Baumgartners Weltrekord-Treffer nach sechs Sekunden in Bratislava setzte den Ton. Mit zwei Siegen gegen EM-Teilnehmer startete das ÖFB-Team erfolgreich in das EM-Jahr, einem 2:0 in der Slowakei folgte das erstaunliche 6:1 in Wien gegen die Türkei. Die Resultate sehen gut aus, aber was genau sagen die Leistungen über den Stand der Dinge ohne David Alaba aus – und das Spiel gegen den Ball? Schließlich wird dies bei der EM ein großer Faktor sein, wenn es darum geht, die Vorrunde zu überstehen.
Wer spielt innen statt Alaba – und wie?
Kevin Danso hat beide Matches von Beginn an absolviert, war in drei der letzten fünf Matches erste Wahl – der Lens-Legionär sieht wie ein Fixstarter aus. Neben ihm hat zunächst Leopold Querfeld gespielt (der in der ersten Hälfte gegen die Slowakei ein wenig flatterhaft wirkte), dann Maximilian Wöber. Auch der derzeit verletzte Philipp Lienhart kann ein Kandidat sein, theoretisch auch Stefan Posch.
Klar wurde in diesen beiden Spielen, vor allem gegen die defensiv eingestellte Slowakei, dass Alaba defensiv ganz gut zu ersetzen ist, in der Spielgestaltung jedoch kaum. Der Rangnick-Fußball sieht lange Ballstafetten und geduldigen Aufbau von hinten gar nicht vor, natürlich sah man die auch gegen die Slowaken nicht. Sehr wohl fehlte aber der Vorwärtsdrang von Alaba, der immer wieder in Beckenbauer-Manier ins Mittelfeld aufrückt, Gegenspieler auf sich zieht, Lücken reißen oder zumindest erkennen kann und diese dann bespielt.
Dieses Element fehlte gegen die Slowakei völlig, entsprechend mühsam gestaltete sich das Spiel nach der 7. Spielsekunde dann auch.
In unserer Analyse zum 2:0-Sieg gegen Deutschland wurde das Rangnick’sche Spielprinzip skizziert:
„Die Gegner anlaufen, sobald diese nicht mit dem Rücken zum eigenen Tor stehen. Strukturen für das Gegenpressing herstellen, um bei eigenem Ballverlust sofort doppeln zu können, ohne Gefahr zu laufen, Räume dahinter zu offenbaren. Tempowechsel im Aufbau, von gemächlichem Suchen der Lücke bis zum plötzlichen Steilpass auf den Zielspieler vorne, der den Ball ablegt. Den gegnerischen Aufbau durch das Zentrum lenken, indem man die Außenspieler isoliert. So kommen die eigenen Stärken – von der Pike gelernter Pressingfußball, Athletik – bestmöglich zur Geltung, während die Schwächen – fehlende spielerische Kreativität, fehlende echte Außenspieler – bestmöglich kaschiert werden.“
Das sah gegen die Slowakei so aus, dass der Aufbau zumeist über die Flügel vorgetragen wurde, raus aus dem Getümmel im Zentrum, wo Österreich eine 2-gegen-3-Unterzahl hatte. Nach dem ersten Vertikalpass aus der Abwehr wurde auf hohes Tempo in der Ballweiterleitung geachtet, was große Ungenauigkeit zur Folge hatte. Gleichzeitig fehlte zuweilen – vor allem in einer Phase zwischen der 20. und der 30. Minute – die Konsequenz im defensiven Umschalten und im Herstellen von 2-auf-1-Situationen in Ballnähe.
Dies war die beste Phase der Slowaken, in der sie auch ein, zwei Torchancen vorfanden.
Überzahl herstellen für Ballgewinne
Was sowohl in der Slowakei als auch gegen die Türken über weite Strecken gut funktionierte, war das strukturierte Doppeln, um Ballgewinne zu erzielen. Das Prinzip war einfach und erinnerte ein wenig an das Provozieren von Fumbles beim American Football: Zwei Österreicher stürmen auf den ballführenden Gegner zu und bedrängen ihn, verwickeln ihn in den Zweikampf.
Dabei war es völlig ausreichend, einfach nur den Ball vom gegnerischen Fuß wegzustoßen, weil ein dritter Teamkollege aus dem Hinterhalt dazustieß und den losen Ball aufnahm, um wiederum schnell die nächste Offensivaktion damit einzuleiten. Es ist viel Abstimmungsarbeit nötig, um die nötigen Strukturen dafür verlässlich herzustellen, aber wie etwa schon gegen Deutschland eindrucksvoll gezeigt wurde: Österreich kann das.
Das Stellen der gegnerischen Eröffnung
Was eher gegen die spielstärkeren Türken als gegen die biederen Slowaken ein Thema war, war das Verhindern einer gezielten Spieleröffnung des Gegners. Hier spielte Österreich mit den vier Offensiven konsequent auf die Viererkette: Schmid auf Müldür, Laimer auf Cenk Özkacar, Gregoritisch und Baumgartner auf Demiral und Ayhan. Weil klar war, dass sie sofort angelaufen würden, sobald sie den Ball hatten, war ein kurzer erster Pass von Torhüter Uğurcan stets mit Risiko verbunden.
Gleichzeitig waren Schlager und Seiwald im Mittelfeld-Zentrum sehr aufmerksam im Nachschieben: Sobald Schmid einen Sprint anzog, lief Schlager mit nach vorne, ebenso Seiwald mit Laimer. Beide rückten zudem weit auf, wenn die Türken ihrer Bedrängnis gewahr wurden. So provozierte man den Ballgewinn zum raschen 1:0, jenen zum 2:1 kurz vor der Pause und jenen zum Elfmeter zum 3:1 kurz nach der Pause.
