Eine Weltmeisterschaft, das war immer auch ein Treffen der Weltanschauungen. Die spielerischen Brasilianer, die giftigen Argentinier und die bärbeißigen Urus aus Südamerika. Dazu die athletischen Deutschen, die disziplinierten Italiener, die kampfstarken Engländer, die schöngeistigen Holländer und die permanent unter Wert geschlagenen Spanier. Dazu ein paar lustige, aber chancenlose Farbtupfer von anderswo her. In den 1990er-Jahren aber weichte dieses Bild aber zunehmend auf. Außenseiter aus allen Kontinenten stießen plötzlich in ungeahnte Gefilde vor. Die Fußballwelt globalisierte.
1994 – Auf zu neuen Ufern
Bei der 15. Endrunde betrat man erstmals geographisches Neuland – bis dahin hatte die WM immer in Europa oder Lateinamerika stattgefunden. Das Globalisierungsdenken der FIFA führte dazu, dass man Fußball-Entwicklungsland USA das Turnier veranstalten lässt, einem Land, das neun Jahre nach dem Ende der NASL nicht mal eine eigene Liga hatte, das seit 44 Jahren kein WM-Spiel gewonnen hatte und 1990 erstmals nach 40 Jahren überhaupt dabei war. Dennoch war der Zuschauer-Zuspruch enorm, der Schnitt von 69.000 pro Match wurde nie wieder auch nur annähernd erreicht. Es hat aber auch sonst kein Land eine derartige Masse an Riesen-Arenen, der NFL sei Dank.
Und waren es bislang immer nur einzelne Außenseiter, die im Turnierverlauf weit kommen, startete nun die Zeit, in der das zum Massenphänomen wurde. Natürlich auf Kosten der arrivierten Teams. Argentinien etwa wurde durch Diego Maradonas positiven Dopingtest nicht stärker, blieb im Achtelfinale hängen – an Rumänien. Top-Favorit Deutschland schwächte sich durch die Stinkefinger-Affäre von Stefan Effenberg selbst, scheiterte im Viertelfinale – an Bulgarien. Kolumbien, als Mitfavorit zur WM gefahren, überstand nicht einmal die Vorrunde und Verteidiger Andres Escobar wurde zehn Tage nach seinem Eigentor gegen die USA in der Heimat umgebracht. Andererseits kamen krasse Außenseiter mit gutklassigen Kadern und Spielern, die in ganz Europa verstreut spielten, sehr weit – wie die Semifinalisten Schweden und Bulgarien, wie Viertelfinalist Rumänien. Die Zeiten, in denen nur Nationalmannschaften aus Ländern mit starken Ligen erfolgreich sein konnten, war vorbei, weil nun auch die Kicker aus anderen Ländern in diesen guten Ligen spielten.
Nur zwei „Große“ hatten die Viertelfinals überstanden, und letztlich trafen sich Brasilien und Italien dann auch im Finale. Die Azzurri unter Arrigo Sacchi spielten jenes kompakte Raumdeckungs-Spiel, mit dem das große Milan unter Sacchi so erfolgreich war. Bei Brasilien wurde der etatmäßige Kapitän Raí schon in der Vorrunde wegen Verhaltens-Auffälligkeiten rasiert. Carlos Alberto Parreira ließ ein zutiefst un-brasilianisches Spiel spielen, pragmatisch, sichere Defensive, nichts zulassen. Die Folge war ein Finale, das sich zog.
120 Minuten lang kaum eine echte Torchance produzierte. Und so das erste WM-Finale wurde, das im Elfmeterschießen entschieden wurde. Nach dem Fehlschuss von Roby Baggio jubelte die Seleção über den vierten Titel. Dass Carlos Dunga, der wegen seiner taktischen Disziplin „der Deutsche“ genannt wurde, Kapitän dieses Teams war, war kein Zufall.
1998 – Intervention von oben
Auf der Bank saß beim Triumph in der Rose Bowl bereits ein 17-jähriger Nachwuchsstürmer, der vier Jahre später der große Star des Turniers in Frankreich werden sollte: Ronaldo. Mit Mario Zagallo hatte der Weltmeister-Trainer von 1970 das Ruder wieder übernommen und von einer (bedeutungslosen) Niederlage im letzten Gruppenspiel gegen Norwegen abgesehen ging zunächst auch alles glatt. Was man von anderen nicht behaupten konnte, setzte sich doch der schon in Amerika begonnene Trend der starken Außenseiter und der schwächelnden vermeintlichen Top-Teams fort.
