Die Geister von Leipzig vertrieben: Österreich nach Nervenspiel bei der WM

Wohin mit der ganzen Freude? Marcel Sabitzer saß eingesunken auf dem Rasen, der aufgezuckerte Siegtorschütze Michael Gregoritsch umarmte jeden, der ihm in den Weg kam. David Alaba, 94 Minuten lang ein nervöses Wrack in der Coaching-Zone, und ein gelöst lächelnder Ralf Rangnick lagen sich in den Armen. Das vorbereitete Transparent, auf dem „Das Crazy Oida“ stand, wurde im ersten Versuch nur so halb ausgerollt, ehe das halbe Team wieder ganz woanders hin abbog. Marko Arnautovic verhedderte sich feixend im TV-Interview zwischen der Ansage, dass man auch ohne Alkohol feiern können sollte, und dem Nachsatz, dass er ja selbst Hochprozentiges verkauft.

Die Österreicher feierten gemeinsam das gerettete WM-Ticket, und doch war irgendwie jeder damit beschäftigt, das gerade Geschehene für sich selbst zu begreifen, zu verarbeiten, einzuordnen. Und die Zuschauer? Der Roar beim so heiß ersehnten Ausgleich in der 77. Minute dürfte noch bis Bratislava zu hören gewesen sein, jener beim erlösenden Schlusspfiff ebenso.

Was sie erlebt haben, war eines der ganz großen Spiele in dieser alten Schüssel. Eines, das in die Geschichte eingehen wird. Wie jener Abend im September 1997, als Andi Herzogs Weitschuss-Tor – in der 76. Minute damals, diesmal war es die 77. Minute, welch eine Parallele – den harten Brocken Schweden besiegte. Wie im Oktober 1989, als Toni Triplepack beim 3:0 gegen die DDR doch noch die WM-Teilnahme sicherte. Wie damals im Herbst 1958, als dem Sportclub im Europacup das legendäre 7:0 gegen Juventus Turin gelang.

Wie damals gegen die Türkei

Dabei erinnerte so vieles an das EM-Achtelfinale von Leipzig vor eineinhalb Jahren. Statt des erwarteten lockeren Sieges geriet Österreich damals sofort in Rückstand und biss sich dann mit sehr viel Ballbesitz und sehr wenigen Ideen an einem defensiven Gegner die Zähne aus. Die Geister von Leipzig spukten auch durch das Happel-Stadion, schon alleine weil Bosnien (wie die Türken) durch einen Eckball in Führung ging, bei dem Alexander Schlager (wie gegen die Türken Patrick Pentz) als Torhüter gleich zweimal richtig schlecht ausgesehen hat.

Und hatten die Bosnier in Zenica noch versucht, Österreich mit Aggressivität einzuschüchtern, wandten sie diesmal die Strategie vom ihrem 1:0 in Bukarest an: Einbunkern und dem Gegner die Bürde der Gestaltung aufhalsen. Wie die Türken.

Österreich – Bosnien 1:1 (0:1)

Bei Österreich traten die selben Schwächen wie in Leipzig auf. Seiwald und Schlager im Mittelfeld-Zentrum sind keine Kreativspieler, die Takt und Richtung vorgeben. Arnautovic hielt viele Bälle, wurde aber auch zwischen den Reihen aufgerieben. Patrick Wimmer verzettelte sich oft da draußen an der Außenlinie und er schien sein eigenes Spiel zu spielen. Das Tempo war nicht hoch, Tiefgang gab es gar keinen und Ideen auch nicht – Alaba, der Struktur und Ideen bringen könnte, saß angeschlagen draußen. Oder eher: Er tigerte nervös herum. Aber eben nicht auf dem Feld.

Der vermeintliche Ausgleich kurz vor der Pause wurde einkassiert, nachdem Referee Pinheiro zum Video-Monitor zitiert wurde. Ja, es war ein Schubserl von Laimer an Memić, aber nein, diesen zu ahnden passte nicht zur langen Leine des Schiedsrichters in den 44 Minuten davor. Das Endresultat machte diese Szene zum Subplot, so wie die Ausschlüsse von Toni Pfeffer und Michael Konsel gegen Schweden 1997 oder den Elfmeter für die DDR beim Stand von 1:0 im Herbst 1989.

