Titelverteidiger Holland, Olympia-Finalist Schweden, der ewige Underdog Dänemark? Die (ehemalige) Frauenfußball-Großmacht Deutschland, das nach oben drängende Spanien? Oder doch endlich der immerwährende Under-Achiever Frankreich? Neben echten und vermeintlichen Titelkandidaten gibt es aber auch jene Teams bei der Frauen-EM in England, die wohl nicht viel holen werden und auch die eine oder andere mögliche Überraschung.
Hier im Kurzportrait: Die EM-Teilnehmer der Gruppe B und C und D.
Gruppe B: ESP, GER, DEN, FIN
Die Hiobsbotschaft kam am Tag vor dem Eröffnungsspiel: Spaniens Offensiv-Hub und Rekord-Teamspielerin Alexia Putellas, ihres Zeichens Weltfußballerin, fällt mit einem Kreuzbandriss aus, vier Tage nach ihrem 100. Länderspiel im letzten Test, einem 1:1 in Italien. Mit Jenni Hermoso (Seitenband) ist damit auch der zweite Routinier vom FC Barcelona out. Das wäre für jeden Trainer eine Katastrophe, für Jorge Vilda ist es das aber ganz besonders.
Denn sein Spiel basiert darauf, einfach alle Spanierinnen vom FC Barcelona aufs Feld zu stellen und sie ihr Ding machen zu lassen. Das klappt im Mittelfeld großartig – Putellas, Bonmatí und Guijarro kontrollieren das Spiel wie einst Xavi, Iniesta und Busquets – aber nach vorne passt es nicht mehr zusammen. Dort, wo Barcelona eine Hansen, eine Oshoala, eine Rolfö oder eine Martens hat, muss Vilda einen Korken auf einen Schraubverschluss stecken, umso mehr, wenn Hermoso nicht da ist.
Die kraftvollen Spielerinnen aus dem Baskenland und Kantabrien – Amaiur Sarriegi, Athenea del Castillo, Nerea Eizagirre, Lucía García – haben keinen leichten Stand bei Vilda. Wenn es flutscht, macht es Spanien auch mal hoch (7:0 gegen ein australisches B-Team, 8:0 gegen Schottland), die Regel war aber schon mit Putellas und Hermoso ein dünner offensiver Output. In den sieben Spielen 2022 gab es nur zweimal mehr als ein Tor und nur einmal mehr als zwei.
Und die Gruppengegner machen Spanien zusätzlich das Leben schwer. Deutschland ist längst nicht mehr das Powerhouse vergangener Tage und die Personaldecke ist vor allem in der Defensive ausgesprochen dünn. Aber die grundsätzliche Qualität in Mittelfeld und Angriff ist ordentlich, taktische Ausbildung und athletische Robustheit ist in Deutschland ohnehin immer wichtig. Die Struktur im Kader ist relativ klar, die beiden Top-Klubs Wolfsburg und Bayern stellen die Startformation, Namen Frankfurt und Hoffenheim füllen die Bank auf.
In Abwesenheit von Dzsenifer Marozsan (Lyon, verletzt) und Melanie Leupolz (Chelsea, schwanger) ist die erste Elf auch relativ klar definiert, den massiven personellen Experimenten von Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg in jüngerer Vergangenheit zum Trotz. Offen ist im Grunde nur, ob Alex Popp noch einen Platz findet: Sie hat die EM-Turniere von 2013 und 2017 verletzt verpasst und musste diesmal wegen einer Corona-Infektion zittern.
Bestimmend für das deutsche Auftreten ist das Bespielen der Räume im Zentrum und das Tempo auf den offensiven Außenbahnen. Gefahr besteht dann, wenn man die Innenverteidigung – ganz klar der schwächste Mannschaftsteil – nicht genug schützt. Deutschland, einst eine erbarmungslose Maschine die alles mitnimmt, was sie kriegen kann, ist vor Blamagen wie dem 2:3 in Serbien zuletzt nicht mehr gefeit. Die letzten beiden Turniere endeten für den DFB schon im Viertelfinale. Wenn es mehr sein soll, wird man zwei von drei harten Spielen gewinnen müssen, das ist keine Selbstverständlichkeit mehr.
Zumal auch Dänemark da steht. Halbfinale 2013, Finale 2017 – Titel 2022? Nicht so schnell. „Wir sind besser als 2017“, sagte Trainer Lars Søndergaard nach dem Testspiel-Sieg in Wr. Neustadt drei Wochen vor Turnierstart, „aber alle anderen sind das auch!“ Auf ein greifbares Ziel wollte sich der auch in Österreich bekannte Trainer nicht einlassen, aber man mag seine Chancen, den beiden vermeintlichen Favoriten in der Gruppe ein Bein zu stellen. Deutschland hat man 2017 im EM-Viertelfinale besiegt, Spanien ist sehr mit sich selbst beschäftigt.
