Zwei Weltmeisterschaften hatte es nach dem Krieg gegeben, zweimal mit haushohen Favoriten, und zweimal hatte dieses Team im entscheidenden Moment nicht gewonnen. Wie glücklich die FIFA war über zwei eher Zufalls-Weltmeister – das kleine Uruguay und die nach dem Krieg, nun ja, nicht direkt beliebten Deutschen – ist die Frage. Wie gut nur, dass zur WM 1958 in Schweden – übrigens das letzte Mal, das zwei Endrunden in Folge in Europa stattfanden – die Brasilianer mit einem 17-jährigen Buben aus der an sich nicht so bedeutenden Hafenstadt Santos daherkamen.
1958 – Heja Sverige, Heja Pelé
Schweden hatte von einem englischen Exil-Trainer, George Raynor, das Kicken gelernt und besiegelte mit dem Vorrunden-2:1 gegen die Ungarn endgültig das Ende der großen Generation der Magyaren. Die Brasilianer zogen eine teuflische Gruppe mit Olympiasieger Sowjetunion, dem Dritten der letzten WM Österreich und mit den Engländern, die sich mittlerweile nicht mehr so ganz sicher waren, ob sie denn wirklich die besten der Welt waren. So urig die Brasilianer daherkamen, steckte hinter ihren Vorbereitung deutlich mehr Wissenschaft als bei allen anderen Teams zusammen. Man ließ den Spielern sogar die Zähne richten, bevor es zur nördlichsten WM aller Zeiten ging, es wurde alles generalstabsmäßig geplant, nichts dem Zufall überlassen – außer so ein wenig auf dem Platz, wo natürlich die in die „Diagonale“ (sprich: einer der beiden Außenläufer rückte etwas zurück Richtung Abwehr, einer rückte etwas auf in die Spielgestaltung) gepresste individuelle Klasse die Spiele entscheiden sollte. Im dritten Gruppenspiel gegen die Sowjets, als der Viertelfinal-Einzug schon so gut wie fix war, ließ Teamchef Vicente Feola dann seinen Wunderknaben ran. Pelé, der schon mit 16 Jahren Liga-Torschützenkönig geworden war, riss das Spiel sofort an sich und hatte fortan einen Stammplatz. Im Viertelfinale gegen Wales schoss er das einzige Tor, im Halbfinale gegen Frankreich gleich drei. Titelverteidiger Deutschland hatte nur noch vier Weltmeister im Kader und einige Mühe, sich ins Halbfinale durchzukämpfen. Dort traf man auf den Gastgeber und wurde von etwas zutiefst Unfairem, wie man fand, völlig aus dem Konzept gebracht: Die schwedischen Fans feuerten ihr Team frenetisch an, brüllten ohne Unterlass „Heja Sverige“, Hoppauf Schweden, und störte so die deutsche Kommunikation entscheidend. Für die stocksteifen und ordnungsliebenden Deutschen, die Gentleman-Publikum gewohnt waren, ein absoluter Skandal. Schweden siegte durch zwei späte Tore 3:1. Ziemlich genau 34 Jahre, ehe Deutschland ebenfalls im Ullevi von Göteborg gegen Dänemark das EM-Finale verlieren sollte.
Sehr viel zu Lachen hatte Schweden im Finale aber nicht mehr. Zwar ging man im Råsunda von Stockholm – dem einzigen WM-Finalstadion, das ersatzlos abgerissen wurde – durch Nils Liedholm schnell in Führung, aber der o-beinige Garrincha rechts, der tickreiche Pelé aus der Tiefe, der umsichtige Didi, das schwungvolle Weißbrot Zagallo links und Vava, der mit zwei Toren antwortete – das war zu viel. Pelé traf in der zweiten Hälfte zweimal, Brasilien gewann 5:2 und hatte endlich die Schmach des Maracanazo acht Jahre davor zumindest ansatzweise getilgt.
