Mit einem Jahr Verspätung steht nun die Europameisterschaft vor der Tür. Österreich ist auch noch dabei. Aber von einer Euphorie, wie sie 2016 alle mitgerissen hat, ist meilenweit nichts zu spüren. Viel eher scheinen viele Fans in Österreich zu hoffen, dass das Turnier so schnell wie möglich vorbei gehen möge, weil man sich mit dem ÖFB-Team ja doch nur ärgern muss.
Es gibt auch tatsächlich diverse Baustellen, die in den letzten Matches eher schlimmer wurden als besser.
Auch gut: Der Ballverliebt Vorschau-Podcast zur EURO 2020
2016 hatte man den Eindruck, dass Marcel Kollers sehr gut eingespielte Truppe von den Gegnern zunehmend durchschaut worden war. Das sorgte – zusammen mit Formkrisen von Schlüsselspielern und letztlich auch unglücklichen Umständen wie der Junuzovic-Verletzung im ersten Spiel – zum frühen EM-Aus.
Auch 2021 verfestigt sich immer mehr, dass die Gegner wissen, wie sie dem ÖFB-Team unter Franco Foda beikommen können. Die Schwachstellen sind offensichtlich und gemeinhin bekannt, und in den letzten Spielen wurden sie offengelegt. Mal gnadenlos, wie von Dänemark. Mal ohne daraus Nutzen zu schlagen, wie gegen die Slowakei.
Das Riesenloch zwischen Mittelfeld und Angriff
Österreichs Spieler pressen durchaus auch unter Foda die gegnerische Spieleröffnung an. Österreichs Spieler rücken auch unter Foda sehr hoch ins Angriffsdrittel auf, wenn sie in diesem bereich Ballbesitz etabliert haben. Das Problem dabei: Die Abwehrreihe geht nur bis zur Mittellinie nach vorne und es werden nicht die erforderlichen Strukturen für ein Gegenpressing nach Ballverlusten im Angriffsdrittel hergestellt.
Darum ist Österreich auch so anfällig auf Konter – alleine die Dänen erzielten zwei ihrer Tore aus genau solchen Situationen. Ballgewinn im eigenen Abwehrdrittel, schneller Pass in den weiten Raum zwischen den österreichischen Linien, und ab in den Rücken der Abwehr. Torhüter Schlager sah bei seinem Ausflug ausgesprochen patschert aus, aber er musste in der Situation rauskommen (er muss dabei den Ball aber auch tatsächlich erreichen, gar keine Frage).
Nicht nur Dänemark, auch England gelang es, genau aus dieser Grundeigenschaft des ÖFB-Teams Kapital zu schlagen. Auch hier passierte ein Ballverlust im Vorwärtsspiel, auch hier waren nicht genug Spieler zur Stelle bzw. nicht in den richtigen Positionen zu Stelle, um richtig zu reagieren, auch hier hatte der Gegner zu viel Platz, um frontal auf das ÖFB-Tor zuzulaufen.
Blast from the past
Das macht Foda übrigens schon länger so. In unserer Analyse zum Europacup-Aus mit Sturm Graz bei Rubin Kasan im August 2015 schrieben wir folgendes:
„Foda blieb beim üblichen 4-2-3-1 und er blieb auch dabei, dass zwar die Offensive aggressiv auf die Kasan-Abwehr draufgeht, aber die Abwehrreihe an der Mittellinie stoppte – spätestens. Vorne stellt Sturm die Russen durchaus vor Probleme, aber […] mit einem 30- bis 40-Meter-Loch hinter der Offensive konnten praktisch keine zweiten Bälle erobert werden und wenn Rubin in diesem Bereich in Ballbesitz kam, konnten die Russen minimum bis zur Mittellinie marschieren, ohne von einem Grazer behelligt zu werden.“
ballverliebt.eu am 7. August 2015
Nordmazedonien und die Ukraine freuen sich
In der EM-Qualifikation 2019 hat Österreich den ersten EM-Gegner aus Nordmazedonien zweimal besiegt und war zweimal recht klar das bessere Team. Aber auch beim 4:1 in Skopje offenbarte sich die grundsätzliche Schwäche unter Foda, eine adäquate Pressingabsicherung herzustellen. Hinter den hoch anlaufenden Stürmern klaffte ein riesiges Loch, das die Mazedonier allerdings nicht genützt haben.