Das Team spielt üblicherweise im 3-4-3, mit viel Breite im Spiel nach vorne. Pernille Harder ist natürlich der Fokus-Punkt, sie hat auch relativ viele Freiheiten, zahlt dies aber mit für die ganze Mannschaft gewinnbringenden Aktionen zurück. Das Team ist gut aufeinander abgestimmt, eine gute Mischung aus Routine (Harder, Junge, Boye, Veje, Nadim) und großen Talenten (Kühl, Svava, Thomsen, die Holmgaard-Zwillinge). Von den drei Teams, die in dieser Gruppe um den Aufstieg spielen dürften, hat Dänemark vermutlich nicht ganz die Breite in der absoluten individuellen Spitzen-Qualität, dafür mit Sicherheit die wenigsten Sorgen im Vorfeld des Turniers.
Für Finnland wird jeder Punkt ein Erfolgserlebnis sein. Der Halbfinalist von 2005 kommt mit einem sehr hölzernen Stil daher, es fehlt der Punch nach vorne und auch die Einzelspielerinnen, die auf EM-Niveau ein Spiel alleine gewinnen können. Nach drei zum Teil recht deutlich verpassten Endrunden hintereinander ist es für Finnland ein Erfolg, überhaupt dabei zu sein. Der Kern der Helmarit spielt in der schwedischen Liga, die in den letzten Jahren ziemlich deutlich in die zweite Reihe in Europa abgerutscht ist.
Gruppe C: NED, SWE, SUI, POR
Der Titelverteidiger aus den Niederlanden kommt mit Bauchweh zum Turnier. Der Start in die Amtszeit von Neo-Bondscoach Mark Parsons war eine Katastrophe, die ersten paar Spiele im Herbst 2021 sollten noch in Doppelfunktion zu seinem Job bei den Portland Thorns passieren, prompt verpasste er den ersten Transatlantik-Flug und damit das erste Match. Aus der zunehmend zurückgenommenen Spielweise in den letzten Jahren unter Vorgängerin Sarina Wiegman wurde wieder ein Brutalo-Pressing, was aber die langsame Abwehrreihe entblößt hat.
Dazu kam die Verletzung von Danielle van de Donk, die zwar rechtzeitig zum Turnier fit wurde, aber die ein halbes Jahr keinen Einsatz hatte. Auch Lieke Martens schleppte sich von einem Wehwehchen zum nächsten. Die schnelle, aber technisch limitierte Shanice van de Sanden hat Parsons gar nicht erst berücksichtigt. Dazu kam im Vorfeld die Unruhe um das WM-Qualispiel gegen Weißrussland, das der KNVB wegen der Ukraine-Invasion zunächst boykottierte und das dann direkt vor der EM doch nachgetragen werden musste.
Die erste Elf unterscheidet sich nicht sehr von jener, die 2017 den EM-Titel geholt hat, 2019 im WM-Finale war und 2021 ein Olympia-Turnier gespielt hat, das offensiv grandios und defensiv (wegen der Verletzung von Sherida Spitse) ein Desaster war. Die zweite Kaderhälfte besteht aus vielen jungen, nachrückenden Kräften ohne internationale Erfahrung, mit der Ausnahme von Damaris Egurolla. Die Sechserin – Papa aus Spanien, Mama aus Groningen – entschied sich für Oranje und soll auf Sicht die Nachfolgerin von Spitse werden.
Die Erwartungen sind angesichts der unruhigen letzten Monate und einem 1:5 in einem Test gegen England gering, die Vorrunde muss aber ohne Wenn und Aber überstanden werden.
In Schweden geht man dafür voll auf den Titel los. Bei Olympia letztes Jahre war man klar das beste Team und verlor das Finale im Elfmeterschießen, das Team ist de facto unverändert und es strotzt nicht nur vor Tatendrang und Selbstvertrauen, sondern auch vor Routine. Für einige verdiente ältere Kräfte könnte jedes Turnier das letzte sein: Seger und Lindahl vor allem, aber auch Sembrant, Jakobsson und Asllani sind wohl schon im letzten Drittel ihrer Karrieren.
Schweden versucht, sich möglichst kompakt zu halten, die geringen Abstände erlauben es Seger – die man, wollte man despektierlich sein, als „Immobilie“ bezeichnen kann – das Tempo mitzugehen und ihre Stärken einzubringen: Übersicht, Passgenauigkeit, Chefin. Jakobsson und Rolfö bringen den Schwung über die Außen, Kosse Asllani – die nach ihrem Abgang von Real zu Milan kaum ein gutes Haar am Management der Könglichen gelassen hat – verbindet den Block und die Offensive mit Technik und Ideen, Blackstenius ist der Brecher ganz vorne. Glas und Ericsson gehören nicht zu den flashigen Außenverteidigern, sind aber verlässlich, sorgen für die notwendige Breite ohne ein Sicherheitsrisiko zu sein.
