Aus im EM-Achtelfinale: Italien, Belgien, Georgien und Co. zwischen Party und Frust

Ein Achtelfinale ist nicht gleich ein Achtelfinale – es ist das Fegefeuer eines Turniers. Für manche ist es ein historischer Erfolg, überhaupt hier spielen zu dürfen. Für andere ist es eine Ernüchterung, womöglich sogar eine Blamage. Ein chancenloses 1:4 kann von Jubel quittiert werden, ein heroisch erkämpftes 0:0 nach Verlängerung mit Tränen.

Italien hat eine bittere Standortbestimmung hinter sich, bei Dänemark wurde der Negativtrend der letzten eineinhalb Jahre bestätigt, bei Österreich der Positiv-Trend der letzten 25 Monate. Belgien gibt Fragen auf, die Slowakei zeigte auf, Slowenien feierte eine Premiere, Rumänien ein Comeback nach 24 Jahren. Und Georgien ist die große, positive Überraschung.

Italien: Rückschritt ist kein Zufall

Auf der Basis des von Roberto de Zerbi (damals Sassuolo) und Gian Piero Gasperini (damals wie heute Atalanta) gezeigten Kulturwandels in der Serie A wurde ein erstaunlich positives, aktives und offensives italienisches Team vor drei Jahren so ein wenig aus dem Nichts Europameister. „Ob das jetzt wirklich der strukturelle Neustart ist, oder doch „nur“ wieder ein gutes Abschneiden aufgrund von sehr gutem Coaching, bleibt aber trotz des EM-Titels noch abzuwarten“, hieß es an dieser Stelle im Juli 2021. Eine weitere verpasste WM, ein gerade noch gesichertes EM-Ticket und ein EM-Turnier zum Vergessen später wissen wir: Ein struktureller Neustart war es nicht.

Im Gegenteil, Italien ist in alte Muster zurückgefallen. In drei von vier Spielen hat man wenig bis gar keine eigene Initiative gehabt. Das ist gegen Spanien verständlich und bis zu einem gewissen Grad auch, wenn man nur einen Punkt gegen Kroatien braucht. Wie sehr das italienische Team aber im Achtelfinale gegen die Schweiz 90 Minuten lang so überhaupt gar keinen Zugriff auf das Mittelfeld bekommen hat, war schon sehr frappant. Selbst gegen Albanien war der einzige echte Aufbau-Move der lange Martin-Hinteregger-Gedächtnis-Diagonalball aus der Abwehr auf den ballfernen Flügel gewesen.

Andererseits war – wie man nach dem Rückstand gegen Kroatien sehen konnte – der Weg von „wir fühlen uns komplett in Kontrolle“ zum kompletten Panikorchester bei Italien irgendwie noch nie so kurz wir jetzt. Luciano Spalletti, der aus der Roma ein Offensiv-Powerhouse gemacht hat und Napoli 2023 überlegen zum Serie-A-Titel geführt hat, wirkte an der Seitenlinie ratlos und bei Medienterminen mal pampig, mal defensiv, mal beleidigt – aber nie in Kontrolle.

Von 2018 bis 2021 war die Zahl der Tore in der Serie A um 146 angestiegen, von 2021 bis 2024 ist sie wiederum um 171 gesunken. De Zerbi ist erst in die Ukraine und dann nach England gegangen, Sassuolo ohne ihn abgestiegen, aus dem Attacke-Atalanta ist vielleicht kein Bedächtig-Bergamo geworden, ganz der intensive Wirbel ist es beim Europa-League-Sieger aber auch nicht mehr. Auch die ohnehin schon 2021 geringe Anzahl an einheimischen Spielern bei Top-Klubs geht immer mehr zurück. Klares Symptom: Erstmals seit 1938 ist kein einziger Spieler des AC Milan in einem italienischen Turnier-Kader.

Frappant ist vor allem das Fehlen von italienischen Stammspielern in Mittelfeld und Angriff. Milan hat hier gar keine, Meister Inter einen (Barella), Europa-League-Sieger Atalanta hat einen (Scamacca) und selbst beim Überraschungs-Vierten Bologna ist nur ein Italiener Stamm, der kein Verteidiger wäre, Flügelstürmer Riccardo Orsolini nämlich, und er hat den Kader-Cut nicht geschafft. Verteidiger Riccardo Calafiori, der einzige echte EM-Gewinner aus italienischer Sicht, ging einst nach Basel und vor dort zu Bologna, weil er bei der Roma unter Mourinho keine Einsatzzeit bekam. Spalletti sprach offen an, dass für ihn viel zu wenige diesen Schritt gehen, lieber bei den Top-Klubs auf der Bank sitzen, als halt mal den Umweg über beispielsweise die Schweiz zu gehen.

