Über den deutschen und den österreichischen Fußball

Das schöne an der Wochenzeitung DIE ZEIT ist, dass das darin behandelte Themenspektrum sowohl zeitgemäß aktuelle als auch zeitlose Artikel beinhaltet. So zeitlos, dass ich heute einen mit etwas Verspätung gelesenen Artikel aus der ZEIT von der letzten EM-Woche aufgreifen möchte. Dabei handelt es sich um ein mit dem fußballuntypischen Titel „Es war ein Kampf ums Überleben“ (bezogen übrigens auf das Spiel Österreich-Deutschland) versehenes Interview mit dem DFB-Nationalspieler und späteren EM-Finalisten Christoph Metzelder, aus dem man anhand einzelner Aussagen des Spanien-Legionärs interessante Erkenntnisse für den österreichischen Fußball sowie den Fußball im Allgemeinen ziehen kann.

Metzelder über das entscheidende Gruppenspiel gegen Österreich:

„Es gibt Spiele, wie das gegen Österreich, da merkt man nach ein paar Minuten, dass es schwer wird. (…) Gegen Österreich habe ich gespürt, dass wir nach der ersten vergebenen Chance und dem stärker werdenden Druck immer unsicherer geworden sind. (…) Vor dem Österreichspiel, bevor er von der Mannschaft getrennt wurde, hat Jogi Löw sehr emotional gesprochen, noch emotionaler als vor dem Kroatienspiel. Er hat uns vor Augen geführt, dass wir, wenn wir verlieren, Stichwort Cordoba, wieder 30 Jahre Hohn und Spott ertragen müssen. (…) Wir wollten das umsetzen, und obwohl wir spielerisch nicht brillant waren, hat man gemerkt, dass jeder diese Blamage unter allen Umständen verhindern wollte. Es war für alle im Team, aber auch für die Betreuer und Mitarbeiter, quasi ein Kampf ums Überleben. Es ging dabei ja, wie wir wissen, um viel mehr, bis hin zum Überleben des Systems, das wir über die letzten dreieinhalb Jahre aufgebaut haben.“

Viel wurde nach dem Ausscheiden Österreichs gegen Deutschland hierzulande analysiert, die einen machten den Faktor Pech sowie den Unterschied eines Klassespielers namens Ballack für ein unglückliches Ausscheiden trotz richtiger Warte- und Zermürbungstaktik Hickersbergers verantwortlich, die anderen kritisierten gerade ebendiese Taktik und hätten sich gegen vermeintlich angezählte Deutsche angesichts dieser Jahrhundertchance ein riskantes Angriffsfurioso gewünscht, an dessen Ende man entweder einen der größten österreichischen Fußballtriumphe gefeiert oder eine weitere Blamage gegen den historisch übermächtigen Konkurrenten eingefahren hätte – jedenfalls nicht vermeintlich knapp mit 0:1 ausgeschieden wäre.

Was diese unterschiedlichen Standpunkte eint, ist die Sichtweise der rot-weiß-roten Fußballbrille, gemäß derem ballesterischen Austrozentrismus die Analyse des Gegners fast schon verächtlich vernachlässigt wird. Aus diesem Grund liefert gerade diese Sichtweise Metzelders interessante neue Erkenntnisse, die nicht nur belegen, dass der Mythos Cordoba sehr wohl auch in den Köpfen der deutschen Spieler und Betreuer präsenter war als man dies in den öffentlichen Statements zuvor zugeben wollte, sondern die auch zeigen, dass dieses Deutschland – ganz im Gegensatz zum darauf folgenden Deutschland gegen Portugal oder die Türkei – verunsichert und angeschlagen, jedoch sich auch der über das reine Ergebnis hinausgehenden Bedeutung des Spiels bewusst war und sich erst dadurch zu einem verdienten, aber im Nachhinein deutlich härter erkämpften Sieg als bislang geglaubt stemmen konnte.

Diese Cleverness und Bewusstseinsbildung, gepaart mit der spielerischen, taktischen und psychischen Intelligenz ihrer Spieler aus den Top-Ligen Europas, hat somit in diesem entscheidenden Gruppenspiel den Ausschlag zugunsten Schwarz-Rot-Gold gegeben und muss als Mosaikstein der weiter kontinuierlich anzustrebenden Professionalisierung des österreichischen Nationalteams verstanden werden.

Metzelder über den deutschen Systemwechsel während des Turniers:

„Die Spieler, besonders die, die in großen Vereinen mit diesem System spielen, haben sich zusammengesetzt und diese Variante diskutiert. Wir haben natürlich viele Spiele beobachtet und zum Beispiel festgestellt, dass die Italiener bei der WM noch im 4-4-2-System gespielt haben – und jetzt auch auf 4-2-3-1 umgestellt haben. Parallel dazu hat sich der Trainerstab offenbar ähnliche Gedanken gemacht. Jedenfalls mussten wir die Trainer nicht überzeugen, dass diese Veränderung hilfreich wäre.“

Die Erkenntnis, dass eine Mannschaft im modernen Fußball unterschiedliche Systeme trainieren und insbesondere auch spielen sowie während eines Spiels alternieren können muss, ist ein halbes Jahr vor Beginn der EURO auch ins österreichische Nationalteam vorgedrungen. Fast wie selbstverständlich packte Hickersberger in den letzten Vorbereitungsspielen plötzlich taktische Varianten aus, darunter insbesondere die zum Sinnbild für die vermeintliche österreichische Variabilität hochstilisierte Dreierkette, und sorgte damit auf österreichischer Seite für Überraschungseffekte vor Turnierbeginn sowie hierzulande bislang medial unterbelichtete Aufstellungs- und Taktikdiskussionen während des Turniers. Gepaart mit einer im Rückspiegel der Erinnerung verbliebenen Taktiktrilogie namens Angsthase (Kroatien), Sturmlauf (Polen) und Vorsicht (Deutschland) bleibt somit der kollektive Eindruck einer Hickersberger’schen Errungenschaft, dem Nationalteam unterschiedliche taktische Varianten verpasst zu haben.

