Die Top-8 der EM 2024: Spanien überstrahlt alle

Mit dem vierten Titel hat sich Spanien nun die Krone des Rekord-Europameisters aufgesetzt. Verdient – man stellte das klar beste Team des Turniers, gewann alle sieben Spiele (sechs davon nach 90 Minuten) und spielte dabei auch noch ansehnlichen Fußball.

Das haben nicht alle der acht Teams, die bei der EM in Deutschland das Viertelfinale erreicht haben. England und Frankreich sorgten wahlweise für Langeweile oder Ärger, die Niederlande war nicht so überzeugend wie der Halbfinal-Einzug nahelegt, Portugal hat sich selbst an die Leine gelegt. Und neben den starken Schweizern und den türkischen Glücksrittern war dann ja auch noch der Gastgeber, der sich fragen muss: Wo auf der Grauzone zwischen Erfolg und Fehlschlag rangieren die Vorstellungen den nun?

Spanien: Die mit Abstand beste Mannschaft

Trotz allem Ballbesitz fehlte der Zug in den Strafraum: Bei praktisch allen Turnieren in den letzten zehn Jahren war dies das Manko bei Spanien und der Grund, warum die Gegner – wie Russland 2018, wie Japan und Marokko 2022 – die Spanier auch mit Ballbesitzwerten um die 20 Prozent besiegen hatten können. Das geht jetzt nicht mehr.

Denn mit Wunderkind Lamine Yamal rechts und dem trickreichen Dribbler Nico Williams links gibt es nun zwei Flügelspieler, die aus den endlosen Passfolgen ausbrechen können, in Eins-gegen-Eins-Duelle gehen, Zug in den Strafraum haben und im Zweifel auch aus größerer Distanz gefährlich abschließen können. Damit ist auch wieder Platz für einen echten Mittelstürmer in Kapitän Álvaro Morata, wenn auch eher in freiblockender Mission als in schießender. Pick-and-Roll, quasi.

Hinzu kam, dass nach der Pedri-Verletzung zu Beginn des Viertelfinales mit Dani Olmo ein deutlich direkteres Element ins Mittelfeld einzog, in dem Rodri auf der Sechs das Spiel vor sich lenkte, die Abwehr abschirmte, alles im Blick und im Griff hatte. Trainer Luis de la Fuente verstand es darüber hinaus wie kaum ein zweiter Teamchef bei der EM, mit exaktem und nuanciertem In-Game-Coaching auf den Spielverlauf zu reagieren. Dazu gehört auch, wie gegen Kroatien, dem Gegner den Ball zu lassen und ihn zu hetzen (wie gegen Kroatien) oder verzweifelte Franzosen den Ball nachlaufen zu lassen (wie im Halbfinale).

Kein anderes Team lag anteilig länger in Führung als Spanien (55 Prozent der Zeit), nur eines lag seltener im Rückstand (5 Prozent), kein anderes Team traf öfter (15 Tore), kein anderes Team, das zumindest im Viertelfinale war, kassierte weniger Gegentore (vier) – wiewohl Spanien bei den Gegentoren den xG-Wert deutlich unterbot.

De la Fuente – der schon die spanische U-19 und die spanische U-21 zu EM-Titeln gecoacht hat – verstand es wie vermutlich kein spanischer A-Teamchef vor ihm, die Vorzüge von Ballbesitz-Fußball und jene von individueller Qualität mit Zug zum Tor und jene von präzisem In-Game-Coaching zu verbinden. Bei den Titeln fehlte Aragonès (noch) das Ballbesitz-Element, Del Bosque der Zug zum Tor, ebenso wie – noch viel extremer – in der Folge den erfolglosen Hierro und Luis Enrique.

England: Die Grenzen von „Vibes Only“

Wollte man Gareth Southgate direkt angehen, könnte man sagen: Er hat England in den 102 Spielen der letzten knapp acht Jahre so weit gebracht, wie man ein talentiertes Team mit einem „Vibes Only“-Zugang halt bringen kann. Zwei EM-Finals, ein WM-Semifinale, ein WM-Viertelfinale – rein von den Ergebnissen her hat England über vier Turniere hinweg noch niemals eine so konstant gute Bilanz vorzuweisen wie unter Southgate.