Wahr ist, dass es jeder Commisario Tecnico schwer hat, weil die Qualitätsdichte gemessen an den italienischen Ansprüchen tatsächlich sehr dünn ist, es gibt kaum kreative Mittelfeldspieler und praktisch gar keine Mittelstürmer von internationalem Format. Italiener pressen nicht, sie gestalten oder schalten – wenn schon – aus einem tieferen Block um. Wahr ist aber auch, dass keine taugliche Idee ersichtlich war, wie ein Gestalten aussehen hätte können und auch keine Strukturen, um nach Ballgewinnen in der eigenen Hälfte zielgerichtet und rasch nach vorne zu kommen. Mit gutem Willen ist Italien ein Viertelfinal-Kandidat. Bei dieser EM war Italien nicht mal das.

Österreich: Erwartungen mit Leistung untermauert

Nicht die eigene Fehlervermeidung ist das Credo von Ralf Rangnick, sondern das Provozieren von Fehlern beim Gegner. Diese aktive und aggressive Spielweise, bei der man möglichst selbst am Fahrersitz des Matches sitzt, kommt dem zur Verfügung stehenden Personal entgegen: Seit Rangnick 2012 in Salzburg aufgeschlagen ist, ist Österreich zu einem Pressing-Land geworden. Die meisten Akteure im Dunstkreis des Nationalteams kommen entweder selbst aus dem Red-Bull-Lager oder sind von anderen Vereinen mit einer artgleichen Spielweise vertraut. Das sah man.

Selbst Vizeweltmeister Frankreich war vor dem Angriffspressing der Österreicher nicht gefeit, der Mut zum Risiko gehört dazu. Ein Eigentor bescherte Frankreich den Sieg und es wurde deutlich, dass sich Österreich vor allem dann schwer tut, wenn man selbst zum Kreieren mit Ball gegen einen tief stehenden Kontrahenten gezwungen ist. Das war auch in Phasen gegen Polen zu erkennen, initiative Umstellungen für mehr Direktheit zahlten sich aber aus und Österreich gewann mit 3:1, womit das Achtelfinale im Grunde erreicht war. Es folgte das Statement Game gegen die Niederlande: Wieder initiativ, wieder aggressiv, ohne falschen Respekt vor einem großen Namen – den wilden Schlagabtausch hat Österreich 3:2 gewonnen und war damit sogar Gruppensieger.

Das Achtelfinale ging schon nach einer Minute in die falsche Richtung, gegen eine tief stehende Türkei, fand man kein Mittel, sich einen Ausgleich zu erarbeiten, und doch brauchte es zwar einen Wunder-Save der türkischen Keepers, um die Verlängerung zu verhindern. Im Ganzen war die Wahrnehmung der Leistungen wohl etwas besser als es die Leistungen wirklich waren, das Holland-Spiel eventuell ausgenommen. Aber erstmals seit ewigen Zeiten passten die Leistungen mit den hohen Erwartungen zusammen und Österreich geht mit Optimismus aus dieser EM heraus.

Belgien: Kaum wiederzuerkennen

Taktisch clevere Raumaufteilung, mit Überladungen auf der rechten Angriffsseite wurde der Gegner zermürbt. Es war harte Arbeit, aber Belgien war das klar bessere Team und kam letztlich zu einem verdienten 2:0-Erfolg gegen Rumänien. Das war das zweite Gruppenspiel nach dem 0:1-Fehlstart gegen die Slowakei – dort spielte der Gegner völlig anders als erwartet, es dauerte eine Halbzeit bis man wusste, was gespielt war und ohne den VAR, der durch knappe Calls zwei belgische Tore wieder einkassierte, hätte man das Match auch nicht verloren.

Nach diesem vielleicht nicht rundheraus überzeugenden, aber unter großem Druck doch sehr herzeigbaren Auftritt durfte man Belgien wieder auf Schiene betrachten. Unter Domenico Tedesco, der nach der verpatzten WM von Roberto Martínez übernommen hat, wehte in der EM-Quali ein spürbar frischer Wind durch das Team, der junge Deutsch-Italiener blieb im Machtkampf mit Real-Keeper Thibaut Courtois standhaft. Belgien spielte variabel und flink, gewann die Quali-Gruppe mit Österreich und Schweden problemlos, besiegte Deutschland in einem Test verdient und hat im Wembley gegen England erst in der Nachspielzeit den 2:2-Ausgleich kassiert.