Die jüngsten Spiele von Österreich haben den Gegnern gezeigt, wie leicht man die fehlende Tiefensicherung aushebeln kann. Und der 2:1-Sieg in der angelaufenen WM-Quali in Deutschland hat dem Team aus Nordmazedonien zweifellos das Selbstvertrauen gegeben, bei der EM nicht nur dabei sein zu wollen.
Und die Ukraine ist ebenfalls ein Team, das sich in der Defensive sehr wohl fühlt und pfeilschnelle und auch trickreiche Spieler hat, die im Konter großen Schaden anrichten können. Sehr gut möglich, dass sich die Ukraine mit einem 5-4-1 tief stellen und auf die Löcher zwischen den Reihen warten. Es steht zu befürchten, dass sie nicht lange werden warten müssen.
Aufbau: Sicher, aber phantasielos
Die Spieleröffnung ist das Revier von Martin Hinteregger. Der linke Innenverteidiger schlägt entweder die Bälle über 40 bis 50 Meter diagonal auf den aufrückenden Rechtsverteidiger oder gibt ihn kurz zu Nebenmann Ulmer, der dann wiederum entweder nach vorne zieht oder einen herausrückenden Sechser anspielt. Das ist alles sehr solide und mit geringem Risiko verbunden und Hintereggers Diagonalbälle sind ausgesprochen präzise – ein Hauch von Ernst Ocwirk schwebt hier im Geiste mit.
Der Aufbau von hinten ist aber eben auch ein wenig phantasielos und leidet darunter, dass es keine einstudierten Spielzüge im Zentrum zu geben scheint, mit denen man auf anderem Wege als über die Flügel stabil nach vorne kommen kann. Das machten sich die Slowakei durchaus zunutze. Beim 0:0 im letzten Test vor der EM war es ihnen ein Leichtes, den ohnehin nach außen tendierenden ÖFB-Aufbau konsequent auf die Außen zu drängen. Dort wurden dann Gut-Glück-Flanken vor das Tor gehoben.
Viel Ballbesitz ist das Los des ÖFB-Teams
In den 23 Pflichtspielen unter Franco Foda hatte Österreich niemals weniger als 50 Prozent Ballbesitz, im Durchschnitt waren es erstaunliche 58,5 Prozent. Ein Angriffspressing – das auf Nationalteam-Ebene schwer einzuüben ist und von dem man in den letzten fünf, sechs Jahren ohnehin abgekommen ist – ist auch schlicht nicht möglich, wenn der Gegner einem den Ball überlässt. Am der Entwicklung eines Pressing- und Umschaltspiels hin zu einer mehr auf eigenen Aufbau basierenden Strategie ist Marcel Koller in der Spätphase seiner Amtszeit gescheitert.
Österreichs Team hat die Qualität, dass ihm schwächere Teams sowieso den Ball überlassen und Mannschaften, die sich nominell etwa auf Augenhöhe befinden – wie etwa Dänemark – ebenfalls. Selbst beim Test in England kam Österreich auf 51 Prozent Ballbesitz.
Individuelle Ideen oder stabile Strukturen?
„Die oft mäßigen Darbietungen von David Alaba und Marcel Sabitzer im Teamdress waren in den letzten Jahren ein ständiger Quell öffentlicher Irritation. Beide leiden jedoch darunter, dass sie oft überhaupt erst einmal wahrnehmen müssen, wo sich Mitspieler befinden und wohin sie sich bewegen. Automatisierte Laufwege und klar etablierte Strukturen, die sie aus München und Leipzig kennen, sind beim Nationalteam nicht vorhanden. Das führt zu Stückwerkfußball.“
So hieß es in der Story, die wir zur aktuellen Ausgabe des ballesterer beisteuern durften.