Spanien etwa blieb nach einer Pleite gegen Nigeria schon in der Vorrunde kleben, die Deutschen würgten sich ins Viertelfinale und wurden dort von Kroatien zerlegt, England spielte einen schönen Mist und musste nach Beckhams Auszucker im Achtelfinale auch früh heim. Dafür zeigte Dänemark herzerfrischenden Fußball und brachte Brasilien im Viertelfinale an den Rand der Niederlage, butterte Kroaten bei der ersten WM-Teilnahme als eigener Staat auf, wirbelte sich ins Halbfinale und führte dort sogar
Bei Gastgeber Frankreich war der störrische Teamchef Aimé Jacquet schon vor dem Turnier ein Feinbild der Medien, weil der Erz-Pragmatiker Weltklassespieler wie Eric Cantona und David Ginola nicht berief und er stattdessen auf eine gut zusammengeschweißte, aber auch irgendwie langweilige Truppe setzte. Verlängerung gegen Paraguay, Elferschießen gegen Italien, purer Wille gegen Kroatien – aber man schaffte es ins Finale.
Vor dem Ronaldo einen epileptischen Anfall erlitt, er daher auch von Zagallo nicht in die Start-Elf berufen wurde, zur allgemeinen Verwirrung. Es muss Druck von oben gegeben haben – Verband? Nike? Vielleicht sogar die FIFA? – jedenfalls spielte Ronaldo dann doch. Oder besser: Er war auf dem Platz, taumelte aber mehr nur über das Spielfeld und war von seiner Top-Form, die er beim Turnier zeigte, meilenweit entfernt.
Mit de facto zehn Mann am Platz und mit ihrem Besten im Grunde nicht involviert fand Brasilien keine Antwort auf die beiden Kopfballtore, die Zinedine Zidane jeweils nach Eckbällen erzielte. So gewann der aufstrebende Star seiner Zeit nach verlorenen Europacup-Finals 1996, 1997 und 1998 nun doch endlich mal was Großes. Nicht mal Marcel Desaillys Ausschluss halb durch die zweite Hälfte konnte daran etwas ändern und Emmanuel Petit sorgte in der Nachspielzeit den 3:0-Endstand. Frankreich war der erste neue Weltmeister seit 20 Jahren.
2002 – Sportliches Chaos
Die Equipe Tricolore dominierte in den Jahren danach den europäischen Fußball, wurde als klar beste Mannschaft des Turniers 2000 Europameister. In der Tat hieß es vor der WM 2002 in Japan und Südkorea – wieder betrat man mit der ersten Endrunde in Asien Neuland – dass nur zwei Teams Weltmeister werden können, weil sie um so viel besser sind als alle anderen: Frankreich und Argentinien.Schon im Achtelfinale aber war keines der beiden Teams übrig.
In einer WM, die man nicht nach rationalen Gesichtspunkten erklären kann. Japan und Südkorea, zwei historische Feinde, wurden zusammengespannt, aber jeder wollte eigentlich seine eigene WM haben. So kam jedes der beiden Länder mit zehn modernen Stadien daher – also 20 Arenen für die 64 Spiele. Durch die extreme Klub-Saison in Europa mit der Zwischenrunde in der Champions League, durch den ungewöhnlich frühen Start der WM bereits im Mai und durch die hohe Hitze und die Luftfeuchtigkeit waren alle Prognosen schnell für die Würste.
Neben Frankreich und Argentinien war auch EM-Halbfinalist Portugal schon nach der Vorrunde draußen, eine seltsam leblose italienische Auswahl nach dem Achtelfinale, mit der Folge, dass Perugia-Präsident Gaucci den bei ihm angestellten Ahn Jung-Hwan, dessen Tor Italien besiegt hatte, feuern wollte. Dafür trumpften Außenseiter auf. Der Senegal etwa, der Frankreich im Eröffnungsspiel besiegt hatte, eine davor und danach im Weltfußball absolut inexistente Mannschaft, kam ins Viertelfinale. Die Türkei, die eine der aufregendsten Mannschaften waren, kamen ins Halbfinale, ebenso wie Co-Gastgeber Südkorea (wenn auch mit ein wenig Hilfe der Referees), ein ausgesprochen biederes US-Team hatte im Viertelfinale Deutschland am Nasenring durchs Stadion gezogen und verlor mit sehr viel Pech 0:1.
