Mit einem Sieg im Derby gegen Tottenham wäre Arsenal an der Spitze der Premier League gestanden. Die Statistik ließ die Gunners hoffen, denn seit 1993 hatten die Spurs kein Auswärtsspiel bei einem der „Big Four“ im englischen Fußball gewonnen. Doch Arsenal bewies vor allem, wie man hochverdient 2:0 in Führung geht und trotzdem noch Derby und Tabellenführung verspielt.
Arsenal wurde von Arsene Wenger mit einem 4-2-3-1 aufs Feld geschickt. Die Rollenverteilung sah wie folgt aus. Die Außenverteidiger Clichy und Sagna gingen über die Flanken mit nach vorne, Denilson spielte einen eher defensiv orientierten Mittelfeldspieler, Song blockte ebenfalls tief im Feld die Angriffe von Tottenham, ging dann aber zuweilen bis ganz in die Spitze mit nach vorne. Das offensive Mittelfeld mit Regisseur Fabregas und den oft in die Mitte rotierenden Nasri und Arshavin glich im zusammenspiel mit dem ab und zu zurückfallenden Chamakh einem enorm dynamischen Flipper.
Eine ganz andere Interpretation eines am Papier ähnlichen Systems zeigte Harry Redknapp. Assou-Ekotto und Hutton hielten sich vorerst im Hintergrund und hatten die Aufgabe, Nasri und Arshavin nicht aus den Augen zu lassen. Jenas sollte das Mittelfeld absichern und Bälle sicher verteilen, Modric das Spiel eröffnen. Bale und Lennon sollten ihre Schnelligkeit an den Flanken ausspielen. Van der Vaart gab den Freigeist hinter Pavlyuchenko.
Dass Modric und Jenas sehr tief standen, gab Arsenal die Möglichkeit recht gesichert den Ball in den eigenen Reihen zu halten und auf die vier primären Offensivkräfte stets gut aufzupassen. So konnten die Flügelspieler stets von zwei bis drei Gegenspielern isoliert werden und kamen so in der ersten Hälfte kaum ins Spiel. Auch Van der Vaart fehlten Anspielstationen, obwohl er sich viel bewegte.
Schon in der ersten Minute spielte Arsenal die Stärken in der Zentrale aus, als ein Zuckerpass von Fabregas auf Nasri vom routinierten Gallas nur mit einem tollen Tackling abgefangen werden konnte. Dieses Duo sollte diesmal zwar noch scheitern, den Spurs in der Folge aber noch viele Schwierigkeiten bereiten. Während ein Vorstoß von Song bereits in der achten Minute für eine Flanke sorgte, die Spurs-Keeper Gomes Probleme bereitete, gingen die Hausherren Sekunden später in Führung.
Fabregas ließ sich tief zurückfallen um den Ball unter Kontrolle zu bekommen. An den Flanken orientierten sich Arshavin und Nasri ganz weißt außen und zogen die Tottenham-Abwehr so in die Breite. Der schnellen Sprint des Franzosen überraschte dann Assou-Ekotto, nicht aber den per Traumpass bedienenden Fabregas. Gomes zögerte kurz, konnte Nasri dann zwar stören, aber der in dieser Saison völlig enthemmte Mittelfeldspieler traf auch aus spitzen Winkel zwischen die Pfosten zum 1:0. Ein Lehrstück dafür, wie man eine Abwehr aufreißt – perfekt gerade gegen die sonst sehr eng stehende Tottenham-Abwehr.
Arsenal führte Tottenham in der ersten Hälfte diesbezüglich vor. Immer wieder wurde das Spielfeld entweder breit oder lang – manchmal auch beides – gemacht, um in der Mitte Fabregas Platz zu geben. Dieser nützte diesen mit Hilfe eines Kollegen stets dazu, enorm schnelle Vorstöße einzuleiten. So auch beim 2:0 in der 27. Minute, als der Kapitän erst selbst einige Meter mit dem Ball machte, dann links Arshavin freispielte, welcher den Ball zum in der Mitte bereitstehenden Chamakh weiterleitete. Fabregas selbst hatte kurz zuvor nach Pass von Song noch eine gute Möglichkeit auf den Führungsausbau vergeben. In der 34. Minute hätte nach einem ähnlichen Stretching-Spiel Arshavin die Möglichkeit vorgefunden, wurde aber als knapp im Abseits bewertet.