Schweden macht nichts Außergewöhnliches, aber was das Trekronor-Team macht, macht es richtig gut. Es werden nicht die schwierigen Dinge probiert, sondern die vermeintlich einfachen Dinge auf höchstem Niveau ausgeführt. Spätestens seit der 3:0-Demontage, die Schweden bei Olympia dem US-Team beigebracht hat, ist klar, dass dieses schwedische Team jeden Gegner aus dem Stadion spielen kann. Darum wird auch bei dieser EM niemand gerne gegen Schweden spielen wollen.
Die anderen beiden Teams in der Gruppe fallen, zumindest von der Papierform her, deutlich ab. Die Schweiz hat zwar einen sehr patenten Kader zur Verfügung, die in allen Teilen recht anständig besetzt ist. Aber seit Nils Nielsen das Traineramt 2017 von Martina Voss-Tecklenburg übernommen hat, geht die Entwicklung deutlich rückwärts. Es wird viel nebeneinander her gespielt, die defensive Absicherung funktioniert überhaupt nicht – im Februar lief man in ein 0:3 gegen Österreich, 0:4 gegen England, 0:7 gegen Deutschland. In der laufenden WM-Qualifikation ist man nach einem 1:1 in Rumänien auch schon am nachhecheln.
Portugal war 2017 der Überraschungs-Teilnehmer, hat sich ordentlich gewehrt und gegen Schottland sogar einen Sieg eingefahren. Seither kämpft man seriös um zweite Qualigruppen-Plätze mit, hat im Playoff für diese EM eigentlich 0:1 und 0:0 gegen Russland verloren, rückte durch den russischen Ausschluss aber doch nach. In der Heimat wird halbwegs vernünftig investiert, Benfica qualifizierte sich sogar für die Gruppenphase der Women’s Champions League, trotze dort Bayern ein 0:0 ab und gewann beim schwedischen Meister Häcken. Bei bei Benfica im Europacup wird Portugal versuchen, sich anständig zu verteidigen; im Normalfall passiert das in einem 4-3-3, und wie beim Algarve Cup beim 2:0 über Norwegen Nadelstiche zu setzen. Nicht mehr dabei ist Star-Spielerin Claudia Neto, die letztes Jahr aus dem Team zurückgetreten ist.
Gruppe D: FRA, ITA, BEL, ISL
Während man bei den meisten Teilnehmern um ein gutes Betriebsklima bemüht ist – nona – ist die Lage bei Frankreich ein wenig anders. In den letzten Jahren nahmen die persönlichen Kleinkriege von Teamchefin Corinne Diacre mit ihren Spielerinnen deutlich breiteren Raum ein als die spielerische Entwicklung. Rekord-Torschützin Eugenie Le Sommer und Spielgestalterin Amandine Henry gehören nicht zum Aufgebot, aber ein gutes Verhältnis wird Diacre mit keiner Lyon-Spielerin nachgesagt.
So spielt nun Charlotte Bilbault statt Henry im Zentrum, „sie hat auf dem Feld mehr zu bieten“, erklärt Diacre, was wunderlich tönt: Henry hat sechsmal den Europacup gewonnen, einmal die US-Meisterschaft, war das Um und Auf des französischen Teams. Bilbault ist nur ein halbes Jahr jünger als Henry, hat kaum eine Handvoll Europacup-Spiele, war nie bei Lyon oder PSG und fällt auch im Frankreich-Trikot nicht groß auf.
Das aufbrausende und gefühlskalte Naturell von Diacre hat nicht dabei geholfen, dass aus der Unzahl an guten Spielerinnen, die zur Verfügung stehen, ein fließend agierendes Team würde. Die Abwehr mit Renard und Mbock-Bathy oder Tounkara ist Weltklasse, die Flügel mit Diani und Cascarino top besetzt, der Angriff mit Marie-Antoinette Katoto, einer der besten Vollstreckerinnen der Welt, endlich auch. Und doch tendiert Frankreich dazu, ein wenig in die Einzelteile zu zerbrechen, dass es viel um individuelle Klasse geht, aber keine Einheit besteht – das eher mittelgut besetzte Mittelfeld-Zentrum kann da auch keine Impulse geben.