Das Spiel schlägt auf den Magen

In den „zehn Minuten direkt nach dem Seitenwechsel konnte man das Spiel spürbar ein wenig an sich ziehen“, hieß es an dieser Stelle über das Türkei-Spiel und auch die Bosnier wurden von sehr willigen Österreichern hinten eingeschnürt, aber die latente Angst vor einem zweiten Gegentor war immer zu spüren. Bei den Spielern, bei denen die nervliche Belastung wie ein Mühlstein wirkte, aber auch bei den Zusehern. Rangnick stellte auf ein 4-1-3-2 um, mit Seiwald hinter Schmid, Baumgartner und Sabitzer, mit Arnautovic und Gregoritsch ganz vorne.

Bis zu diesem x-ten Chip von Sabitzer vor das Tor, bei dem sich Vasilj etwas verschätzte und Arnautovic nicht hinkam, die Kugel irgendwie von der Latte zurücksprang und der eingewechslte Gregoritsch aus dem Hinterhalt daher kam und den Ball über die Linie prackte. Ekstase. Und aber gleichzeitig wurden die Sorgen kaum weniger. Die Schockwellen des späten Gegentors von Bukarest, das Österreich überhaupt erst in diese Bredouille gebracht hatte, waren noch nicht verklungen.

Die wohl schönste Beschreibung der Schlussphase stammt vom „Wiener Alltagspoeten“ Andreas Rainer, er sei daher an dieser Stelle zitiert.

Die letzten Minuten dauern Tage. Wie Eishockeytorhüter werfen sich Österreichs Spieler in jeden Ball, der auch nur irgendwie in Richtung der eigenen Hälfte gespielt wird. Es hat nichts mehr mit Fußball zu tun, es geht jetzt nicht mehr darum, zu spielen, sondern nur mehr darum, es zu Ende zu bringen. Die Nachspielzeit läuft ab und der Schiedsrichter, immer noch voll des schlechten Gewissens ob des brutal aberkannten Tores aus der ersten Halbzeit, pfeift auf die Sekunde pünktlich ab und Österreich fährt zur Weltmeisterschaft.

Diese eine, historische Chance

Dieses Spiel kann man nicht mit normalen Maßstäben messen. Martin Schauhuber vom Standard nannte es treffend eine „kardiologisch grenzwertige Angelegenheit“, das war mehr eine Nervenschlacht als ein Fußballmatch, wegen des Verlaufs, aber natürlich vor allem, weil dieses große Ziel, endlich mal wieder bei einer WM dabei zu sein, irgendwie über die Ziellinie zu bringen war.

2001 war man im Playoff gegen die Türkei chancenlos gewesen, 2005 stand man ob der beiden Niederlagen gegen Polen und dem „irre-regulären“ Remis in Belfast auf verlorenem Posten. Nach der Heim-EM hat man die Teilnahme für 2010 schon in den ersten Spielen versenkt, mit den Punktverlusten in Litauen und auf den Färöern und der klaren Heimniederlage gegen Serbien. 2013, unter Marcel Koller, schnupperte man, aber man war noch nicht reif genug, ehe in den späten Koller-Tagen 2017 das Team nicht mehr als Einheit funktionierte. Und dann kam 2021, das 0:4 gegen Dänemark, die zunehmend frostige Stimmung um Franco Foda.

Und nun hat man mit so vielen glücklichen Umständen eine historische Chance bekommen. Weil es nun 16 europäische Plätze gibt, statt wie bisher 13 Slots. Weil in der Nations League alle exakt genau so gespielt haben, dass Österreich am allerletzten Drücker noch in den 1. Topf gehüpft ist. Weil man dann noch dazu die nach Ranking leichteste Gruppe von allen erwischt hat. Wenn man es selbst nach all diesen glücklichen Fügungen nicht schaffen sollte – then why even try? Then why even dare to hope anymore?

Der Kulturschock Rangnick

Eine ganze Generation österreichischen Fans kennt WM-Turniere ausschließlich als etwas, bei dem Österreich nicht dabei ist. 28 Jahre – so lange dauerte es nie, 20 war das Maximum. In den Nuller-Jahren zahlte der ÖFB die Zeche dafür, einfach immer alles dem Zufall überlassen zu haben. In den Zehner-Jahren brauchte es Zeit, den durch fortschrittsfeindliche Bräsigkeit aufgerissenen Rückstand aufzuholen, und zwar gegen den Widerstand diverser Funktionäre, die auf ihre fortschrittsfeindliche Bräsigkeit auch noch öffentlich stolz waren.

