, indem er Gerrard im 4-4-2 auf die linke Mittelfeldseite stellt. Der Liverpool-Regisseur hat mit Weltmeisterschaften noch eine dicke Rechnung offen: Die Endrunde in Asien 2002 verpasste er verletzt, beim Viertelfinal-Aus vor vier Jahren verschoss der mittlerweile 30-Jährige im Viertelfinal-Shoot-Out gegen Portugal einen Elfmeter. Dass er nach einer Saison voller Enttäuschungen mit Liverpool zur WM fährt, muss nichts schlechtes sein – ein neues Umfeld könnte ihn zu „Jetzt-erst-recht“-Leistungen treiben.

Auf der rechten Seite hat Capello einige Möglichkeiten. Da wäre etwa Joe Cole, der aber in der letzten Zeit mehr gegen Verletzungen kämpfte als gegen Konkurrenten auf dem Feld. Oder Theo Walcott von Arsenal, der vor vier Jahren noch die große Überraschung im WM-Aufgebot war. Walcott hätte gegenüber Cole den Vorteil, dass er größeren Zug zum Tor besitzt. Zudem bekam er von Arsène Wenger vor allem im Frühjahr viele Einsätze und entwickelte sich zum Stammspieler. Ganz im Gegensatz zum dritten Kandidaten, Aaron Lennon. Der rechte Flügelmann war über weite Strecken des Frühjahrs mit einer Leistenverletzung außer Gefecht. Eine weitere Option von Capello wäre, Gerrard wie bei Liverpool ins Zentrum hinter eine Solospitze zu stellen, das wird vermutlich vor allem von Gerrards Form in der Vorbereitung abhängen, und davon, wie das funktioniert. Capello wird das ohne Zweifel noch testen.

Das zweite, wenn auch nicht ganz so große Fragezeichen steht hinter Wayne Rooney. Zwar sollte seine Verletzung, die er im Champions-League-Spiel gegen die Bayern erlitten hat, weit genug ausgeheilt sein, dass einem Einsatz von Beginn an nichts im Wege steht. Doch brachte die Zwangspause kurz vor Saisonschluss den bulligen Stürmer sicherlich so ein wenig aus dem Tritt. Und er ist für sein Team zweifellos noch wichtiger als es etwa Gareth Berry im defensiven Mittelfeld ist. Denn alleine mit seiner Präsenz, seinem Einsatz und seiner Laufbereitschaft ist Rooney unmöglich gleichwertig zu ersetzen. Ja, Tore können auch Crouch oder Heskey erzielen. Aber ihnen fehlt es eklatant an der Klasse eines Wayne Rooney. Und Zweifel, ob der 24-Jährige von Manchester United tatsächlich schon wieder bei 100% seiner Leistungskraft ist, wenn das erste Spiel gegen die Amerikaner angepfiffen wird, sind legitim.

Wer der Sturmpartner von Rooney wird, ist hingegen eher noch offen. Zwei-Meter-Hüne Peter Crouch wäre die logische Variante, weil er das genaue Gegenteil von Dauerläufer und Viel-Arbeiter Rooney ist: Der ungelekt wirkende Tottenham-Angreifer ist ein klassischer Strafraumstürmer. Emile Heskey wäre andererseits eher ein bulliger Stürmer, der Räume freiblocken kann. Es kann aber eben auch sein, dass Capello ganz auf den zweiten Stürmer verzichtet und Rooney alleine vor Gerrard stürmen lässt. Wird sich zeigen.

Gesetzt scheint dafür die Abwehrkette hinten. Mit Rio Ferdinand und John Terry in der Zentrale verfügen die Engländer zweifellos über eines der besten Innenverteidiger-Paare der Welt. Wenn sie fit sind, und da hatte vor allem Ferdinand in der letzten Zeit so seine Probleme. Mit Ledley King – der Tottenham-Verteidiger erlebt seinen zweiten Frühling – stünde zur Not ein patenter Ersatzmann bereit. Außerdem zeigt die Nominierung von Jamie Carragher, dass Capello sowohl für innen als auch für außen für Notfälle gerüstet sein möchte. Rechts hinten hat sich Glen Johnson von Liverpool etabliert, links ist das Terrain von Ashley Cole.

Das dritte große Fragezeichen betrifft bei den Engländern dafür die Position des Torhüters. Traditionell – Robinson wird das EM-Quali-Aus angekreidet und wurde nicht einmal nominiert, der alte David James hat eine Geschichte von peinlichen Fehlgriffen. Deswegen fährt James auch nur als Ersatzmann mit. Die meisten Spiele in der souveränen Qualifikation absolvierte Rob Green. Der Keeper von West Ham ist mit seinen 30 Jahren aber auch nicht mehr direkt ein Nachwuchstalent, zudem fehlt es ihm an internationaler Erfahrung.