Frankreich hat es in den letzten zehn Jahren immer geschafft, weniger aus einem Turnier herauszuholen, als der Kaderqualität entsprechen würde – 2011 hat Frankreich zum letzten Mal ein Viertelfinale überstanden, gleichzeitig hat Lyon seit 2011 acht von zwölf möglichen Europacup-Titeln geholt.
Dort ist der Klubfußball aus Italien noch nicht, aber immerhin hat Juventus in der abgelaufenen Europacup-Saison den 2021er-Finalisten Chelsea eliminiert und hat im Viertelfinale nur knapp gegen Lyon den Kürzeren gezogen. Der Einzug ins WM-Viertelfinale 2019 kam ein wenig aus dem Nichts, diese EM ist nun der Lackmustest für Italien: Inwieweit lassen sich die Investitionen auf Klubebene – wo Juventus seit einigen Jahren der Primus ist, aber auch Vereine wie Roma und Milan dem Vorbild von Pionier Fiorentina gefolgt sind – wert ist.
Denn die Spielerinnen sind überwiegend immer noch dieselben. Das 4-4-2 hat sich eher zu einem 4-1-4-1 ausgewaschen, mit nur noch einer echten Spitze, dafür rückt Arianna Caruso – eine der wenigen jungen, neuen Kräfte – gerne von der Acht nach vorne. Die starke Seite ist ganz klar die linke mit Boattin und Bonansea; die Abwehr ist routiniert und okay, aber nicht ganz Top-Top-Klasse. Das Spiel gegen den Ball hat Italien intus, das Spiel mit dem Ball ist ein wenig eindimensional und vorhersehbar.
Italien ist routiniert und clever, schwierig aus der Ruhe zu bringen und hält eine gute Balance. Auf dem Papier sollte man stark genug sein, um aus der Gruppe rauszukommen. Man kann an einem guten Tag Frankreich auf jeden Fall fordern, ein ideenarmes Anrennen gegen eine isländische Mauer und ein Aus in der Vorrunde sind aber ebenso denkbar. Für das Standing des Frauenfußballs in Italien und die Aufbruchstimmung, die in den letzten Jahren geschürt wurde, wäre ein ordentliches Turnier aber in jedem Fall hilfreich.
„Bei uns hat das ganze Land so viele Einwohner wie eine einzige Straße in Berlin, und doch sind wir wie Deutschland ins Viertelfinale gekommen“, feixte Margret-Lara Viðarsdóttir bei der EM 2013 und es spricht einiges dafür, dass Island das auch 2022 schaffen kann – selbst 2017, als Island alle drei Spiele verlor, wurde man massiv unter Wert geschlagen. Bei der vierten EM-Teilnahme in Folge ist in Teilen auch erstmals eine wirklich neue, junge Generation auf dem Feld, die das isländische Team auch in Zukunft tragen können sollte.
Im Zentrum des zu erwartenden 4-1-4-1 regiert zwar die Erfahrung mit Sara-Björk Gunnarsdóttir (lange Lyon, zuletzt Babypause), Dagný Brynjársdóttir (lange Portland, zuletzt West Ham) und hinter ihnen Gunnhildur Jónsdóttir (seit Jahren in der NWSL). Aber die in Deutschland ansässige Flügelzange mit Sveindis Jónsdóttir (Wolfsburg) und Karólina Vilhjálmsdóttoir (Bayern) kann aufzeigen und die Abwehr steht in der Regel recht sicher. Island zuzusehen wird zwar vermutlich nicht besonders anregend sein, kann aber für jeden Gegner zu einem unangenehmen Unterfangen werden.
Ein unangenehmes Unterfangen schließlich könnte die ganze EM für Belgien werden. Auf dem ordentlichen Premieren-Auftritt von 2017 folgte der Einbau vieler neuer Spielerinnen – von damals sind nur noch vier, fünf Akteure übrig – aber viel im Sinne von spielerischen Elementen ist nicht addiert worden. Ives Serneels, seit über einem Jahrzehnt als Trainer für das Team verantwortlich, hat Belgien auf vorzeigbarem Niveau konsolidiert, Schritte nach vorne bleben aber aus.
Die Red Flames sind gegen den Ball besser als mit ihm, das System ist ein asymmetrisches Mittelding aus 4-4-2 und 4-3-3, in dem eine Flügelspielerin (Dhont rechts, Biesmans links) situativ in die vorderste Reihe aufrückt. Zu viel hängt aber an der Person von Tessa Wullaert, die ihren Zenit schon überschritten hat, und an Tine de Caigny, die bei Hoffenheim eine starke Saison an der Seite von Nici Billa hinter sich hat. Wie in vielen anderen Ländern auch ist das Engagement und die öffentliche Sichtbarkeit in Belgien in den letzten Jahren besser geworden, auf dem Feld sieht man davon derzeit aber nicht sehr viel.