Dem zu Grunde liegt Fodas Aussage, dass im Angriffsdrittel die Ideen der Spieler gefragt sind. Da die Zeit, welche ein Spieler auf diesem Niveau zwischen Ballannahme und Ballweitergabe zur Verfügung hat, in den letzten Jahren durchschnittlich auf deutlich unter zwei Sekunden geschrumpft ist, geht sich das einfach nicht mehr aus.
Heute muss man im Regelfall wissen, wohin man den Ball spielen muss, bevor man den Ball überhaupt hat. Die Dänen machten dies in der vordergründig ererignisarmen ersten Halbzeit Ende März deutlich: Hier liefen sich immer zwei bis drei Spieler in Position, suchten den Ballführenden. Bei Österreich war es umgekehrt, da musste sich der Ballführende erstmal einen Mitspieler suchen, wahrnehmen wo sich dieser hinbewegt und beurteilen, ob ein solcher Pass angesichts der Positionierung von Gegenspielern überhaupt möglich sein kann.
Dass man sich so schwer tut, in aussichtsreiche Abschlusspositionen zu kommen, liegt auf der Hand.
Die Sache mit dem Umschaltspiel
In der Vorbereitung auf die EM stand, wie es hieß, auch das Verhalten im Umschaltspiel auf dem Programm. Wie diese Situationen beim Spiel gegen die überwiegend aus Reservisten bestehende Mannschaft aus England ausgespielt wurde, verleitet aber nicht gerade zum Optimismus.
In den Kommentaren auf unserer Facebook-Seite hat mein Ballverliebt-Kollege Tom es so formuliert:
Jeder Angriff hat so ausgesehen, als würde man sich einfach auf einen Geistesblitz der Spieler verlassen. Da war kein Laufweg zu spotten, der in irgendeiner Form gezeigt hätte, was man eigentlich vor hat.
Die Aktion beim Gegentor zum Beispiel: Der ORF hat das hinterher als fast beispielhafte Vorwärtsbewegung im Umschaltspiel analysiert, mit der man offenbar nur sehr unglücklich in einen Konter gelaufen sei. Kann man vielleicht so sehen. Gibt immer mehr als eine Meinung. Aber ich hab die Aktion gesehen und mir eigentlich gedacht „Ja, okay, da rennen sechs Leute blind nach vorne, aber niemand in einen Raum, den man anspielen kann und aus dem man gefährlich werden kann. Und niemand läuft einen Weg, der eine Bahn für jemand anderen öffnet“.
Wenn Kalajdzic hinterher dazu sagt, er hätte in dem Moment einfach nicht gewusst, ob er den Ball abspielen konnte, und dass er deshalb den Konter abgebrochen und den Ball verloren hat, ist das ein Alarmsignal. Im Umschaltspiel muss man wissen – oder zumindest glauben zu wissen – was die Mitspieler tun werden, weil man’s vorher trainiert hat und weil man im internationalen Spitzenfußball nicht nur erst immer situativ schauen kann, was sich so ergibt.
Es gab für mich keinen Angriff, der so ausgesehen hätte, als wäre er das Ergebnis eines bewussten Prozesses. Anderes Beispiel: Als Alaba in der zweiten Hälfte in die Tiefe lossprintet, weil er kilometerweit Platz hinter der englischen Abwehr entdeckt – aber Sabitzer den Pass aus dem Mittelkreis nicht spielt. Das liegt nicht daran, dass der Lauf von Alaba falsch wäre oder Sabitzer prinzipiell zu blöd für den Pass ist, das liegt daran, dass dieser Angriff offenbar rein spontan entsteht und niemand damit rechnet, dass das passiert.
In vielen anderen Situationen sind einfach nur die Positionen besetzt und niemand bewegt sich in irgendeine Richtung. Muss mindestens zwei- oder dreimal passiert sein, dass Hinteregger ein 20-30-Meter-Dribbling aus der Innenverteidigung angerissen hat, weil niemand anspielbar war – nur damit am Ende dieses Dribblings immer noch niemand anspielbar war.