Ein großes Turnier bereits absolviert hätte dafür Joe Hart. Der von Manchester City zuletzt an Birmingham verliehene Torhüter wurde letztes Jahr Vize-Europameister mit dem englischen U21-Team, spielte in der Premier League eine starke Saison und wird weithin als der Keeper der Zukunft gesehen. Aber ob er in Südafrika schon die Nummer eins ist, ist noch eher zweifelhaft. Da dürfte Green die Nase leicht vorne haben.

Natürlich, die Baustellen bei den Engländern bedeuten sicher so ein wenig Jammern auf hohem Niveau. Aber nach 44 Jahren ohne großen Titel steht außer Frage, dass im „Mutterland des Fußball“ mit der trotz allem immer noch besten Liga der Welt die Zeit reif wäre. Aber ist das die Mannschaft auch? Einerseits hätte die Mannschaft alles, was es zu einem guten Turnier braucht. Doch mit „langsam ins Turnier reinkommen“, wie es vor allem die Italiener vor vier Jahren meisterhaft vorgemacht haben, wird es trotz der auf dem Papier recht simplen Gruppe erst einmal nichts. Denn wird der Gruppensieg verpasst, droht mit einiger Wahrscheinlichkeit der große Gegner Deutschland schon im Achtelfinale. Ein Horrorszenario! Denn ein Aus noch vor dem Viertelfinale würde die ganze starke Qualifikation entwerten und die ganze behutsame Arbeit von Capello wäre umsonst gewesen.

Denn bei allen Fragezeichen in der Mannschaft: Das größte betrifft eigentlich nur die Frage, wann die Engländer endlich wieder ein richtig großes Turnier spielen. Und wenn es unter Trainerfuchs Capello nichts wird – wann dann?

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ENGLAND
weißes Trikot, blaue Hose, Umbro – Platzierung im ELO-Ranking: 4.

Spiele in Südafrika:
USA (Abendspiel Sa 12/06 in Rustenburg)
Algerien (Abendspiel Fr 18/06 in Kapstadt)
Slowenien (Nachmittagsspiel Mi 23/06 in Port Elizabeth)

TEAM: Tor: Joe Hart (23, Birmingham), David James (39, Portsmouth), Rob Green (30, West Ham). Abwehr: Jamie Carragher (32, Liverpool), Ashley Cole (29, Chelsea), Michael Dawson (26, Tottenham), Rio Ferdinand (31, Manchester Utd), Glen Johnson (25, Liverpool), Ledley King (29, Tottenham), John Terry (29, Chelsea). Mittelfeld: Gareth Barry (29, Manchester City), Michael Carrick (29, Manchester Utd), Joe Cole (27, Chelsea), Steven Gerrard (30, Liverpool), Tom Huddlestone (23, Tottenham), Frank Lampard (32, Chelsea), Aaron Lennon (23, Tottenham), James Milner (24, Aston Villa), Shaun Wright-Phillips (28, Manchester City). Angriff: Darren Bent (26, Sunderland), Peter Crouch (29, Tottenham), Jermaine Defoe (27, Tottenham), Emile Heskey (32, Aston Villa), Wayne Rooney (24, Manchester Utd), Theo Walcott (21, Arsenal).

Teamchef: Fabio Capello (63, Italiener, seit Dezember 2007)

Qualifikation: 2:0 in Andorra, 4:1 in Kroatien, 5:1 gegen Kasachstan, 3:1 in Weißrussland, 2:1 gegen die Ukraine, 4:0 in Kasachstan, 6:0 gegen Andorra, 5:1 gegen Kroatien, 0:1 in der Ukraine, 3:0 gegen Weißrussland.

Endrundenteilnahmen: 12 (1950 Vorrunde, 54 Viertelfinale, 58 Vorrunde, 62 Viertelfinale, 66 Weltmeister, 70 Viertelfinale, 82 Zwischenrunde, 86 Viertelfinale, 90 Vierter, 98 Achtelfinale, 2002 und 06 Viertelfinale)

>> Ballverliebt-WM-Serie
Gruppe A: Südafrika, Mexiko, Uruguay, Frankreich
Gruppe B: Argentinien, Nigeria, Südkorea, Griechenland
Gruppe C: England, USA, Algerien, Slowenien
Gruppe D: Deutschland, Australien, Serbien, Ghana
Gruppe E: Holland, Dänemark, Japan, Kamerun
Gruppe F: Italien, Paraguay, Neuseeland, Slowakei
Gruppe G: Brasilien, Nordkorea, Côte d’Ivoire, Portugal
Gruppe H: Spanien, Schweiz, Honduras, Chile

* Die Platzierung im ELO-Ranking bezieht sich auf den Zeitpunkt der Auslos

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Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.