1962 – Wiederholung ohne Pelé
Chile wurde 1960 von einem verheerenden Erdbeben erschüttert, weigerte sich aber, die WM zurückzulegen – es brauchte einen Ansporn zum Wiederaufbau. Ganz im Gegensatz dazu ging eine gegenüber dem Titel 1958 nur punktuell veränderte Seleçao ins Turnier. Anders als etwa Österreich – dem ÖFB war die Reise zu teuer. Wie zum Trotz setzte das Team unter Trainer Karl Decker zu einer erstaunliches Siegesserie an – Spanien, Italien, England und der erste Europameister UdSSR wurden allesamt geschlagen. Brasilien startete mit einem 2:0 gegen Mexiko standesgemäß, im zweiten Gruppenspiel gegen die Tschecholowakei zog sich Pelé aber einen Muskelfaserriss zu – die WM war für den 21-Jährigen Superstürmer gelaufen. Für ihn rückte fortan der um ein Jahr ältere Amarildo ins Team, der mit seinem Doppelpack gleich einmal das 2:1 gegen Spanien sicherte. Nicht nur bei Brasilien aber, wo der 1958 noch zurückgezogene Mittelläufer endgültig in der Abwehr angekommen war, setzte immer mehr Sicherheitsdenken ein. Erstmals gab es bei einer WM weniger als drei Tore pro Spiel. Dazu wurde die Herangehensweise auf dem Feld zumehmend aggressiv, vor allem die chilenischen Gastgeber zeichneten sich aus. So sehr, dass im Halbfinale sogar Garrincha, der als ungewöhnlich friedfertig galt, die Gäule durchgingen und er des Feldes verwiesen wurde. Auf Intervention des südamerikanischen Verbands-Chefs João Havelange, rein zufällig auch Brasilianer, durfte Garrincha im Finale gegen die Tschechoslowakei aber spielen.
Und traf dort auf eine gut organisierte Truppe, aus der zwei Mann herausragten: Mittelläufer Andrej Kvasnak von Sparta Prag, bekannt für seinen eigenwilligen Laufstil, und der linke Halbstürmer Josef Masopust von Dukla Prag. Angetrieben von diesen beiden kam Brasilien zunächst nicht ins Spiel und Masopust erzielte dann sogar die Führung. Ehe ein Stellungsfehler des bis dahin im Turnierverlauf glänzenden Torhüters Viliam Schrojf den 1:1-Ausgleich ermöglichte: Er spekulierte auf eine Flanke des rechts von ihm in den Strafraum ziehenden Amarildo, machte einen Schritt heraus – und Amarildo versenkte eiskalt im offenen kurzen Eck. In der zweiten Hälfte brachte ein Tor von Zito das 2:1 für Brasilien, und ein weiterer Fehler von Schrojf (der einen hohen Ball ausließ) ermöglichte Vava das 3:1. Brasilien hatte den Titel verteidigt. Als bis heute letzte Mannschaft.
1966 – Herrn Bachramovs Knick in der Optik
Mit fünf Spielern, die schon acht Jahre davor Weltmeister geworden waren, rückte Brasilien 1966 zur WM in England an. Dort kam alles zusammen: Die zu alte Mannschaft zum einen, und eine übertrieben brutale Gangart der Bulgaren im ersten Spiel, die sich nicht von den Zuckerhut-Zauberern lächerlich machen lassen wollten. Brasilen gewann 2:0, verlor aber Pelé, der die meisten bulgarischen Tritte abbekommen hatte. Wie ein Boxer in der 11. Runde wankte Pelé im dritten Gruppenspiel gegen Portugal zurück auf’s Feld, aber er konnte dem Angriffssturm um Eusebio nichts entgegensetzen. Brasilien verlor 1:3 und war in der Vorrunde gescheitert – ebenso wie auch Italien nach einem peinlichen 0:1 gegen Debütant Nordkorea. Brasilien war den „Coupe Jules Rimet“ also los, aber die Veranstalter beinahe auch – der Cup wurde bei einer Ausstellung entwendet und später von einem Hund gefunden. Eine Ersatz-Trophäe wurde angefertigt, die heute ein Ausstellungsstück im englischen Fußballmuseum ist. Das Original gibt es ja nicht mehr, das wurde 1983 erneut gestohlen und vermutlich eingeschmolzen. England hatte sich ja erst, bis 1950, auf den Standpunkt verzogen, man sei ja eh der Beste und brauche deshalb nicht teilnehmen, und beharrte danach so stur auf der eigenen Spielweise und ließ die Welt davonziehen, dass man keine Chance hatte. Alf Ramsey, Pragmatiker vor dem Herrn, warf vor der Heim-WM alles über Bord und gab die Parole aus: Wurscht, ob’s schön ist oder nicht, das Resultat muss her. So ließ er eine Arbeiter-Truppe auf die Fußballwelt los, mit einem Wadlbeißer wie Nobby Stiles, mit Dauerläufern wie Peters und Ball, mit trockenen Verteidiger wie Jack Charlton. Mit 4:0 Toren aus drei Spielen wurde man Gruppensieger, ein Tor reichte auch im Viertelfinale in der Härteschlacht gegen Argentinien, und Eusebio hielt man im Halbfinale auf einem Tor und gewann 2:1.
