Die 19. Fußball-WM ist Geschichte – wir werden uns an den verdienten Weltmeister Spanien erinnern, an ein erfrischendes Team aus Deutschland, an Diego Maradonas One-Man-Show an der Seitenlinie. Aber ein bärtiger Mann mit Anzug ist keine Erkenntnis. Solche gibt es aber sehr wohl.
1. – Der Zwei-Mann-Sturm ist tot
Es hat sich in den letzten Jahren schon angedeutet, aber das Turnier in Südafrika hat es endgültig gezeigt. Es gab kaum noch Teams, die mit einem klassischen Zwei-Mann-Sturm angetreten sind, und spätestens im Achtelfinale war es um diese wenigen auch geschehen. Die USA waren da noch am nächsten am Viertelfinale dran. Trumpf ist ein einzelner Zentrumsstürmer – man kann es sich nicht mehr erlauben, einen Mittelfeld-Mann für die Angriffszentrale zu opfern, weil Überzahl im Mittelfeld nun mal absolut essenziell geworden ist. Heißt: Solo-Spitze mit verschiedensten Variationen dahinter. Etwa mit einer hängenden Spitze.
Eine weit mehr genützte Möglichkeit war aber ein nominelles 4-2-3-1, das in Wahrheit aber mehr ein 4-3-3 ist (bzw. ein 2-5-3, AVs mitgerechnet) – weil die Außenpositionen im offensiven Mittelfeld von Stürmern besetzt sind. Die Deutschen etwa haben so gespielt – ein mobiler Zentrumsstürmer (Klose), einem Zwischending aus Zehner und hängender Spitze (Özil, bei den Holländern war das Sneijder, usw.) und zwei gelernte, schnelle Angreifer als klassische Außen (Müller, Podolski). Wenn diese beiden auch noch, was natürlich klar ist, auch von ihren Außenverteidigern unterstützt werden, entsteht dadurch ein Sieben-Mann-Mittelfeld. In der Defensivbewegung sind hier alle schnell hinten, im Ballbesitz gibt es sofort sieben offensiv denkende Spieler – die drei Stürmer, der Zehner, die Außenverteidiger und auch einer der beiden Sechser als Quarterback. Der zweite lässt sich vermehrt zurückfallen. Das heißt:
2. – Der Sechser wird Aushilfs-Libero
Christian Poulsen bei den Dänen machte das oft, auffällig auch Sergi Busquets beim Weltmeister. Auch Carlos Carmona (oder wer auch immer bei den extrem flexiblen Chilenen halt den Sechser spielte) bei den Chilenen, wenn diese gegen Solo-Spitze auf Viererkette hinten umgestellt haben. Der Sechser kehrt somit immer mehr dorthin zurück, wo er hergekommen ist – auf die Libero-Position. Der erste moderne Sechser als Ballverteiler mit dem Spiel vor und den zwei Zentralverteidigern (in seinem Fall noch Manndeckern) hinter sich war Matthias Sammer und er machte Deutschland 1996 so zum Europameister.
Bei Viererketten, und das hat sich schon seit einiger Zeit angedeutet, kommt dieses Modell mit dem Offensiv-Libero immer mehr zurück, vor allem, wenn mit einer Doppel-Sechs gespielt wird. So geht der eine eben zurück zwischen die Innenverteidiger und bildet so eine flexible Dreierkette, der andere agiert weiterhin als Ballverteiler. Bestes Beispiel bei der WM eben Busquets und Xabi Alonso. Auf diese Weise können im Ballbesitz bis auf diese drei alle Mitspieler nach vorne arbeiten, im Falle eines Konters ist aber die gesamte Breite des Platzes abgesichert. Durch geschicktes Verzögern können es diese drei dann auch dem Rest des Teams erlauben, rechtzeitig zurück zu eilen.
3. – Assymetrie
Der FM4-Experte Martin Blumenau beschrieb einen Auftritt der Kroaten bei der Euro2004 folgendermaßen: „Ihr Spiel hing schief wie Bier in der Hand eines Besoffenen.“ Dieser Satz bezog sich zwar auf ein schief bestztes Mittelfeld und in diesem Fall (Videostudium dieses Spiels legt das Nahe) hatte es auch keinen taktischen Hintergedanken (und half auch nix), aber während damals Assymetrie noch im wahrsten Sinne des Wortes schräg angeschaut wurde, ist sie Anno 2010 wieder der letzte Schrei. Spanien, Uruguay, Brasilien, Paraguay, Argentinien, Algerien, in Ansätzen auch die Slowakei – schiefes Spiel ist wieder „in“.