Die österreichischen „Topchancen“ kamen aus einem Kopfball vom Sechzehner in der 90. Minute eines Testspiels, indem sogar die C-Elf der Engländer schon wieder arg durchgetauscht war, und das noch dazu aus einem völlig untypischen Angriff – und aus einem Schuss aus 20 Metern. Und das in einem Spiel, in dem es heißt, man habe jetzt eine Woche lang das Umschaltspiel trainiert und von dem Foda hinterher sagt, man sei am richtigen Weg und jetzt käme nur noch der Feinschliff.
Und auch unsere Leser bemängeln die fehlende Gesamtstruktur im Aufbauspiel, wie im Anhang unserer Analyse des 3:1-Sieges gegen die Färöer – übrigens auch nach fünf Matches der einzige Länderspiel-Sieg 2021 – zu lesen war:
„Bei Foda gibt’s unzusammenhängenden Heroenfußball. Den erkennt man auch immer gut daran, dass jene positiv herausstechen, die keine funktionierende Mannschaft brauchen, um ihre Stärken einbringen zu können: Hintereggers Zweikampfstärke, Grillitschs Pressingresistenz, Baumgartners Dribbling, Kalajdzics Zielspielerqualitäten.“
ballverliebt-leser „peda“ am tag nach dem 0:4 gegen dänemark
Brachliegendes Potenzial im Zentrum
Laufwege sind nicht nur dazu da, um sich selbst anspielbar zu machen, sondern auch, um Platz zu schaffen – wie wir vor einigen Jahren anhand der starken Mannschaft von Valencia unter Marcelino erklärt haben. Gerade ein Florian Grillitsch auf der Sechs ist ein Meister darin, Räume schon im Entstehen zu erkennen und diese dann zu bespielen. Hierfür braucht es aber ganz exakte Strukturen, genau einstudierte Mechanismen und hohe Spielintelligenz.
All das haben Grillitsch selbst, aber auch Schlager (der in Wolfsburg eine ganz starke Saison in der defensiven Absicherung im Ballbesitz gespielt hat), Sabitzer sowieso (der in Leipzig zu einem der besten Achter der Bundesliga gereift ist). Die internationale Qualität auf der Zehnerposition fehlt, das ist wahr, aber das heißt nicht, dass man das Zentrum im Aufbau mehr oder minder abschenken muss und nur Vertikalpass-Versuche kommen, die selten sinnvoll weiterverarbeitet werden können.
Und jetzt die Europameisterschaft
Die Auslosung hat es wahrlich nicht böse mit Österreich gemeint. Zum Auftakt wartet Nordmazedonien – vielleicht nicht das schlechteste Team der EM, das ist vermutlich eher Finnland, aber sicher ein schlagbarer Kontrahent. Ein Sieg in diesem Spiel und man ist schon auf halbem Weg zum Achtelfinale. Drei Punkte könnten womöglich schon reichen, erfahrungsgemäß ist man mit vier Zählern auf der sicheren Seite.
Es folgen das Auswärtsspiel in Holland, wobei Oranje weiterhin ohne Virgil van Dijk auskommen muss und auf den AV-Positionen nicht hochklassig besetzt ist. Und letztlich steht noch das Spiel gegen die Ukraine auf dem Programm, die selbst sehr defensiv agiert und – je nach Turnierverlauf – mit einem 0:0 ebenso im Achtelfinale wäre wie Österreich.
Dort würde auf das ÖFB-Team als Gruppenzweiter oder -dritter aller Voraussicht nach Spanien, Italien oder einer aus dem Trio Deutschland, Frankreich, Portugal warten. Dort kann man Heldengeschichten schreiben – oder zumindest erhobenen Hauptes nach einer überstandenen Vorrunde ausscheiden.
Klar scheint aber auch: Sollte es schon gegen Nordmazedonien schief gehen, droht die offenkundig ohnehin schon schwer angeschlagene interne Stimmung endgültig zu kippen; von der öffentlichen Meinung ganz zu schweigen.