Im Finale im Wembley ging es gegen Deutschland, mit dem routinierten Uwe Seeler (29) vorne und dem aufstrebenden Supertalent Franz Beckenbauer (20) vor der Abwehr. Geoff Hurst von West Ham konterte die frühe deutsche Führung und als Hursts Klubkollege Martin Peters in der 78. Minute das verdiente 2:1 erzielte, sah alles nach einem englischen Titel aus – ehe Helmut Haller, Deutschlands erster Italien-Legionär, kurz vor dem Ende zum 2:2 ausglich. Was folgte, war eine der berühmtesten Aktionen der WM-Geschichte: In der 101. Minute drosch Hurst den Ball aus rund zehn Metern an die Latte, die Kugel klatschte von dort hinter Keeper Tilkowski auf den Boden und von dort wieder zurück ins Spielfeld. Linienrichter Tofik Bachramov entschied auf Tor, Referee Dienst glaubte ihm – das „Wembley-Tor“, das 3:2. Als Hurst mit der letzten Aktion einen Konter fuhr, waren schon jubelnde Fans auf dem Spielfeld. Unbeeindruck davon schoss Hurst noch das 4:2. England war Weltmeister. Und Tofik Bachramov kam sein Stadion: Die National-Arena seiner Heimat Aserbaidschan in Baku ist noch heute nach ihm benannt.
1970 – Heiß und hoch
Brasilien hatte nach der verpatzten WM in England die Schlüsse gezogen und einen kompletten Generationswechsel vollzogen. Der einzige verbliebene Weltmeister im Kader für die WM in Mexiko 1970 war Pelé, mittlerweile 29 Jahre alt und immer noch Poster-Boy seines FC Santos. Die verjüngte Mannschaft wurde von Mário Zagallo, einem der Doppelweltmeister, als Trainer geführt und sie war nicht nur individuell top besetzt, sondern kam auch deutlich besser mit den klimatischen Bedingungen zurecht als die Gegner aus Europa. In Mexiko herrschte nämlich eine brütende Hitze, die vieleEuropäer schon mal überforderte, und darüber hinaus noch eine ungewohnte Höhenlage. Gleich sechs Teams aus Europa blieben schon in der Gruppenphase hängen, die dafür etwa Peru – kein Fremder, was Höhenlage angeht – überstand. Doch trotz der extremen Bedingungen verlegte sich, anders als bei den Turnieren davor, kaum ein Team auf Defensive. Die Folge: Ein ausgesprochen attraktives Turnier mit vielen großartigen Spielen. Wie etwa dem Viertelfinale von Deutschland gegen England, in dem der Titelverteidiger nach 2:0-Führung noch 2:3 nach Verlängerung verlor. Oder das Halbfinale zwischen Deutschland und Italien, dem „Jahrhundert-Spiel“, in dem Schnellinger Deutschland in der 90. Minute mit seinem 1:1 in die Verlängerung rettete, Müller dort das 2:1 schoss (94.), Italien das Spiel zum 3:2 drehte (98. und 104.), Deutschland wiederum ausglich (110.), nur um im Gegenzug das Tor zum 3:4-Endstand zu kassieren. Die wohl dramatischste Verlängerung der WM-Geschichte.
Half Italien aber alles nichts. Man stand im Finale so auf verlorenem Posten, wie man auf verlorenem Posten stehen konnte. Brasilien hatte von der Qualifikation bis zum Semifinale sämtliche Partien zumeist glanzvoll gewonnen und auch die eisenharte, typisch italienische Manndeckung – von Helenio Herrera bei Inter zur nervtötenden Perfektion getrieben – praktisch aller Spielern war kein Hindernis. Italiens Teamchef Ferruccio Valcareggi hatte sich vor dem Turnier nicht entscheiden können, ob er Milans Gianni Rivera oder Inters Sandro Mazzola als Spielmacher einsetzen sollte und ließ die beiden abwechselnd je die erste bzw. die zweite Hälfte spielen. Nachdem Italien bis zur Halbzeit (wie auch immer) das 1:1 hielt, entschied sich Valcareggi dazu, Mazzola drinzulassen. Brasilien legte nach dem Seitenwechsel drei Tore nach und gewann letztlich locker mit 4:1. Wäre sehr wahrscheinlich aber genauso gekommen, wenn Rivera eingewechselt worden wäre. Die Seleção hatte, angetrieben von Pelé, drei von vier WM-Turnieren siegreich bestritten und durfte den alten „Coupe Jules Rimet“ damit behalten. Mit dem Triumph im Aztekenstadion endete die brasilianische Dynastie aber. Die Konstante sollte in der Folge das Team aus Deutschland werden. Aber dazu mehr in Teil 3!