Southgate hat definitiv einen Kulturwandel ins englische Team gebracht: War das Team in den Nuller-Jahren eine Schlangengrube im Brennpunkt des Boulevards und die Zeit unter Hodgson ein dem ambitionsloses Verwalten des Verfalls, herrscht nun eine positive Grundstimmung. Das zwischenmenschliche Element passt, mentale Blockaden wurden gelöst. Seit 2012 werden mit dem St.-George’s-Trainingszentrum und einer klaren Ausbildungsstrategie junge Top-Spieler gefördert, die in den letzten Jahren nach und nach ins Nationalteam stoßen. England ist U-20-Weltmeister (2017) sowie U-21-Europameister (2023) und U-19-Europameister (2017 und 2022).

Dieses EM-Turnier aber war eigentlich furchtbar. Es wurde sechs Spiele lang gut verteidigt, das schon, aber spielerisch war das alles extrem arm. Es gab keine Struktur im Aufbau, keine Strukturen im Pressing, die Standards – 2018 noch der Schlüssel zum guten Turnier – waren schwach. Roman Mählich nannte es sinngemäß „Bleiwesten-Fußball“, langsam, esprit- und ideenlos, zuweilen geradezu willenlos. Es war die Art von Turnier, das eigentlich im Achtelfinale endet.

Es waren Momente individueller Brillanz, die England ins Finale hievten. Bellinghams Fallrückzieher in der Nachspielzeit gegen die Slowakei, Ollie Watkins‘ grandioser Abschluss im Halbfinale gegen die Niederlande. England war wenige Minuten davor, das Finale in die Verlängerung zu schicken – eigentlich eine Farce. Die EM war ein klarer Rückschritt gegenüber dem WM-Auftritt in Katar.

Ein konstruktives Klima schaffen, hat es in den letzten Jahren gebraucht. Sich auf die individuelle Qualität seiner Spieler zu verlassen, vorzeigbare Resultate gebracht. England hat spätestens jetzt aber auch die Limits des Zugangs erkennen müssen.

Frankreich: Mit angeschlagenem Mbappé noch passiver

Neben England verkörperte bei dieser EM niemand den zurückhaltenden Zugang zu Spielen so konsequent wie Frankreich – nur, dass man das bei Didier Deschamps seit über einem Jahrzehnt so kennt und man wusste, was kommt. Gar so extrem wie diesmal war es aber selbst bei Deschamps noch nie. Es dauerte bis zum Halbfinale (!!!), ehe Frankreich erstmals ein Tor aus dem Spiel heraus ohne Zutun des Gegners erzielte. Ein Eigentor beim 1:0 gegen Österreich, ein Elfmeter beim 1:1 gegen Polen, ein abgefälschter Schuss beim Achtelfinal-1:0 gegen Belgien, dazu die 0:0-Spiele gegen Holland in der Gruppe und gegen Portugal im Viertelfinale.

Unterhaltungswert geht anders, aber selbst mit diesem Minimalisten-Fußball schlängelte sich Frankreich – als klare Nummer 1 im Elo-Rating aus der Qualifikation hervorgegangen – ins Halbfinale durch. Letztlich war es aber die selbe Idee wie immer: Defensiv so sicher wie möglich stehen, den Gegner zur Aktivität zwingen, und dann mit dem Tempo vor allem von Mbappé in die entstehenden Räume stoßen. Angesichts des Nasenbeinbruchs, den sich Mbappé schon im ersten Spiel zugezogen hat, lahmte der zweite Teil der Gleichung aber: Ganz auf 100 Prozent war der Neo-Königliche nicht mehr.

Thuram und Kolo-Muani waren bemüht, aber harmlos; Griezmann fehlte ein wenig die gewohnte Dynamik, Dembélé traf am Ball viele falsche Entscheidungen. Die Abwehrkette spielte in Komplett-Besetzung alle sechs Spiele durch und der alte N’Golo Kanté, spätestens nach seinem Saudi-Transfer abgeschrieben, feierte sein vermutlich letztes Hurra auf der großen Bühne.

Man hadert ein wenig mit dem Halbfinal-Aus gegen Spanien, aber Deschamps bleibt im Amt und mit ihm auch seine Idee davon, wie man als Nationalmannschaft erfolgreich ist.