Soweit so gut, jedoch offenbart sich auch hier dank der Aussagen eines Weltklassespielers wie Metzelder aus einer Weltklassefußballnation wie Deutschland bzw. von einem Weltklasseverein wie Real Madrid der professionelle Unterschied, den es für den österreichischen Fußball erst sich mühevoll zu erarbeiten gilt. Intelligente Spieler braucht das Land, die unter fähigen Trainern mehr in Punkto taktischer Variabilität und Spielintelligenz lernen als das hierzulande praktizierte Pacult’sche Drauflosspielen oder den Lederer’schen Mortal Kombat Fußball und die insbesondere dieses Erlernte aufgrund der ständigen Herausforderungen europäischer Topligen umsetzen können, die selbstständig durch kritische Analysen gegnerischer Spielsysteme ihren eigenen taktischen Horizont erweitern und die im Sinne eines kollektiv besseren Fußballverständnisses dieses Spielverständnis auch an Fußballspieler, Zuseher und Medien weitergeben können. Und natürlich vor allem solche intelligenten Spieler, die so wie die deutschen Spieler taktische Möglichkeiten konstruktiv gemeinsam erörtern und deren Meinung von modernen Trainern respektiert, diskutiert und geschätzt wird anstatt wie hierzulande üblich als Wichtigtuerei oder gar Revolte erstickt zu werden.

Metzelder über Fußball als Kopfsache:

„Es gibt zum Beispiel ein Verfahren, Zweifel abrupt zu beenden: Es heißt Gedankenstopp. Dabei habe ich mir viele positive Gedanken aufgeschrieben, ich habe mir Bilder von Situationen, in denen ich fit war und überzeugend gespielt habe, ausgedruckt, sie immer wieder angeschaut. (…) Die Spiele, zu denen auch das gegen Portugal gehört bei denen ich weiß, es kommen starke Individualisten auf mich zu, vor solchen Spielen bekämpfe ich diese Angst oft tagelang im Voraus. Nicht selten sind das dann die besten Spiele für mich gewesen. (…) Ich bin fest davon überzeugt, dass es wichtig ist, Fußball ganzheitlich zu praktizieren, den Spieler auch in seiner Persönlichkeit zu fordern und zu formen. (…) Und ich weiß, dass das in vielen Vereinen nicht praktiziert wird. (…) Dass viele sich dem verweigern, hat oft mit einer Überheblichkeit zu tun, die ich nicht nachvollziehen kann. (…) Viel zu oft werden Millionen in Ergänzungsspieler investiert, statt sich einen größeren Trainerstab zu leisten.“

Für Paul Scharner, seines Zeichens österreichischer Vorreiter im Bereich des Mentaltrainings im Fußball, war der EM-Zug längst abgefahren, als man sich beim ÖFB dazu entschied, mit externer Hilfe nach dem Konditionstraining auch das Mentaltraining auf ein halbwegs professionelles Level zu hieven. Leider wird man hierzulande den Zweifel nicht los, dass diese Maßnahme im österreichischen Nationalteam eher einer Zwangsoktroyierung als einem eigenem willentlich geäußerten Bedürfnis der Nationalspieler gleicht, dass die Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit, mit einem höheren psychischen Niveau des Spiels und damit mit neuen Methoden der Trainingsarbeit auf Spielerebene deutlich zu wenig ausgeprägt ist und dieses ganz der österreichischen Seele entsprechende Manko leider auch nicht durch Initiativen in den Vereinen ausgeglichen wird. Alleine der unterschiedliche Umgang mit öffentlicher Kritik der Marke Scharner oder Metzelder – wenngleich der direkte Angriff auf den Fußballbund durch Scharner sicherlich von anderer Tragweite als das allgemeine Anprangern der Missstände bei vielen Vereinen durch Metzelder war – zeigt, dass auch in diesem Punkt eine rasche Professionalisierung im Umgang mit solcher Kritik durch die Betreuer/Funktionäre, die Medien und die gesamte Fußballöffentlichkeit mehr als notwendig ist.

Nur wenn sich der österreichische Fußball also weiter in allen Belangen professionalisiert und sich damit vom altmodischen Fußball des letzten Jahrzehnts mit unflexiblen Spielern, allmächtigen Trainern und starren Spielsystemen hin zu einem modernen Fußball mit universellen Spielern, offenen Trainern und konstruktiven Diskussionen hin emanzipiert, wenn Bewusstseinsbildung, Mentaltraining, Taktikverständnis und Systemvariabilität auch hierzulande verinnerlicht sind, wird man das Potenzial der verheißungsvollen aktuellen Generation ausschöpfen können. (Gastkommentar von Andreas Lindinger)

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