Gegen diese Mauer musste auch Ralf Rangnick anlaufen. Diese Konflikte innerhalb des Präsidiums wurden öffentlich ausgetragen und verschlissen drei Präsidenten, ehe Josef Pröll – der machtpolitische Messerstechereien als ehemalige Vize-Kanzler gut kennt – es rasch schaffte, Ruhe in die Runde zu bringen. Klare Richtlinien, klare Regeln, klare Ziele: All das, so typisch deutsch und der gemütlichen Passt-scho-Mentalität in Österreich diametral gegenüber stehend, forderte Rangnick ein. Das ist Grundvoraussetzung für Erfolg, schafft aber auch Fallhöhen.

Weil man sich eben nicht nur im Erfolg sonnen lassen kann und im Misserfolgsfall mit dem Finger auf andere zeigen kann. Es erlaubt kein Herumlavieren, kein sich aus der Situation heraus reden, kein Verstecken hinter anderen. Verantwortung übernehmen heißt, auch dann konsequent zu sein, wenn man keinen Applaus dafür bekommt, sondern die faulen Eier auf die Bühne fliegen.

Mit Klarheit durch eine zähe Qualifikation

Das schafft Klarheit und Vertrauen und diese Grundpfeiler sind auch unerlässlich für den familiären Zusammenhalt innerhalb des Teams. „Ich muss nicht mal spielen“, gab Marko Arnautovic nach dem Spiel bei Servus-TV zu Protokoll, „mir reicht’s wenn ich bei den Burschen bin!“ Dieses enge zwischenmenschliche Band wird selbst von denen als beeindruckend betont, die nicht unmittelbar dazugehören, wie zuletzt eben auch vom ÖFB-Aufsichtsratsvorsitzenden Josef Pröll.

Dieser Zusammenhalt trug das ÖFB-Team auch durch diese Quali-Gruppe, die – so leicht sie am Papier war – durchaus Stolperfallen bot. Von San Marino abgesehen, ging es gegen Teams, die auf vernünftigem bis gutem Niveau verteidigen können und kaum ein Interesse haben, den österreichischen Stärken in die Karten zu spielen. Es galt, Lösungen zu finden (klappte nur so mittel) und vor allem, die Ruhe zu bewahren und immer irgendwie einen Weg zu finden (klappte, bis auf Bukarest, recht gut).

Rechnet man die Spiele gegen San Marino heraus, merkt man schon, dass es eine harzige Sache war. Von der Nachspielzeit in Bukarest abgesehen, war Österreich sehr seriös am Werk. Das war auch drei Tage vor dem Finale so gewesen, beim Match in Zypern, das ob der Apathie der Inselbevölkerung eigentlich ein österreichisches Heimspiel gewesen ist.

Die Zyprer spielten im eigenen Strafraum Manndeckung, konnten somit verhindern, dass Österreich allzu leicht in gute Abschlusspositionen kam. Sehr wohl aber hatten sie auf den Flügeln diverse Räume offen gelassen, über die sich vor allem Laimer und Sabitzer wiederholt rasch nach vorne spielen konnten. Das Gegenpressing griff hingegen in dieser Phase nicht so gut, Zypern stieß situativ in die nicht immer optimal postierte Restverteidigung. Nach dem 1:0 per Elfmeter versandete der zyprische Widerstand aber und Österreich hatte das Spiel im Griff.

Zypern – Österreich 0:2 (0:1)

Grandios einfach, wie etwa Zypern-Teamchef Akis Mantzios reinbrüllte und seine Spieler zum hohen Anlaufen anstachelte und Hektik verbreiten wollte und die Österreicher aber mit einer Tiefenentspanntheit hinten raus kombinierten, als liefen da ein paar 7-Jährige auf sie zu. Erst nach dem 2:0 nach einer Stunde (und mit Wimmer statt Laimer auf der linken Seite) wich die Konsequenz spürbar, doch Zypern fehlten einfach die Mittel, um für ernsthafte Gefahr zu sorgen. Es war weder schön noch unterhaltsam, aber das geht sich bei diesem Gegner auch einfach nicht aus. Da geht’s nur darum, irgendwie einen Ball oder zwei über die Linie zu drücken. Ist gelungen. Dankeschön, Schweiß abwischen, weiter.