Niederlande: Schritt nach vorne oder zu viele Schwächen?

Im niederländischen Verband wird man die Rückkehr in ein großes Semifinale nach zehn Jahren sicher als Zeichen sehen wollen, dass die Dürreperiode endgültig vorbei ist. Aber ist sie das wirklich? Bei dieser EM ist Oranje hinter Österreich und Frankreich Gruppendritter geworden und hatte dann auch Losglück. Achtelfinale gegen ein rumänisches Team, dass eher wegen glücklicher Umstände dort war, nicht wegen eigener Klasse. Und ein Viertelfinale gegen die Türkei, die schon im Achtelfinale gegen Österreich zu einem ausgesprochen glücklichen Sieg gekommen war.

Rumänien hatte nicht die Klasse, die holländischen Schwächen im Spiel gegen ein gutes Pressing zu exponieren und gegen die Türkei wäre es ohnehin fast schief gegangen. Das Spiel ohne Ball war schwach und oft strukturlos (wie es das schon 2021 unter Ronald de Boer der Fall war), nicht zuletzt war Jody Veermans Katastrophen-Auftritt gegen Österreich ein sichtbarer Beweis davon.

Es gab aber durchaus Ideen, die grundsätzlich funktioniert haben. Die asymmetrische Abwehrkette mit Aké links etwa, der tief blieb und im Aufbau eine Dreierkette schuf und vor dem Cody Gakpo tiefer starten und sein Tempo damit ausspielen konnte. Dann sah das Mittelfeld im 4-2-3-1 (gegen Polen und ab dem Achtelfinale) wesentlich stabiler aus als im 4-3-3, der von Koeman eigentlich verschmähte Simons als Freigeist auf der Zehn brachte Belebung.

Das niederländische Team sah vielversprechender und auch mental stabiler aus als jenes von De Boer bei der EM 2021 und es war auch mehr Weitblick zu erkennen als beim ultra-pragmatischen Ergebnis-Zugang von Louis van Gaal bei der WM 2022. Es ist aber immer noch vorhersehbar, es fehlt jegliche Idee gegen ein gezieltes Anlaufen und Koeman verlässt sich mehr auf die fraglos vorhandene individuelle Qualität als auf echte Ideen.

In dieser Form ist die Niederlande ein seriöser Viertelfinal-Kandidat. Mehr geht sich nur aus, wenn – wie bei dieser EM – die Umstände passen.

Deutschland: Solides Turnier auf Pump

Was war das für ein Gewürge, in den letzten anderthalb Jahren: Hansi Flick und nach ihm Julian Nagelsmann probierten allerhand aus, um aus dem unausgewogenen personellen Möglichkeiten – viele kreative Mittelfeldspieler, kaum Innenverteidiger, praktisch keine Außenverteidiger und echte Stürmer – ein funktionierendes Team zu machen. Es war die Bereitschaft von Toni Kroos, zum Karriereende nochmal eine EM mitzunehmen, die den wohl entscheidenden Impuls zu einem zumindest recht soliden Turnier darstellte.

Nach all den Experimenten war es am Ende dann doch ein relativ handelsübliches 4-2-3-1, neben Kroos wurde tatsächlich eine echte Zweikampf-Maschine eingezogen, nämlich Andrich von Meister Leverkusen. Nach dem 0:2 in Wien letzten November hatte Nagelsmann öffentlich eingestanden, dass er wohl auf kreatives Talent verzichten muss und doch den einen oder anderen „Worker“ braucht. Die starke Saison des VfB Stuttgart spielte Nagelsmann zusätzlich in die Karten, mit Spätstarter Mittelstädt hatte er einen neue Option auf der linken Seite, mit Anton eine im Abwehrzehntrum.

Die Idee nach vorne war, dass Nagelsmann zwei kreative Techniker auf den nominellen Außenpositionen hatte (Musiala und Wirtz), die nach innen ziehen, während Gündogan sich etwas zurückzieht und die Balance herstellt. Wenn die gegnerische Abwehr müdegelaufen war, kam mit Füllkrug ein Stoßstürmer für den mobileren Havertz; Füllkrug traf gegen Schottland, sorgte für den späten Ausgleich gegen die Schweiz, auch Spanien beschäftigte er. Nach hinten war der 3-1-Aufbau mit Kroos neben den Innenverteidigern und Andrich davor zuweilen eine Quelle der Gefahr, weil die Halbräume frei für gegnerische Gegenstöße waren.