Bei Ballverlust attackierten die Gunners früh, ließen Tottenham keine Chance sich zu orientieren. So kamen die Spurs erst gegen Ende der Hälfte wieder einigermaßen nach vorne und war vor allem dann gefährlich, wenn Modric (30.) mit nach vorne ging oder es Standardsituationen gab. Die Außenverteidiger waren viel zu defensiv eingestellt, sodass erst in der 40. Minute Assou-Ekotto einmal bis zur Grundlinie ging, um eine Flanke zu versuchen. Bale und Lennon waren mangels unterstützung an der Seite völlig abgemeldet.
Das Tempo, das Fabregas im Zusammenspiel vor allem mit Nasri aus der Mitte heraus entwickeln konnte, war enorm. Und als es in die Pause ging, war die Frage legitim, wie man Arsenal in dieser Form überhaupt schlagen könne. Die souverände Vorstellung der Wenger-Mannschaft ließ keinen Zweifel über die Titelambitionen aufkommen.
Doch Redknapp reagierte und stellte auf ein System um, das mancher Beobachter ohnehin von anfang an erwartet hatte. Er brachte den wieder genesenen Defoe für Lennon um ein 4-1-3-2 zu etablieren. Van der Vaart rückte auf die rechte Seite (wo er allerdings selten blieb), auch Bale zog mehr in die Mitte und Modric setzte sich hinter den Spitzen fest. Nur Jenas sicherte nun noch hinten ab, fiel im Spielaufbau sogar zwischen die beiden Innenverteidiger zurück um Assou-Ekotto und Hutton die Möglichkeit zu geben, über die Flanken mit nach vorne zu gehen.
Erst schien es, als würde dieser Plan nicht aufgehen. Das Loch hinter Modric klaffte teilweise viel zu weit auf, die Spurs spielten deshalb vor allem weite Bälle in die Spitze und beim Forechecking wirkten sie noch weiter auseinandergerissen als in Hälfte eins. Arsenal hatte zudem in der Zentrale endgültig eine 3 gegen 2-Überzahl und nutzte die auch aus um die Bälle zu verteilen. Allerdings konnte man im Aufbau nicht mehr ganz so ruhig agieren, denn Tottenhams Pressing fand nun mit fünf Leuten statt – was eine Mannschaft dieser technischen Qualität aber erstmal nicht störte.
Schlussendlich gelang Tottenham aber durch eine Zufallsaktion der schnelle Anschluss. In der 50. Minute platierte Nasri einen Freistoß nicht gut genug, die Tottenham-Abwehr konnte klären. Assou-Ekotto nahm den Ball zur Seite, schaute… schaute… machte Defoe aus und drosch den Ball in seine Richtung. Der Stürmer behauptete sich, leitete bper Kopf nach vorne weiter, wo Van der Vaart von vier Gegenspielern unbedrängt den Ball herunternehmen und zu Bale weiterleiten konnte, der keine Gnade mit dem chancenlosen Fabianski kannte. Ein perfekt gespielter Konter, aber kein aus der allgemeinen Taktik erwachsenes Tor. Jedenfalls 2:1.
Es blieb vorerst beim selben Spielverlauf. Arsenal war im Ballbesitz spielte die Überzahl im Mittelfeld aus, fand aber keine allzu großen Chancen vor. Ansonsten spielte nach dem Anschlusstreffer vor allem Arsenals linke Seite groß auf. Van der Vaart nahm seine defensiven Aufgaben an der Seite (erwartbar) nicht allzu ernst, was Hutton am hinteren Ende des Feldes in ordentliche Bedrängnis brachte, da Clichy mehr Möglichkeiten zum Mitgehen vorfand um Arshavin zu untersützen. Es war ein schönes Beispiel dafür, wie wichtig offensive Außenverteidiger für ein modernes Flügelspiel sind – aber eben auch dafür, was die defensiven Kosten einer stark zur Mitte orientierten Offensiven sein können.
Tottenham versuchte es mit weiten Bällen die meist schnell zurück kamen. Einen solchen behauptete aber in der 56. Minute wieder Defoe, die Ablage auf Modric setzte dieser in einen Schuss um, der seinen Zweck allerdings knapp verfehlte. Es gab ansonsten nach wie vor keinen Indikator dafür, dass die Spurs dieses Prestigespiel drehen würden.