Im dritten Gruppenspiel gegen die Ukraine bog Belgien allerdings doch in die falsche Richtung ab, und zwar endgültig. War es wirklich nur die nervenaufreibende Anreise zum Stadion, wie Tedesco behauptete? Belgien wirkte zerrissen, unsicher, gehemmt. Man brauchte einen Punkt für das Achtelfinale, verlieren war verboten, aber der Gegner hatte nicht die Geistesgegenwart, die belgischen Schwächen zu nützen, es blieb beim 0:0. Im Achtelfinale gegen Frankreich legte man es sehr defensiv an, mit De Bruyne auf der Sechs neben Onana. Belgien kam kaum aus dem Verteidigungsdrittel heraus, geschweige denn ins Angriffsdrittel hinein. Auf das abgefälschte Tor von Frankreichs Joker Kolo-Muani gab es keine Antwort mehr.

Das sang- und klanglose Achtelfinal-Aus, ohne jeden Eindruck auf das Turnier hinterlassen zu haben, wirft bei Belgien wieder einen ganzen Schwung neuer Fragen auf, personell wie taktisch, die man zumindest nicht öffentlich beantworten will. Das legt zumindest Kevin de Bruynes pampige Reaktion auf derartige Nachfragen nach dem Frankreich-Spiel nahe.

Dänemark: Einmal mehr seltsam leblos

War war Dänemark im Jahr 2021 für ein Wirbelwind! Schon im Frühjahr nützte man Österreichs Schwächen gnadenlos aus und gewann in einem coronabedigt leeren Happel-Stadion mit 4:0, bei der EM schwammen die Dänen auf einer Welle der Sympathie nach Eriksens Herzstillstand beinahe bis ins Finale. Ein Jahr später beendete Dänemark seine Nations-League-Gruppe satte sieben Punkte vor dem späteren WM-Finalisten Frankreich. Nur bei der WM in Katar präsentierte sich das Team von Trainer Kasper Hjulmand seltsam leblos.

Die geschaffte EM-Qualifikation in einer schwachen Gruppe war Pflichterfüllung, wiewohl es auch hier Ausrutscher wie die Niederlage gegen Kasachstan gab. Und nun, bei der EM, verfestigte sich das Bild zu einem wahren Monolithen: Aus Hjulmands Wirbelwind von 2021 ist eine uninspitierte, langsame und eindimensionale Mannschaft geworden. Gegen Slowenien wähnte man sich nach der frühen Führung gegen einen defensiven Gegner in Sicherheit und kassierte das 1:1, gegen einen schwachen Favoriten aus England war man zufrieden, ein 1:1 geholt zu haben und gegen die Serbien spielte man auf genau jenes 0:0, das man zum Aufstieg brauchte – ohne Punch, ohne Siegeswillen.

Christian Eriksen changierte zwischen Zehn und Acht und Flügelstürmer, Morten Hjulmand verlieh dem Mittelfeld-Zentrum neben Højbjerg Stabilität durch Präsenz. Aber wie schon in Katar fehlte der Übergang von Mittelfeld ins Angriffsdrittel, es wurde zu wenig nachgerückt und Ramus Højlund konnte seine Stärken nie ausspielen. Die Dänen ärgerten sich nach dem 0:2 verlorenen Achtelfinale gegen Deutschland über enge Referee-Entscheidungen und sie hatten im Regen von Dortmund fraglos ihre beste Leistung des Turniers abgeliefert.

Aber mehr als das Achtelfinale ist diesem dänischen Team auch einfach nicht zugestanden. Trotzdem: Der dänische Verband hat Hjulmand die Rückendeckung ausgesprochen, sein Vertrag läuft noch bis zur WM.

Slowakei: Erstmals wirklich Spaß gemacht

Über Jahre hinweg war das slowakische Team ein Synonym für eine langweilige Truppe mit langweiligem Fußball. Bei Turnieren? Die Sorte Gruppenspiel „Dienstag um 15 Uhr“, das man sich guten Gewissens ersparen kann, weil man weiß, dass man nichts verpassen wird. Selbst im März, als man gegen Österreich testete und mit einer anonymen Leistung 0:2 verlor, deutete nichts darauf hin, dass es diesmal anders sein sollte.