In Deutschland hatte man im Vorfeld angesichts der nicht vorhandenen Klasse diskutiert, ob man überhaupt nach Asien fliegen und sich die Blamage des allseits erwarteten Vorrunden-Aus überhaupt antun sollte, Brasilien spielte eine Katastrophen-Quali, verschliss dabei zwei Trainer und erst Luiz Felipe Scolari brachte Ruhe rein und den RoRiRo-Angriff mit Ronaldo, Rivaldo und Ronaldinho so richtig zum funktionieren. Dass sich Kapitän und Mittelfeld-Stratege Emerson bei einem Jux-Kick im Training, wo er aus Gaudi als Torwart agierte und dabei die Schulter auskegelte, hatte angesichts des puren Chaos dieses Turniers keine aufhaltende Wirkung.
Vor allem, weil Ronaldo nach einer Serie von schweren Verletzungen und nach Jahren des Leidens ein nicht mehr für möglich gehaltenes Comeback feierte. Er traf in jedem einzelnen WM-Spiel und profitierte auch davon, dass sich der einzige Grund für die Final-Teilnahme der deutschen Mannschaft – der überragende Torhüter Oliver Kahn – seinen ersten echten Fehler bei diesem Turnier für die 67. Minute des Finales aufgehoben hatte. Kahn ließ, nachdem Deutschland auch ohne den gelbgesperrten Michael Ballack eine erstaunlich gute Figur gemacht hatte, einen Schuss von Rivaldo prallen und Ronaldo staubte ab. Elf Minuten später ließ Rivaldo für Ronaldo durch, dieser zog ab, das 2:0. Die Entscheidung, der fünfte Titel für Brasilien und die persönliche Wiedergutmachung für Ronaldo.
2006 – Sommermärchen
In Deutschland passierten 2006 drei erstaunliche Dinge, mit denen nach den Erfahrungen der Vergangenheit nicht unbedingt zu rechnen war. Zum einen, dass das Team des Gastgebers nach wenigen guten, aber ziemlich vielen ziemlich schlechten Turnieren seit dem Titel 1990 plötzlich wieder ein ernst zu nehmender Faktor war, den man sich angesichts der flotten Spielweise auch gut ansehen konnten. Zweitens, dass das im Land der Humorlosen und Stocksteifen so etwas wie einen neuen Patriotismus auslöste, bei dem man sich nicht gleichzeitig für den 2. Weltkrieg entschuldigen muss – Stichwort „Sommermärchen“.
Und drittens, dass es plötzlich mit allen anderen sportlichen Überraschungen vorbei war. Zwei Jahre davor hatte Griechenland noch die Europameisterschaft gewonnen, aber nach den vielen Mittelklasse-Teams in Viertel- und Halbfinals bei den drei WM-Turnieren davor lief nun wieder alles erstaunlich nach Plan. Schon im Viertelfinale war nur noch ein einziges Team dabei, das man dort vor dem Turnier nicht unbedingt erwartet hatte, und die Ukraine haben auch nur aufgrund einer günstigen Auslosung und eines Elferschießen-Sieges gegen die Schweizer im Achtelfinale dorthin. Und war beim 0:3 gegen Italien auch chancenlos. Doch sonst war alles irgendwie wie früher: Den Teams, die in der Vorrunde aufgeigen (diesmal: Argentinien, Spanien) ist ein frühes Aus beschieden. Den Teams, die langsam loslegen (diesmal: mal wieder Italien und ganz extrem Frankreich) gehören die entscheidenden Spiele. So beendete Italien mit Toren in den Minuten 119 und 122 die Finalhoffnungen der Gastgeber und in Zidanes letztem Turnier ein Elfer im Halbfinale die Finalhoffnungen von Figo in seinem letzten Turnier.
Wie schon 1982 kam Italien mit einem Serie-A-Skandal im Rücken zur Endrunde, und wie 1982 war es auch ein davon ausgelöstes „Jetzt-Erst-Recht“-Gefühl, das die Mannschaft immer mehr zusammen schweißte. Im Finale brachte ein frühes Gegentor von Zidane aus einem unter die Latte gezitterten Elfer Italien auch nicht aus der Ruhe, wenige Minuten später glich Innenverteidiger Materazzi nach einer Ecke aus.
Bei diesem 1:1 blieb es auch lange, bis in die Verlängerung, bis auch zu jenem Zeitpunkt, an dem sich Zidane vom nicht gerade mit Universitäts-Diploma überhäuften Materazzi provozieren ließ und zum Stier wurde, der seinen Gegner per Kopfstoß in die Brust fällte. Die rote Karte für Zidane in seinem letzten Spiel, einem WM-Finale, gab zwar ein emotionales Bild ab, als er am bereitstehenden Pokal vorbei in die Katakomben schlich, hatte aber für den Ausgang des Spiels bzw. des Elferschießens keine Auswirkung. Zidane wäre im Shoot-Out als letzter Franzose drangewesen. Dazu kam es nach Trezeguets Lattenschuss aber nicht mehr. Italien war Weltmeister.
