Natürlich: Wer nur auf das Tempo, die Athletik oder allgemein das, um es mal platt zu formulieren, Offensichtliche schaut, wird mit dem Frauenfußball nie eine Herzensbeziehung eingehen. Darum versuchen wir es vor der Europameisterschaft in Schweden mal mit Inhaltlichem. Mit Taktischem. Mit etwas Hintergrund-Information. Denn wer mit einem Mindestmaß an Wissen um die Personen, die Teams, die Leiungsstärken im Vergleich zur Konkurrenz, ihre Stärken und Schächen in ein Turnier geht – auch als Zuseher – der ist schon mal grundsätzlich im Vorteil.
Hier also: Acht Fragen und acht Antworten zu Schweden 2013.
1.: Wird’s Deutschland zum 6. Mal in Folge?
Die einfachste Antwort wäre „Ja“. Die Buchmacher sagen zumindest „Wahrscheinlich“. Die Eindrücke der letzten zwei bis drei Jahre aber sagen, vor allem mit Blick auf Frankreich, nur „Gut möglich“. Hinzu kommt eine schon fast unheimliche Ausfalls-Serie.
Verena Faißt, die derzeit wohl beste Linksverteidigerin der Welt? Pfeiffer’sches Drüsenfieber, fehlt. Babett Peter, verlässliche Linksverteidigerin und gesetzt seit vielen Jahren? Kahnbeinfraktur, fehlt. Alex Popp, Alternative in der Spitze und am linken Flügel? Knöchel bedient, fehlt. Linda Bresonik, fix vorgesehen für die rechte Angriffsseite? Achillessehne entzündet, fehlt. Kim Kulig, Stammkraft im zentralen Mittelfeld? Immer noch Probleme mit dem vor zwei Jahren im WM-Viertelfinale gerissenen Kreuzband, fehlt. Viola Odebrecht, Routinier im offensiven Mittelfeld? Meniskusriss und Knorpelschaden, fehlt auch.
Bezeichnend, dass bei einem Image-Spot beim letzten Test, dem 4:2 gegen Japan vor 46.000 Zusehern in der Allianz Arena, von den drei Spielerinnen, die über die Vidiwall ihre Message abgaben, zwei (Kulig und Popp) nicht dabei sein werden und eine nach einem Innenbandriss gerade noch rechtzeitig fit wurde (Krahn).
Da Deutschland, neben Olympiasieger USA, das weltweit größte Reservoir an Spielern hat, ist das in der Kadertiefe immer noch kein Problem, Bundestrainerin Silvia Neid wird immer eine personell gute Mannschaft aufbieten können. Sie muss aber sehr wohl innerhalb des Teams ein wenig umschichten und Spelerinnen an Positionen einsetzen, an denen sie ihre Stärken nicht optimal ausspielen können.
Vor allem der Ausfall der kompletten linken Seite zwang zum Umbau. Statt Peter, Faißt und auch Popp (die alle LV spielen können) muss mit Jennifer Cramer die vierte Wahl aushelfen. Auf den Außen-Positionen im Mittelfeld kommen zwei gelernte Mittelstürmerinnen zum Einsatz – bei Anja Mittag noch nicht so ein Problem, weil die das schon öfter gemacht hat, aber Bayern-Angreiferin Lena Lotzen spielt ziemlich out of Position.
Vom System her hat sich das 4-2-3-1, das in den letzten Jahren DFB-Standard wurde, schon wieder ziemlich deutlich zu einem 4-4-2 ausgewaschen. Darin machen die zwei Viererketten gegen den Ball den Raum extrem eng und die beiden Spitzen stehen kaum 25 Meter vor der Abwehrkette.
Ob Dzenifer Marozsán wirklich am besten ist, wenn sie als de facto zweite Spitze neben Célia Okoyino da Mbabi spielt, ist zumindest Geschmackssache – tendenziell dürfte sie aufgrund ihrer enormen Übersicht und ihrem Blick für den guten Pass und für sich öffnende Räume aber womöglich auf der Acht besser aufgehoben sein.
Unstrittig ist aber, dass Abwehr-Chefin Saskia Bartusiak überhaupt nicht damit umgehen kann, angepresst zu werden (wie es Frankreich in den letzten Test-Begegnungen tat). Unstrittig ist auch, dass Leonie Maier, die sich auf der Zielgeraden zur EM den Rechtsverteidiger-Posten von Bianca Schmidt gekrallt hat, eine unglaubliche Waffe in der Vorwärtsbewegung ist – aber extreme Schwächen im schnellen Umschalten von Offensive auf Defensive hat.
2.: Was spricht für, was gegen Frankreich?