Nach dem Schwitzen kommt die Zukunft

Aber Schwitzen mussten in dieser Qualifikation viele. Deutschland etwa setzte sich mit einem 0:2 zum Start in der Slowakei bis zum letzten Spiel unter Druck, Portugal machte erst mit einer Wirbelwind-Darbietung ohne den gesperrten Ronaldo alles klar, Belgien robbte sich mit Remis gegen Nordmazedonien (2x) und Kasachstan zum Gruppensieg und Italien hat diesen im Grunde schon im allerersten Spiel, dem 0:3 in Oslo, verloren. Dänemark ist über die vorletzte und letzte Hürde gestolpert, Schweden ist komplett kollabiert, Tschechien hat gegen die Färöer verloren. Und Serbien schlafwandelte, von Dragan Stojković gewohnt vorsintflutlich gecoacht, zur entscheidenden Heimniederlage gegen Albanien.

Was am Ende einer solchen Qualifikation zählt ist, dass Österreich in einer der 45 Kugeln sein wird, die am 5. Dezember in Washington aus den Lostöpfen gezogen wird. Dass David Alaba und Marko Arnautovic auf ihre alten Tage doch noch mal die Gelegenheit bekommen, eine WM zu spielen. Dass man nun auch auf diesem Wege gezeigt hat, dass die Entwicklung der letzten 15 Jahre greifbare Resultate bietet und sich damit verbandsinterne Querschüsse abblocken lassen.

Die Frage nach der Zukunft kommt danach

Und wenn man schon da ist in Nordamerika, trachtet man auch nach dem bestmöglichen Resultat. Österreich wird dort ähnliche Trümpfe in der Hand haben wie letztes Jahr in Deutschland – gute Abstimmung im Spiel gegen den Ball, große mannschaftliche Geschlossenheit, extremer Teamgeist – aber auch ähnliche Schwächen, namentlich eben die eigene Gestaltung sowie die zu erwartende Hitze (und Höhenlage, sollte man in Mexiko antreten müssen). Eine Mannschaft wie Österreich kann nicht alles können, man hat sich vor vielen Jahren für diese Spielweise entschieden, nun muss man eben sehen, wie weit man damit kommt. Es war eine pragmatische Entscheidung, diese Herangehensweise bringt angesichts der zur Verfügung stehenden Spieler die größten Chancen auf Erfolg, noch dazu mit diesem Trainer.

Wie lange diese Erfolgsphase noch andauert und ob man danach (wie Tschechien nach der großen Generation um Nedvěd, Rosický, Poborský, Koller und Baroš) wieder zurückfällt oder ob es gelingt (wie die Schweiz es seit 20 Jahren mustergültig vormacht), eine gute Generation nach der anderen hervorzubringen? Das ist ein Thema, das vor allem nach der WM in den Mittelpunkt rückt. Hilfreich wäre, schon vorher Klarheit über die Zukunft von Ralf Rangnick zu bekommen. Er hatte stets betont, bei einem Verpassen der WM selbstverständlich den Platz zu räumen. Gespräche über die Verlängerung des Kontraktes von Rangnick, der während der WM seinen 68. Geburtstag feiern wird, wurden entsprechend bis zum Ende der Qualifikation ausgesetzt.

Fakt ist, dass seit Werner Gregoritsch‘ U-21-Team bei der EM von 2019 (mit Baumgartner, beiden Schlagers, Lienhart, Posch, Danso und Friedl; auch Laimer und Wöber gehörten zu diesem Jahrgang) kaum noch jemand nachgekommen ist. Es ist erfreulich, dass aktuell die U-17 um das Salzburger Offensiv-Juwel Johannes Moser bei der WM in Katar aufgeigt. Aber erstens wurde das nach zuletzt dünnen Jahren auch Zeit und zweitens hat eine U-17 noch so gut wie gar keine Aussagekraft darüber, wie viele wirklich den Durchbruch schaffen.

Umso wichtiger ist es, dass auch der altersmäßige Mittelbau – eben diese 2019er – jetzt nach der EM das nächste Turnier spielen, eine WM erleben. Sie wachsen daran und können dieses Mindset den nachrückenden Spielern mitgeben und Vaterfiguren werden wie es jetzt Alaba und Arnautovic sind. In jedem Fall ist eines schon klar: Das erste Gruppenspiel bei der WM wird das erste Pflichtspiel der österreichischen Fußball-Nationalmannschaft außerhalb von Europa seit dem 21. Juni 1978 sein.

Seit Córdoba.

Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.