Nächster Auftritt Modric. Der kroatische Mittelfeldspieler nahm sich in der 66. Minute ein Herz, stieß mit einer Einzelaktion vor und wurde schlussendlich gefoult. Ein nicht oft eingesetzter Move, auf den sich Tottenham aber immer wieder verlassen kann (siehe seine Vorlage für VdV zum 1:0 gegen Inter). Das sollte an sich noch nicht fatal sein, auch die Distanz zum Tor war mit über 30 Metern erstmal nicht allzu beunruhigend für Arsenal. Beim Freistoß von Van der Vaart wehrte Fabregas den Ball allerdings mit der Hand ab – er stand innerhalb des Strafraums und dementsprechend folgerichtig gab es Elfmeter. Van der Vaart, der aus dem Spiel heraus keine richtigen Akzente setzen konnte, knippste knallhart zum 2:2-Ausgleich. Ein wahrlich nicht unglücklicher Spielverlauf für die Spurs.
Umgehend wechselte Wenger den schlampig gewordenen Chamakh aus und brachte Van Persie. Minuten später jubelte die Masse im Emirates, doch Squillacis Treffer wurde korrekt aberkannt. Fabregas war vor seinem Pass knapp im Abseits gestanden. Es stand eine hochspannende und völlige offene Schlussviertelstunde bevor.
Modric rückte nun wieder weiter zurück und Pavlyuchenko wurde durch Crouch (74.) ersetzt. Ein klassisches 4-4-2 sollte den Spurs den Punkt sichern, während Arsenal mehr und mehr Männer nach vorne beorderte und Walcott für Nasri und Rosicky für Arshavin brachte (77.). Fabregas fand zwei Chancen von der Strafraumgrenze vor – einmal verpasste er das Tor selbst (72.), einmal parierte Gomes glänzend (78.). Koscielny köpfte über das Tor (78.). Aber die Mine des äußerst angefressenen Arsene Wengers wollte sich nicht mehr aufhellen. Auf der Gegenseite sorgte Crouch für Chaos im Strafraum, aber Van der Vaart konnte seine Ablage nicht verwerten (82.).
Schlussendlich fuhr der in der zweiten Hälfte mit neuer Rolle viel sichtbarere Bale wieder einmal einen Konter. Zum wiederholten Male wurde er mit einem Foul gestoppt. Die Position schien abermals nicht gefährlich, aber die perfekt gesetzte Freistoßflanke verlängerte Luftmacht Kaboul ins lange Eck zum 3:2. Tottenham hatte das Spiel gedreht, ohne jemals wirklich Gefahr auszustrahlen. Arsenal, schwer gestraft für schon kleinste Fehler, versuchte sich in einer kopflosen Schlussoffensive. Aber weder Walcott (90., 91.) noch ein Schuss von Rosicky (95.) konnten noch etwas am Ergebnis ändern.
Ein Derby mit einem irren Spielverlauf, Höllentempo und dem glücklicheren Sieger endete mit 2:3 für die Gäste. Arsenal vergab eine große Chance auf die Tabellenführung, die nach der 0:1-Niederlage von Chelsea bei Birmingham sogar das ganze Wochenende gehalten hätte. Gleichzeitig macht der Selbstfaller der Blues die Niederlage für die Gunners so erträglich, wie eine derartige Derby-Heimniederlage nur sein kann. (tsc)
PS: Weil manche Kommentare dahin gehen, dass die Spurs in der zweiten Hälfte doch eigentlich ein Feuerwerk abgebrannt und Arsenal an die Wand gespielt haben. Die Daten des Guardian Chalkboards sagen ebenso wie meine Analyse einfach was ganz anderes. Hier eine Darstellung der Pässe, erfolgreichen Pässe und Torschüsse in der zweiten Hälfte. Das zeigt sehr schön, dass Tottenham im Gegensatz zu Arsenal den gegnerischen Strafraum eigentlich so gut wie nie aus der Nähe gesehen hat. Die Spurs haben in dieser Saison schon famos gespielt, aber in diesem Spiels hat einfach eine Ausbeute von 3 Toren aus 2 Chancen zum Erfolg geführt.
Besonders klar wird das auch, wenn man vergleicht, wie viele erfolgreiche Pässe allein Fabregas nach der Pause in der gegnerischen Hälfte gespielt hat: Gleich viel wie das gesamte Tottenham-Team zusammengezählt. Es sind jeweils 37.