Aber es war anders. Der italienische Trainer Francesco Calzona ließ sein Team ein gut gedrilltes Anlaufen der gegnerischen Eröffnung zeigen, bei dem einer der Achter neben den Stürmer aufrückte. Dieser Druck überraschte Belgien so sehr, dass Doku einen Panik-Pass in den eigenen Strafraum spielte, was die Slowakei zum 1:0-Sieg nützte. Das Match gegen die Ukraine wird eine der großen vergessenen Leistungen bleiben: Die Slowakei war dem Gegner mit dieser Spielweise haushoch überlegen, schaffte es aber irgendwie, zu verlieren. Auch beim 1:1 gegen Rumänien war es grundsätzlich die Slowakei, welche dem Sieg näher war.

Im Achtelfinale hatte man (zu Recht!) keinerlei Angst vor England, ließ die vorderste Linie hoch stehen und Duda aufrücken, um die Eröffnungspässe von Stones zuzustellen. England viel überhaupt nichts ein und die Slowakei war am Weg zum Sieg, ehe die Wundertat von Jude Bellingham in der Nachspielzeit den Traum zum platzen brachte.

Der limitierende Faktor in Calzonas Strategie ist letztlich das Personal. Wenn es nach einer Stunde nötig wird, einige müdegelaufene Offensivkräfte auszutauschen, konnte er nicht mehr in annähernd gleicher Qualität nachlegen. So fehlte die Antwort auf die ukrainische Führung, so hatte man in der Verlängerung gegen England nichts mehr nachzusetzen. Dennoch: Die Slowakei ist zum dritten Mal in eine K.o.-Runde eingezogen, hat dabei aber noch nie so viel Spaß gemacht.

Slowenien: Nicht verlieren reicht völlig aus

Einen unterhaltsamen Fußball hat Slowenien nicht gespielt, das ist aber auch nicht der Anspruch von Matjaž Kek. Der simplistische 4-4-2-Verteidigungs-Fußball, den er schon vor 14 Jahren bei der WM mit Slowenien spielen ließ, erfüllt seinen Zweck und es ist relativ leicht, die Spieler darin herumzuschieben und auszutauschen. Jeder weiß, was in welcher Rolle zu tun ist, es ist im Vorwärtsgang ein wenig phantasielos, aber wenn man vorne eine schnelle Talentbombe wie Benjamin Šeško hat, ist das verschmerzbar.

Slowenien erarbeitete sich auf diese Weise – wie schon in der Qualifikation – ein verdientes 1:1 gegen Dänemark und hätte beinahe die Serben besiegt, kassierte aber in der Nachspielzeit noch aus einer Ecke den 1:1-Ausgleich. Sie hatten keinerlei Mühe, ein völlig gelangweiltes und ambitionsloses englisches Team bei 0:0 zu halten. Nur eine gelbe Karte zu viel war es, die den zweiten Gruppenplatz gekostet hat, letztlich machte es kaum einen Unterschied – statt Portugal hätte man eben das Achtelfinale gegen Deutschland gehabt.

Bei der vierten Turnier-Teilnahme (EM 2000, WM 2002, EM 2010) kam Slowenien erstmals aus der Gruppe heraus, wenn auch ohne dabei ein Match gewonnen zu haben – bei einer EM mit 24 Teams reicht es nun mal aus, dreimal nicht zu verlieren. Das wurde auch gegen Portugal vermieden, man hielt Ronaldo und Co. vom Tor weg, Oblak parierte einen Elfmeter und Šeško hatte sogar den Sieg am Fuß.

Man wird sich zwischen Mur und Triglav ob der verpassten Sensation in den Hintern beißen, darf im Ganzen aber super happy mit diesem Turnier sein. Im Herbst wird die Nagelprobe in Form einer Nations-League-Gruppe mit Österreich und Norwegen warten.

Rumänien: Mehr erreicht, als eigentlich drin war

Wer nur das Ergebnis sah, wird sich schön gewundert haben. Die Rumänen haben die Ukraine im ersten Gruppenspiel mit 3:0 besiegt? Wie war das möglich? Nun: Mit großer Disziplin und höchster Effizienz. Das rumänische Team, überraschend deutlich in der Quali-Gruppe vor der Schweiz gelandet, stand einfach tief, kompakt und zeigte Geduld. Eine halbe Stunde lang ließ man die Ukraine den Ball hin und her schieben, ehe man selbst einmal vorne draufpresste, und zack, 1:0 führte. Nach der Pause folgte ein Doppelschlag und das Match war gelaufen.