Erster Herausforderer ist Frankreich. Unter Bruno Bini hat sich das Team in den letzten Jahren in der Weltspitze etabliert, im Endeffekt aber noch nichts gewonnen. Das war bei aller Klasse die Schwäche: In wichtigen Spielen ging’s oft schief. Vor zwei Jahren bei der WM als bessere Mannschaft das Halbfinale gegen die USA und dann als bessere Mannschaft das kleine Finale gegen Schweden verloren. Letztes Jahr bei Olympia zwar Schweden besiegt, aber dann im Semi gegen Japan und im Bronze-Spiel gegen Kanada verloren – wieder nur Platz vier.
Frankreich und Deutschland testeten seit dem Olympiaturnier zweimal gegeneinander, beide Spiele endeten in für Deutschland schmeichelhaften Unentschieden. Die Equipe Tricolore traute sich, die deutsche Defensive Vollgas anzupressen und wurde mit billigen Ballgewinnen und leichten Toren belohnt. Im Aufbau versucht man zumeist, auf spielerischem Weg nach vorne zu kommen.
Verdeutlicht wird das durch die Maßnahme, Camille Abily von der Zehn (wie vor der WM) bzw. vom Flügel (wie bei und unmittelbar nach der WM) auf die Acht zu stellen. Dafür opferte Bini eine der eher zurückhaltenden Sechser (also Élise Bussaglia). Gemeinsam mit der technisch starken Louisa Nécib verleiht sie dem Team gutes Passspiel nach vorne.
Bini ekelte nach Olympia Linksverteidigerin Sonia Bompastor aus dem Team, ansonsten ist die Mannschaft aber seit Jahren personell praktisch unverändert und damit perfekt aufeinander eingespielt. Was man aber nicht außer Acht lassen darf: Es gibt praktisch keine Alternativen. Élodie Thomis könnte statt Le Sommer auf dem Flügel spielen, mit Élise Bussaglia (DM) und Ophélie Meilleroux (IV) gibt es noch routinierte, aber langsame Optionen; Amandine Henry (ZM) könnte zur Not statt Abily spielen – aber das war’s. Fallen Schlüsselkräfte wie Renard, Franco oder Nécib aus, hat Frankreich ein großes Problem.
Größter sportlicher Schwachpunkt auf dem Feld ist wohl die Position ganz vorne. Marie-Laure Delie ist nicht gerade die Torgefährlichste. Eine Sturmspitze wie Lotta Schelin oder Célia Okoyino da Mbabi, und Frankreich wäre der ganz klare Titel-Favorit.
Größter sportlicher Vorteil auf dem Feld ist dafür die personelle Blockbildung: Bouhaddi, Franco, George, Renard, Abily, Le Sommer und Nécib spielen alle bei Lyon – in den letzten vier Jahren immer im CL-Finale, zweimal gewann man dieses.
3.: Kann Gastgeber Schweden Europameister werden?
Grundsätzlich schon, es müsste aber viel zusammenpassen. Beim Spielplan hat man schon mal dafür gesorgt, dass man nicht über Deutschland UND Frankreich drübermüsste – diese beiden Teams treffen sich, geht alles nach der erwartbaren Papierform, schon im Semifinale. Die Spiele mit Schweden-Beteiligung sind alle ausverkauft, an der Unterstüzung von den Rängen wird es also nicht fehlen.
Dafür fehlt es dem Team eindeutig an der Klasse von Deutschland und Frankreich. Die wenigsten Sorgen gibt es vorne – mit Lotta Schelin hat man eine der profiliertesten Stürmerinnen vorne drin, mit Kosse Asllani eine talentierte Nebenfrau. Aber sonst… Die Außenverteidigerinnen – aufgepasst im Übrigen auf die Weitschüsse von Sara Thunebro – neigen dazu, gegen den Ball zu weit einzurücken. Ein Relikt aus der Zeit von Thomas Dennerby, dass die aktuelle Teamchefin Pia Sundhage nicht ganz wegbrachte. Das ist deshalb ein Problem, weil Josefine Öqvist und Antonia Göransson auf den Flügeln die Aufgabe haben, vorne das Sundhage’sche Pressing-Spiel zu erfüllen.
Dazu ist in der Vorwärtsbewegung Caroline Seger im zentralen Mittelfeld zwar fähig, aber oft zu zögerlich. Dem Mangel an Spielaufbau versucht Sundhage auszugleichen, indem sie Sechser Nilla Fischer, die Frau mit der eigenwilligen Frisur, zur Innenverteidigerin umschulte. Das ist gut für die Spieleröffnung, aber ein Risiko in der Abwehr, wie sich beim Algarve Cup zeigte. Wo Sundhage auch Torfrau Kristin Hammarström heftig kritisierte. Weil Einsergoalie Hedvig Lindahl aber verletzt fehlt, wird Hammarström dennoch spielen.