Deutschland überstand problemlos die Vorrunde, hatte dann gegen ein biederes dänisches Team im Achtelfinale auch ordentlich Glück mit Referee-Entscheidungen, dafür hatten die Deutschen mit ebendiesen im Viertelfinale gegen Spanien Pech. Niemand im Turnier brachte Spanien so ans Limit wie Deutschland, das darf man im DFB für sich verbuchen, allerdings trotzte man schon in Katar den Spaniern in einem großartigen Spiel ein 1:1 ab und schied doch aus.

Es war ein vernünftiges Turnier, besser als man es vor einem halben Jahr befürchten durfte, ein grandioser Befreiungsschlag war es aber auch nicht. Man kann es als solide Basis für die nächsten Jahre betrachten, aber auch wie ein Turnier auf Pump – denn das Kroos-Comeback war ein bisschen Deus-Ex-Machina, der jetzt wieder wegfällt. Wer in Zukunft die taktisch clevere und spielerisch sinnvolle Lösung im Zentrum ist? Aleksandar Pavlovic, der das Turnier im letzten Moment krank verpasste, könnte eine Option sein. Nagelsmann wird sich und das Team, wohl auch Zurecht, auf einem guten Weg sehen. Mehr ist es aber (noch) nicht.

Portugal: Titel-Chance auf Ronaldos Ego-Altar geopfert

Ronaldo ist an einem Punkt angekommen, an dem er wie seine eigene Karikatur wirkt. Niemand anderer darf einen Freistoß ausführen, obwohl niemand anderer so schlecht darin ist wie Ronaldo. Mit einem Ronaldo kann man nicht pressen, mit einem Ronaldo kann man kein Tempospiel mehr aufziehen, mit Ronaldo ist es auch nicht möglich, ein grundsätzlich spannendes Konzept der fluiden Positionierungen konsequent durchzuziehen. Und so hat Portugal – weil der Starspieler ein Politikum ist – einmal mehr eine seriöse Titelchance auf dem Altar von Ronaldos Ego geopfert.

Denn was wäre Portugal für eine tolle Truppe, so flexibel, was für ein Tempowirbel wäre möglich, wie spielintelligent sind die Leute um Ronaldo herum. Das System lässt sich nicht klar definieren, mal eher 3-4-3, mal eher 4-3-3, oft ist es irgendwas dazwischen. Mal Rafa Leão eher als Wing-Back und Bruno Fernandes im linken Halbraum als hängende Spitze; mal mit Cancelo hoch und Bernardo Silva rückt ein; mal mit Vitinha aus der Tiefe wenn Palhinha nicht spielt, mal höher geschoben.

Aber am Ende dreht sich alles um die Ego-Show des 39-Jährigen ganz vorne. Das lähmt Portugal, weil man sein Konzept auf halbem Weg abbrechen muss, und weil das natürlich auch die Gegner wissen. Tschechien hätte beinahe ein 1:1 geholt, die Türken haben sich selbst besiegt, bei der Niederlage gegen Georgen war Ronaldo der einzige Feldspieler, der nicht rausrotierte. Slowenien war in der Verlängerung dem Sieg näher und gegen Frankreich konnte man die Chancen, die sich um einen teilnahms- und wirkungslosen Ronaldo herum ergaben, nicht verwerten.

Das Turnier bleibt für Portugal eine vertane Chance. Und so spannend und unterhaltsam Portugal sein kann: Im Hinblick auf die WM in Nordamerika in zwei Jahren wird es wohl noch spannender sein, ob sich Martinez traut, den offensichtlichen und überfälligen Schritt zu setzen. Ronaldo selbst hat angekündigt, die WM noch spielen zu wollen.

Schweiz: Alle Rädchen greifen ineinander

Die Schweiz vor einem halben Jahr: Nur eines der letzten sieben EM-Quali-Spiele gewonnen (und zwar gegen Andorra), gerade noch so über die Ziellinie gekrochen, Kapitän Xhaka und Teamchef Yakin im vom Boulevard genüsslich breitgetretenen Zwist; ein gelähmtes Team ohne Schwung. Die Schweiz jetzt: Wieder ärgert man sich – aber darüber, im zum zweiten Mal in Folge ein EM-Viertelfinale im Elfmeterschießen verloren zu haben. Vor drei Jahren gegen Spanien, nun gegen England.