Erklärt am Beispiel Brasilien: Robinho spielte einen klassischen Linksaußen, beschäftigte so den Außenverteidiger und den gegnerischen RM oft gleich mit. Solo-Spitze Luís Fabiano orientierte sich dabei gerne in das Robinho nahe Halbfeld. Auf der anderen Seite beackerte RM Maicon die Seite oft alleine, unterstützt vom Zehner Kaká insofern, dass dieser gerne von der halbrechten Seite kam und so entweder einen gegnerischen DM auf sich zog, oder gar der LV – und im Idealfall beide. So hatte Maicon nicht selten Platz ohne Ende für seine gefährlichen Vorstöße.
Durch dieses geplante Ungleichgewicht verfällt natürlich auch die verteidigende Mannschaft in ein solches, oft allerdings ungewollt. Weil die Seiten völlig unterschiedlich zu verteidigen sind, können die Sechser nicht einfach mal schnell Platz tauschen, weil die Aufgaben komplett andere sind. Vor allem die Brasilianer und auch die Spanier (lange mit Villa als Linksaußen) hielten die Gegner so beschäftigt. Diesen beiden konnte so kein Team über 90 Minuten standhalten (außer die Brasilianer gegen Portugal, da haben sie’s mangels Notwendigkeit und wegen vieler Umstellungen gar nicht erst wirklich probiert).
Die ganz hohe Kunst haben diesbezüglich die Spanier im Finale gezeigt, als sie mit Navas einen Rechtsaußen brachten und das assymetrische Spiel seitenverkehrt aufgezogen haben. Der überforderte LV Van Bronckhorst wurde so komplett totgespielt.
4. – Afrikanische Disziplin
Das Team aus Ghana zeigte es am Besten vor: Extreme taktische Disziplin hat, entgegen aller Klischees, natürlich längst auch bei den Mannschaften aus Afrika Einzug gehalten. Ein flexibles, aber in sich funktionierendes Mittelfeld mit drei Offensivkräften, die alle links, rechts und in der Mitte spielen können (Ayew, Asamoah und wahlweise Tagoe oder Muntari), dazu ein klassischer Sechser (Annan) und – ich gebe zu, ich hatte es ihm nicht zugetraut – mit Kevin-Prince Boateng ein free floating „fünfter Mann“, der als zweiter Sechser, Ergänzung in jeder Position der Offensivreihe, und bei Bedarf sogar als hängende Spitze spielen konnte. Der Mann, der das starke deutsche Turnier erst ermöglicht hatte (indem er im FA-Cup-Finale Ballack umschnitt), ist zweifellos einer der ganz großen Gewinner des Turniers.
Aber auch die Algerier haben, zumindest in systematischer Hinsicht, absolut überzeugt. Das erste Spiel gegen Slowenien war ein Lehrbeispiel von Flexibilität – in einer Stunde wurde ohne Reibungsverluste vier Mal das komplette System umgestellt. Gegen England stellten sie sich hervorragend auf den Gegner ein und ließen ihn verzweifeln, ohne nur stumpf eine Wand aufzuziehen. Und gegen die Amerikaner gelang beinahe selbiges, wenn ihnen nicht am Ende die Kraft ausgegangen wäre. Einzig einen echten Stürmer brauchen die Wüstenfüchse noch.
Und auch die Südafrikaner darf man nicht vergessen, hier fehlte es weniger an taktischer Reife, sondern schlicht an der Qualität der Spieler. Dass es aber auch anders geht, wurde gezeigt: Die Nigerianer spielten erstmals seit Menschengedenken ohne Außenstürmer und haben sich erst im dritten Spiel daran gewöhnt, die Ivorer wurde (am Auffälligsten im Portugal-Spiel) von Drogba jede Variabilität genommen, und bei Kamerun muss das Verhältnis zwischen der Mannschaft und dem machtlosen Trainer ähnlich unterhaltsam wie jedes bei der französischen Delegation gewesen sein.
5. – Verteidigen alleine hilft dir nichts
Das Team aus Nordkorea hatte eine klare Marschrichtung: Hinten dichtmachen und vorne auf Neu-Bochumer Jong Tae-Se hoffen. Die Brasilianer haben sich das eine Halbzeit routiniert angesehen, kannten dann die Schwächen und schlugen eiskalt zu, die Portugiesen machten es ebenso, und die Ivorer hatten Video geschaut und machten die Nordkoreaner von Beginn an auf. Warum die Koreaner letztlich mit 1:12 Toren aus drei Spielen nach Hause fuhren? Sie hatten kein Offensiv-Konzept.