2010 – Öööööööööööööööööööööööö
Sepp Blatter war beleidigt. Der FIFA-Boss hätte schon 2006 die WM gerne in Südafrika gesehen, das Exekutiv-Komitee machte ihm aber einen Strich durch die Rechnung. Also erfand sich der Blatter-Sepp ein wunderbares Prinzip, um seinen Willen durchzusetzen: Die Kontinental-Rotation. Blatter sagt, für die WM 2010 dürfen sich nur afrikanische Länder bewerben. Prompt bekam er mit Südafrika seinen Wunsch. Und nachdem auch endlich Südamerika 2014 wieder eine WM bekam, mit Brasilien als einzigem Bewerber (die wohl langweiligste Host Selection ever), war’s mit der Kontinental-Rotation auch schon wieder vorbei.
Schnell vorbei war die WM 2006 ja für Brasilien gewesen, man agierte wie eine Ansammlung von Feuerhydranten (eher bewegungsarm) und schied im Viertelfinale aus. Für das Turnier in Südafrika sollte Carlos Dunga die richtige Mischung aus Pragmatismus und Angriff finden – umsonst, wieder war im Viertelfinale Schluss. Der andere Favorit, Europameister Spanien, setzte dafür eher auf die ultimative Form des Defensiv-Fußballs – Ballbesitz Ballbesitz Ballbesitz. Und die Zuseher in Südafrika setzten auf ihr bewährtes Mittel zur Herstellung von Stadion-Sound: der Vuvuzela. Ööööööööö.
Auch die gewöhnungsbedürfte Kulisse konnte aber nicht verhindern, dass Südafrika als erster Gastgeber überhaupt jemals die Vorrunde nicht überstand. Einige Nebengeräusche gab es auch bei Frankreich, wo die Spieler ihren Teamchef Domenech, der ihnen mit seiner schrulligen, esoterischen und gleichzeitig überstrengen Art schon seit Jahren mächtig auf den Sack gegangen war, boykottiertern. Deutlich unspektakulärer war da schon das Vorrunden-Aus von Titelverteidiger Italien. Man war einfach nicht gut genug.
Das Turnier verlief weitgehend pannenfrei (wenn man vom englischen Torhüter Rob Green absieht) und es gab auch wieder die eine oder andere Überraschung, allen voran Uruguay. Das kleine Land zwischen Argentinien und Brasilien, das zuletzt über 50 Jahre davor so etwas wie echte fußballerische Relevanz hatte, schaffte es angetrieben von Diego Forlán und der Handarbeit von Luis Suárez bis ins Halbfinale. Auch mit Ghana und Paraguay unter den letzten Acht konnte man nicht unbedingt rechnen. So sehr das Turnier aber lange ein Festival der südamerikanischen Teams war – nur eines der 14 Vorrunden-Spiele verlor das CONMEBOL-Quintett und auch im Achtelfinale flog man nur gegen Seinesgleichen aus dem Turnier – trafen sich im Finale dennoch mit Europameister Spanien und mit Holland zwei euopäische Teams. Womit erstmals ein solches außerhalb des eigenen Kontinents Weltmeister wurde.
Im Endspiel tat Oranje dann alles, um das mühsam über Jahrzehnte aufgebaute Image des schöngeistigen Angriffs-Fußballs in Rekordzeit zu zerstören. Man trat auf alles ein, was sich nicht rechtzeitig aus dem Staub machen konnte, Nigel de Jong durfte trotz eines Kung-Fu-Tritts gegen Xabi Alonso weitermachen, insgesamt verteilte Referee Webb zehn gelbe Karten alleine gegen Holland, davon zwei gegen John Heitinga. Spanien behielt aber immer den Kopf oben, ließ sich nicht zu Revanche-Fouls hinreißen und wurde dafür belohnt, indem Arjen Robben alleine auf Casillas zulaufend vergab.
Als man sich schon auf ein Elfmeterschießen nach 120 torlosen Minuten eingestellt hatte, traf Andrés Iniesta nach 116 Zeigerumdrehungen doch noch zum Sieg. Womit Spanien der erste Premieren-Weltmeister seit Brasilien 52 Jahre davor wurde, der den ersten Titel nicht im eigenen Land eingefahren hat. Einen neuen Weltmeister kann es 2014 auch geben. Aber ein neuer Weltmeister mit Heimvorteil? Das geht sich nicht aus.