Gerade im Ballbesitz waren die Eidgenossen eines der besten Teams bei dieser EM. Akanji verteilte von hinten heraus die Bälle mit Übersicht, Xhaka assistierte ihm mit Robustheit und Auge im Mittelfeld, Freuler stopfte Löcher. Die einrückenden Außenstürmer räumten wahlweise die gegnerischen Außenbahnen für die Wing-Backs frei oder zogen Innenverteidiger auf sich. Das Spiel der Schweiz hatte Struktur, die Rädchen griffen ineinander, es war im Fluss. Man arbeitete sich gegen Ungarn und die Schotten ins Turnier hinein, hatte Deutschland danach am Rande der Niederlage und ließ eines der größten Spiele der Schweizer Fußballgeschichte folgen.

Man zog Italien am Nasenring durch das Berliner Olympiastadion, ließ den Titelverteidiger überhaupt keinen Zugang ins Mittelfeld finden, neutralisierte den Kontrahenten und hatte 90 Minuten lang alles immer bombenfest im Griff. Im Viertelfinale gegen England war man dem Sieg näher als der spätere Finalist, brachte die Führung aber nicht über die Zeit und dann war es eben Akanji, der mit einem schwachen Elfer im Shoot-Out das Aus besiegelte.

Wie immer bei einem Land mit einem relativ kleinen Spielerpool wie es die Schweiz ist, muss die Frage erlaubt sein, wie es mittelfristig weitergeht, das Team ist im besten Alter, die Junioren-Teams haben in den letzten Jahren nicht beeindruckt. Wenn man in den letzten 20 Jahren bei der Schweiz aber eines gelernt hat, dann dass ihr Niveau nicht nachhaltig sinkt. Vor allem dann nicht, wenn – so wie bei dieser EM – Team und Trainer an einem Strang ziehen.

Türkei: Wild mit viel Kopf-durch-die-Wand

Sieht so ein Viertelfinalist aus? Gerade noch so ein wildes Spiel gegen Georgen gewonnen, chancenlos gegen Portugal, in Überzahl gegen Tschechien die Nerven weggeworfen, dann kräftig Glück im Achtelfinale mit einem De-facto-Eigentor des Gegners in der 1. Minute und einem Weltklasse-Save in der Nachspielzeit. Also, auch ohne österreichische Brille: Die Türken waren der mit Abstand schwächste Vertreter im Viertelfinale.

Die Umstellung auf Fünferkette für die K.o.-Runde – Ayhan rückte von der Sechs nach hinten – verlieh den Türken durchaus defensive Stabilität, man stellte damit sowohl Österreich als auch die Niederlande vor Denksport-Aufgaben. Der Truppe wird durchaus Talent nachgesagt, wobei der schmächtige Arda Güler, zumeist als Sturmspitze eingesetzt, von einem Weitschusstor gegen Georgien abgesehen überhaupt nichts gezeigt hat.

Die Vorstöße von Ferdi Kadıoğlu auf der linken Seite brachten Unruhe in die Reihen des Gegners, eine wirklich stringente Spielidee suchte man aber vergeblich. Hakan Çalhanoğlu pendelte zwischen Acht und Zehn und war eher mit Balancegeben beschäftigt als mit Impulsgeben; Kenan Yıldız und Barış Alper Yılmaz waren viel mit dem Kopf durch die Wand unterwegs. Gegenstöße wurden viel zu oft durch Ungenauigkeiten verdaddelt.

Vincenzo Montella hat es geschafft, eine Mannschaft zu formen, in der einer für den anderen da ist; als spielerische Einheit funktioniert die Türkei aber (noch?) nicht. Man ist verdient erstmals seit 2008 aus einer Gruppe herausgekommen. Man sollte in der Türkei aber glücklich sein, dass man überhaupt ins Viertelfinale gekommen ist – und sich nicht grämen, dort eher unglücklich an der Niederlande gescheitert zu sein.

Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.