Es muss, wenn sich das Spiel schon auf die Defensive konzentriert, auch ein Plan nach vorne vorhanden sein, sonst kommt nichts dabei heraus. Die Algerier hatten das selbe Problem, Honduras genauso, die Schweizer sind exakt daran gescheitert. Andere Teams mit einer defensiven Grundausrichtung hatten auch ein Konzept, wie es nach vorne gehen sollte. Paraguay etwa, Uruguay ganz besonders, die Japaner auch.
Und den Griechen sei ins Stammbuch geschrieben: Ihr habt gegen Nigeria gezeigt, dass ihr ein schlüssiges, funktionierendes und auch schön anzusehendes Offensivkonzept habt. Weil ihr das wisst und die Welt dennoch mit eurer nicht einmal besonders durchdachten Abwehrmauer gequält habt, seid ihr die Stinktiere dieser WM. Bäh!
6. – Das Anti-Stinktier: Chile
Der Preis für das aufregendste Konzept geht natürlich an die tollen Chilenen. Das Team von Marcelo Bielsa ist in der Vorwärtsbewegung und in der Spielgestaltung dermaßen grandios, dass sich sogar die Spanier eine Halbzeit lang verwundert die Augen gerieben hätten, wenn sie dazu gekommen wären. Dass es ohne gelbgesperrte Schlüsselspieler gegen Brasilien nicht reichte – geschenkt. Diese unglaubliche Flexibilität in einem dennoch fixen System. Dieses Breitmachen des Spiels. Diese Fähigkeit, von überall her Druck zu erzeugen. Diese Spieler, die alle fast alles Spielen können. Jetzt bräuchte es nur noch einen Stürmer, der auch die Tore rein macht…
7. – Der Wunder-Semifinalist
Und, last but not least: Spanien hat es als wohl erste Mannschaft der WM-Geschichte geschafft, mit zehn Mann pro Spiel ins Semifinale einzuziehen. Schließlich hat Vicente del Bosque erst im vorletzten Spiel den völlig indisponierten Torres aus seiner Startelf genommen. Über den Liverpool-Stürmer, der nach einer Verletzung meilenweit von seiner Bestform entfernt war, gilt das Zitat von Tottenham-Coach Harry Redknapp, welches dieser über Wayne Rooney getätigt hatte, genauso: „If I’d asked you to go and watch him, say he was available and I could get him for £1.5million, you would have come back and said: ‚Nah, you can’t take him, he’s not good enough!'“
8. – All-Star-Team
Rein subjektiv natürlich.
Tor – Manuel Neuer (Ger) – Kein anderer Schlussmann ist so spielintelligent wie der Schalker.
RV – Maicon (Bra) – Nach vorne stark, nach hinten sicher. Sergio Ramos könnte man aber genauso nehmen.
IV – Arne Friedrich (Ger) und Carles Puyol (Esp) – letzterer eh klar, ersterer hat auch eine tolle WM absolviert.
LV – Fabio Coentão (Por) oder Carlos Salcído (Mex) – für mich ein Unentschieden.
6er – Bastian Schweinsteiger (Ger) und Kevin-Prince Boateng (Gha) – Übersicht in allen Lebenslagen.
10er – Wesley Sneijder (Ned) – Torgefährlich, kann den tödlichen Pass spielen. Und sogar Kopfballtore machen!
RA – Thomas Müller (Ger) – eh klar. Aber auch der Chilene Alexis Sánchez hat hier gut gefallen.
LA – David Villa (Esp) – spielte die meiste Zeit des Turniers über die linke Seite. Klappte echt gut.
CF – Diego Forlán (Uru) – kann den Center-Forward, kann Zehner, kann Flügel, und trifft auch noch.
9. That’s it
Bald geht die EM-Qualifikation los, in etwa einem Jahr bei den Pazifik-Spielen starten die Quali-Partien für die 20. Weltmeisterschaft, die am 13. Juli 2014 im Maracanã von Rio de Janeiro endet. Im Jänner 2011 ist der Asien-Cup in Katar, im Juli 2011 die Copa América in Argentinien, im Jänner 2012 (in Gabun und Äquatorialguinea) und Jänner 2013 (in Libyen) stehen Afrika-Cups auf dem Programm, ebenso 2011 und 2013 gibt’s Gold-Cups, also die Nord/Mittelamerika-Meisterschaft, und im Juni 2012 ist die Europameisterschaft in Polen und der Ukraine. Somit sind wir die nächsten vier Jahren ja durchaus einigermaßen versorgt.
Und schließen möchte ich mit weisen Worten eines (wie sky-Zuschauer spätestens seit dieser WM wissen) nicht immer allzu weisen Mannes schließen. Franz Beckenbauer meinte am Ende „seiner“ WM vor vier Jahren folgendes:
„It’s gone. The tournament has finished and the World Cup is going the moon direction to the Mars and then maybe months leaving our sun system!“
(phe)