Topfavorit. Wirklich! Wirklich?

WM-SERIE, Teil 32: SPANIEN | Wie reagiert der seit vier Jahren de facto unschlagbare Europameister darauf, absoluter Top-Favorit zu sein? Das war früher ein Riesenproblem – doch die immer noch verflixt junge Mannschaft macht mental einen extem stabilen Eindruck.

„Schreckliche Planung“, jammerte Thierry Henry. Es war der 3. März diesen Jahres und Frankreich war gerade in einem Testspiel von Spanien förmlich am Nasenring durchs Stade de France gezogen worden, wurde mit einem Wort vernichtet. Hätten die Spanier wollen, die Franzosen hätten sich wohl sechs oder sieben Tore eingefangen. „Wie kann man ein Testspiel gegen Spanien festsetzen, so kurz vor der WM?“ Wohlgemerkt: Henry spielt für Frankreich, den Finalisten der letzten WM.

Was viel über diese Mannschaft aus Spanien aussagt. Seit dem Achtelfinal-Aus bei der WM in Deutschland vor vier Jahren, just gegen die Franzosen, hat die Mannschaft genau ein einziges Pflichspiel verloren (das Semifinale im Confed-Cup gegen die USA). Das war auch die einzige Niederlage seit November 2006. Das heißt: Eine einzige Niederlage in den letzten 48 Spielen. In der Qualifikation für diese Endrunde in Südafrika? Zehn Spiele, zehn Siege, 28:5 Tore. Und auch in Testspielen hat sich der Europameister nicht versteckt – Argentinien, England, Frankreich, Italien, keiner konnte Spanien biegen. Die Frage scheint nur zu sein, wer im Finale die Ehre hat, gegen die Spanier zu verlieren.

Aber langsam. Spanien gehörte immer zumindest zu den Teams im erweiterten Kreis der Kandidaten, bevor es in Turniere ging. Aufgegangen ist der Knopf erst, als endgültig alle gesagt haben: „Die haben’s noch nie geschafft, da braucht man jetzt gar nicht mehr drauf hoffen!“ Und siehe da, der alte Luis Aragoñés fuhr genau da den Europameistertitel ein. Hochverdient, als mit Abstand bestes Team des Turniers. Es stimmte hinten, es funktionierte vorne, und ohne Raúl und Joaquín passte auch das Mannschaftsklima. Das war das Erfolgsgeheimnis, an dem auch Vicente del Bosque, der nach der EM den Posten des Teamchefs übernahm, nicht entscheidend rüttelte. Warum auch? Und unter dem letzten wirklich großartigen Trainer, den Real Madrid hatte (womöglich, weil er mit seiner spröden und gänzlich unglamurösen Art so gar nicht zu den Galaktischen passte), wurde aus der starken Form eine echte Dominanz.

Zudem hatten fast alle Leistungsträger, die in Deutschland noch etwas zu grün waren, beim Triumph von Wien noch immer kein fortgeschrittenes Alter: Torres war 24, Iniesta ebenso, Fàbregas erst 21 und David Silva auch erst 22, genau wie Sergio Ramos. Xavi ist nun, mit 30 Lenzen, auf seinem absoluten Leistungszenit angekommen. Intern gibt es die fiesen Animositäten zwischen dem Barcelona-Lager und dem Real-Madrid-Lager vergangener Tage nicht mehr. Dieser Kader ist vereint in dem Bestreben, gemeinsamen Erfolg zu haben und nicht vom Vorhaben entzweit, denen vom anderen Großklub die Show zu stehlen. Diese Mannschaft hat de facto keine Schwächen, agiert mit einem unglaublichen Selbstvertrauen, die Spieler sind alle im richtigen Alter, die Mischung stimmt. Und durch das 0:1 gegen die Amerikaner vor einem Jahr wissen sie nun auch, dass sie in jedem Spiel Gas geben sollten. Wer in Gottes Namen soll diese übermächtige Mannschaft stoppen?

Aber das mit der Bürde des Topfavoriten ist so eine Sache. 2006 führte der Weg nur über Brasilien, und die Franzosen gingen diesen im Viertelfinale; das selbe Spielchen gab es 1998 im Finale. 2002 konnten eigentlich nur Argentinien oder Frankreich den Titel holen, am Ende schaffte es keiner der beiden auch nur ins Achtelfinale. Deutschland musste sich 1994 den Titel vermeintlich nur abholen, ehe das Team Bekanntschaft mit Bulgarien machte. Sich einen WM-Titel einfach abholen, das läuft so nicht. Zumal es ja durchaus sein kann, dass es den Spaniern früher oder später so geht wie etwa dem FC Barcelona in der abgelaufenen Champions-League-Saison – irgendwann wird schon einer daherkommen, der dem Angriffswirbel der Europameister Einhalt gebieten kann. So wie Inter Mailand im CL-Semifinale, so wie die Amerikaner vor einem Jahr. Ein WM-Traum ist wahnsinnig schnell ausgeträumt.