Der Realität wesentlich näher kam wohl das 0:2 gegen Belgien, als Rumänien sich nach Kräften wehrte, letztlich beim einzigen wirklich guten Auftritt der Belgier aber nicht das Format hatten, etwas aus dem Match mitzunehmen. Es folgte ein schmeichelhaftes 1:1 gegen die Slowakei mit einer nicht gerade zwingenden Elfmeter-Entscheidung zu rumänischen Gunsten. Im Achtelfinale war das Team zwar bemüht, die Niederlande nach österreichischem Vorbild vorne zu stören, aber auch hier galt: Dafür hat der Kader nicht das Format, nicht die Klasse, nicht den langen Atem.

Nach dem deutlichen 0:3 gegen Oranje ist das Turnier für Rumänien nach dem Achtelfinale vorbei, aber die Reaktionen machten doch klar, dass das Team das Geschehene einordnen kann. Man betrachtet die EM als großen Erfolg, kein Wunder, erstmals seit 24 Jahren gab es überhaupt wieder einen Sieg bei einem großen Turnier, erstmals seit eben jener EM 2000 hat Rumänien auch die Vorrunde überstanden.

Damals war Gheorge Hagi noch dabei, nach dem Turnier übernahm – wie schon Ende der 1980er – Anghel Iordănescu das Traineramt. Heute war Gheorghes Sohn Ianis am Feld mit dabei. Und der Trainer ist Anghels Sohn Edward Iordănescu. Running In The Family.

Georgien: Eine erfrischende, einsatzfreudige Bereicherung

Ist ein Debütant oder ein krasser Außenseiter bei einer EM dabei, gehören ihm meist die Sympathien. Das war bei Lettland 2000 so, bei Island 2016 auch, und Georgien 2024 bildet da keine Ausnahme. Weil man sieht, dass das nicht Business As Usual ist, sondern für die Beteiligten, für das ganze Land, eine womöglich einmalige Sache, die es bestmöglich auszukosten gilt. Georgien hat das definitiv getan, und wie.

Das wilde Auftaktspiel in Dortmund gegen die Türkei wird eines DER Spieler dieses Turnieres bleiben, die Türken mit dem offenen Visier, die vom Anlass beflügelten statt eingeschüchterten Georgier furchtlos, auf den Ausgleich drückend, der beim Stand von 1:2 in der 93. Minute beinahe geglückt wäre, nur um im Gegenzug ein Empty-Net-Goal zum 1:3 zu kassieren. Gegen Tschechien wieder individuell unterlegen, aber mit vollem Einsatz, am Weg zum 1:1 und sogar mit der Chance zum Sieg – drei Georgier rannten in der 94. Minute fast alleine auf den tschechischen Keeper zu, aber Lobshanidze lupfte die Kugel drüber.

Die Truppe von Willy Sagnol ist mehr als nur Kvicha Kvaratskhelia vorne, Torhüter Giorgi Mamardashvili hinten und neun beliebige andere mittendrin. Der bullige George Mikautadze hat in allen drei Vorrunden-Partien getroffen. Sechser Anzor Mekvabishvili hat die Beobachter begeistert. Der kreative Tchakvetadze konnte seine Qualitäten angesichts der Spielweise nicht ganz zeigen und Sturms MVP Otar Kiteishvili war wegen kleinerer Blessuren nur Teilzeit-Kraft – aber wenn er spielte, wie gegen Portugal, verlieh er dem Team aus dem defensiven Mittelfeld erstaunliche Struktur.

Das 2:0 gegen das portugiesische B-Team ermöglichte Georgien tatsächlich den Sprung ins Achtelfinale, verdientermaßen. Dort versuchte man die Spanier zu ärgern, so lange es die Kraftreserven zuließen, das war letztlich etwa eine Halbzeit. In der Heimat haben die Spieler den vollauf gerechtfertigten Helden-Empfang bekommen. Ob sich der georgische Sommer von 2024 zu etwas Nachhaltigem nützen lässt? Schwierig.

In der Qualifikation wurden nur Zypern und Luxemburg in 90 Minuten besiegt, man kam durch die Hintertür der Nations-League-Playoffs zum Turnier, indem die Griechen im Elferschießen bezwungen worden waren. Neben der guten Arbeit von Sagnol, einer eingeschworenen Truppe, taktischer Disziplin und völliger Furchtlosigkeit war schon auch einiges an Glück dabei. Aber man war dabei. Georgien hat eine großartige Figur abgegeben und viele Sympathien gewonnen.

Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.