4.: Ist ein Überraschungs-Sieger denkbar?
Nein. Am ehesten hätte es wohl England drauf, aber der Finalist der letzten Europameisterschaft in Finnland müsste seine Vorrunden-Gruppe schon vor Frankreich abschließen, um nicht im Viertelfinale schon gegen Deutschland ran zu müssen. Spätestens im Halbfinale würde sich das DFB-Team aber nicht verhindern lassen. Das 1:4 im letzten Test gegen Schweden, bei dem man vorne harmlos und hinten katastrophal war, macht aber ohnehin nicht viel Hoffnung.
Wenn schon, dann hätte eher der vermutliche Halbfinal-Gegner von Schweden eine Chance – also, sofern alles normal abläuft, Norwegen. Auch Italien und Dänemark können sich auf den quasi „verbleibenden“ vierten Halbfinalplatz Hoffnungen machen. All diese Teams bräuchten aber ein mittleres Wunder, um tatsächlich Schweden zu besiegen UND dann auch noch im Finale gegen Deutschland oder Frankreich etwas reißen zu können.
Finnland fehlt Goalgetter Sällström und Kapitänin Maija Saari, dürfte in der Gruppe A gegen Schweden, Dänemark und Italien kaum etwas holen können. Holland schlich sich per Elferschießen-Sieg gegen Frankreich vor vier Jahren sensationell ins Halbfinale – die K.o.-Runde ist auch diesmal realistisch, mehr eher nicht. Wie es Island schaffte, dass nur ein Tor im letzten Quali-Spiel zur Direktqualifikation gegenüber Norwegen fehlte, ist ein Mysterium. Beim Algarve Cup fehlten zwar mit Gunnarsdóttir und Vidarsdóttir die zwei Besten, aber wie unglaublich naiv verteidigt wurde, war ein Wahnsinn. Kaum vorstellbar, dass es bei der EM nicht drei klare Niederlagen setzt.
Russland hatte schwerste Mühe, im Play-Off gegen Österreich zu bestehen und in der Gruppe Frankreich und England vor der Nase. Dazu gab’s in der Vorbereitung ein 0:5 in einem Test in Finnland und Torhüterin Elvira Todua ist mit einer Schulterverletzung zumindest gehandicapt – dafür gab’s im letzten Test einen 3:2-Sieg gegen Norwegen. Alles nicht so einfach zu deuten. Und Spanien ist nur dank eines Tores in der 123. Minute des Play-Off-Rückspiels gegen Schottland dabei. In der Quali gab’s zwar ein achtbares 2:2 gegen Deutschland, aber die Erfahrung auf dem großen Level fehlt. Gut möglich, dass selbst ein Sieg gegen Russland nicht zum Viertelfinale reichen würde.
5.: Ist Österreich dabei?
Nein, aber die ÖFB-Frauen waren so knapp dran wie noch nie. Im Play-Off gegen Russland machte man eine gute Figur, letztlich fehlte aber die Erfahrung. Besonders im Auge zu behalten gilt es bei dieser EM aus österreichischer Sicht die Teams aus Frankreich und Finnland, diese werden nämlich in der September startenden Quali für die WM 2015 in Kanada Gruppengegner sein.
6.: Wie sieht der Modus aus?
Zwölf Teams sind dabei – zum letzten Mal, denn 2017 wird das Turnier auf 16 Mannschaften aufgestockt. Die zwölf Teams teilen sich in drei Vierergruppen auf. Die jeweils Ersten und Zweiten jeder Gruppe kommen ins Viertelfinale, die zwei besten Dritten auch. Der selbe Modus kam schon bei der letzten EM 2009 in Finnland zum Einsatz.
7.: Werden die Stadien halbwegs voll sein?
Ja und nein. Die Schweden-Spiele werden alle vor ausverkauftem Haus stattfinden, die Partien von Deutschland zumindest vor halbvollem. Alle anderen Spiele drohen aber weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattzufinden – im Schnitt sind für die restlichen Partien 1.000 Karten verkauft. Trotz moderater Preise von umgerechnet etwa 20 Euro.
8.: Wo gibt’s die Spiele im TV zu sehen?
Auf Europsort – live, und zwar alle. Lediglich vier Spiele (Schweden-Finnland und die drei Parallelspiele im letzten Gruppendurchgang) werden auf Eurosport2 gesendet. Zusätzlich teilen sich ARD und ZDF die Übertragungen der deutschen Einsätze. Sobald Deutschland aber raus ist, sind auch ARD und ZDF raus.
(phe)