Wie schon gegen Deutschland galt: Die Trigger zum Anlaufen sind verinnerlicht, die Strukturen im Gegenpressing sitzen und – anders als noch beim Match in der Slowakei – wurden nun auch genug dieser Ballgewinne in Tore verwertet.
Es war auch Spielglück dabei
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass das 6:1 deutlich zu hoch ausgefallen ist. Etwa, weil man vor dem 1:0 auch Foul hätte geben können und weil es ohne VAR weder den Elfmeter zum 3:1 gegeben hätte, noch jenen zum 5:1 – wohlgemerkt wurde zu dessen Gunsten das vermeintliche 2:4 aus türkischer Sicht wieder einkassiert. Damit war der türkische Widerstand gebrochen und das eingewechselte Offensivtrio Weimann, Cham, Entrup wollte sich selbst auch noch in die Schützenliste eintragen.
Das 6:1 ist aber auch deshalb zu hoch, weil die Türkei in der ersten Halbzeit wesentlich höheres Niveau gezeigt hatte als die Slowakei und keineswegs schlechter war als Österreich. Die türkische Abwehr klärte Bälle in Bedrängnis nicht – anders als die Slowaken, aber auch sie selbst nach der Pause – weit nach vorne und nicht kurz. Damit zwangen sie Österreich erneut zum eigenen Aufbau von hinten, der ohne Alaba eben stockte.
Den Türken gelang es zudem gerade auf engem Raum, auch im österreichischen Strafraum, viel flotter und technisch besser als den Slowaken, Verwirrung und Hektik in der österreichischen Abwehr zu stiften. Beispielhaft sei hier jene Aktion genannt, in der Danso den Ball mit der Hand streifte und so den Elfmeter zum zwischenzeitlichen (verdienten!) 1:1 für die Türken verursachte.
Bis zum Ende aktiv
Im Spiel gegen den Ball gab es auch Aspekte, die in diesen beiden Matches nicht von Gegnern angebohrt wurden. Vor allem bei der Slowakei war es extrem auffällig, dass es keinerlei Seitenverlagerungen gab, mit denen man den österreichischen Block zum schnellen Verschieben zwang. Die Slowaken griffen stur gerade nach vorne an, womit es Österreich kein Problem war, die Angriffe rasch zu stellen.
Sehr auffällig in beiden Spielen war jedoch, dass Österreich jeweils gerade in der zweiten Hälfte besonders konzentriert zu Werke ging. Das ist nicht immer typisch für solche Testspiele, aber gegen die Slowakei war gerade die Phase um die 60. Minute jene, in der die Laufwege im Anlaufen am Präzisesten und am Konsequentesten durchgezogen wurden. Gegen die Türkei drückte man auch nach dem 5:1 (das in der 78. Minute fiel) mit Macht auf das sechste Tor.
Fazit: Reif analysieren und die Situation managen
Es waren zwei Spiele, die als Mutmacher dienen können, dass in der nominell sehr schweren EM-Gruppe mit Frankreich, Holland und – wie seit diesem Länderspieltermin feststeht – mit Polen ein Einzug ins Achtelfinale absolut möglich ist, sei es als einer der besseren Gruppendritten oder sogar direkt als Gruppenzweiter.
Es waren aber auch zwei Spiele, die in gewissen Bereichen aufgezeigt haben, was nicht optimal funktioniert. Das spielerische Element ohne Alaba ist noch dünner als mit ihm und in gewissen Phasen – gegen die Slowakei in Teilen der ersten Halbzeit, gegen die Türken praktisch in der kompletten – wurde das Anlaufen nicht mit dem nötigen Nachdruck vollzogen. Das gilt es Aufzuarbeiten.
Sehr gut klappte aber das Gegenpressing, das Stellen der gegnerischen Eröffnung, ganz generell das Spiel gegen den Ball, wenn alle konzentriert bei der Sache waren. Gerade im Match gegen die Türkei war man auch gut dabei, was das Nützen von Torchancen angeht. DAZN-Kommentator Oliver Faßnacht forderte nach dem Türkei-Spiel, als Österreich „doch mal ein bisschen selbstbewusster, ein bisschen optimistischer“ zu sein, denn „ihr habt so ein geiles Team!“
Ja, möchte man antworten, als Österreicher ist man aber auch ein gebranntes Kind, was allzu große Euphorie angeht. Darum: Optimismus ist zweifellos angebracht. Aber vorsichtiger Optimismus. „Österreich sah man – nicht nur im In-, sondern auch im Ausland – als potenziellen Viertelfinalisten, jedenfalls aber ohne gröbere Troubles in der K.o.-Runde“, hieß es hier vor knapp acht Jahren, vor dem letzten EM-Gruppenspiel 2016 gegen Island, „wer nichts erwartet, kann nur positiv überraschen. Für jene, denen viel zugetraut wird, ist die Fallhöhe deutlich größer. […] Der gelernte Österreicher kann nun mal genau eines nicht: Mit großen Fallhöhen umgehen.“
Ebenso wichtig wie das realistische Einordnen von Misserfolg ist es, im Erfolg nicht die Bodenhaftung zu verlieren, sondern klaren Verstands einzuordnen. Das ÖFB-Team von 2024 ist von der Kadertiefe und der sportlichen Reife her viel weiter als jenes von 2016. Von daher ist absolut zu erwarten, dass die beiden Spiele intern nüchtern aufgearbeitet werden und dass die Spieler besser mit der Erwartungshaltung umgehen können als ihre Vorgänger vor acht Jahren.
Wie das mit den Fans und vor allem dem medialen Umfeld ist, bleibt auch nach dem 2:0 in der Slowakei und dem 6:1 gegen die Türkei abzuwarten.