Umso mehr müssen die Spanier darauf achten, sich auch in der Vorrunde schon keine Blöße zu geben. Wird die Gruppe mit der Schweiz, Chile und Honduras (welche der Favorit natürlich im Normalfall im Schlaf dominieren müsste) nicht gewonnen, wartet wahrscheinlich schon im Achtelfinale der große Co-Favorit, Brasilien. Und das so unbrasilianisch humorlose Team von Carlos Dunga wäre etwa so eines, das den Spaniern recht effektiv die Lust nehmen könnte. Einer K.o.-Partie gegen Portugal oder gar Côte d’Ivoire könnte Del Bosque wesentlich entspanner entgegen sehen. Weil seine Mannschaft diesen Teams in seiner Breite zweifellos klar überlegen ist.

Und das fängt schon hinten an. Iker Casillas wäre der erste Torhüter seit Dino Zoff 1982, der als Kapitän einen WM-Pokal entgegen nehmen würde. Er ist schon sehr früh Stammkeeper von Real und auch in der Nationalmannschaft geworden, spielt schon seine dritte WM und sein fünftes großes Turnier als spanische Nummer eins und hat schon über 100 Ländermachtes auf dem Buckel, obwohl der Madrilene noch keine 30 Jahre alt ist. Seit er seine Jugendschwächen abgelegt hat, ist er ein sicherer Rückhalt und auch so ein wenig die Symbolfigur des „neuen“ Spanien: Ruhig, bescheiden, unpretentiös. Aber auf dem Platz bärenstark.

Vor dem Schlussmann von Real Madrid wird vermutlich das Innenverteidiger-Duo des FC Barcelona aufräumen – der routinierte Wuschelkopf Carles Puyol, dessen Einsatz, Stellungsspiel und Spielverständnis auf seiner Position im Moment unübertroffen sind; und der 23-jährige Gerard Piqué, dessen Stärken im Zweikampf und im Kopfballspiel liegen. Er hat seit der erfolgreichen EM den Valencia-Spieler Carlos Marchena von der Stammposition verdrängt, was eine von nur ganz wenigen Änderungen gegenüber der Champions von Wien darstellt.

Rechts hinten marschiert wie gewohnt Sergio Ramos auf und ab. Auch der blonde Flügelflitzer ist schon so lange dabei, dass man sich kaum verstellen kann, dass er auch erst 24 Jahre alt ist. Die andere, die linke Seite war über Jahre hinweg der ganz große Schwachpunkt im Team der Spanier. Ob nun Juanfran (02), Raúl Bravo (04) oder Pernía (06), es war immer das schwächste Glied in der Mannschaft. Bis Spätstarter Joan Capdevila vor zwei Jahren ein wirklich tolles Turnier spielte – und nun dennoch von Álvaro Arbeloa verdrängt wurde. Der im Schatten seines Pendants auf der rechten Seite unauffällige Arbeloa ging auch letztes Jahr ein wenig unter, als er im Rahmen des galaktischen Kaufrausches von Real Madrid um geschmeidige vier Millionen Euro von Liverpool kam. Die Abwehrkette wird also von zwei Barcelona-Spielern innen und zwei Real-Spielern außen gebildet. Und es funktioniert grandios.

Gemeinsam mit Arbeloa wechselte vor einem Jahr auch Xabi Alonso von Anfield ins Bernabéu. Der Champions-League-Sieger von 2005 spielte sich fortan auch im spanischen Team fest – so sehr, dass Marcos Senna – vor zwei Jahren beim EM-Titel einer der ganz entscheidenden Figuren – nicht einmal mehr im Kader aufscheint. Neben (oder statt) ihm im defensiven Mittelfeld agiert wiederum ein Spieler von Barcelona, nämlich Sergi Busquets. Die komplette Defensiv-Abteilung wird somit ausschließlich von Spieler der beiden dominierenden Teams der Primera División gestellt. Kein Wunder, schließlich holten sie ihre 99 bzw. 96 Punkte ja nicht nur über ihre Offensive, sondern beide Teams kassierten auch mit Abstand die wenigsten Gegentore.

Vorne kommt Real hingegen nicht mehr vor. Was nicht daran liegt, dass die Königlichen dort nicht gut wären – im Gegenteil, mit 102 Treffern in der wahrlich nicht schlechten spanischen Meisterschaft gelangen sogar um vier mehr als Barcelona – sondern daran, dass bis auf den vor drei Jahren ausgebooteten Raúl bei Real keine Spanier spielen. In den Vorbereitungsspielen agierte Del Bosque mit einem 4-2-3-1, weil mit Andres Iniesta einer aus der angestammten Vierer-Offesnivkette im Mittelfeld ausfiel. Da er aber rechtzeitig fit werden dürfte, wäre es keine Überraschung, wenn Del Bosque, vor allem gegen die Gruppengegner, die Spanien das Wasser nicht reichen können, wieder auf ein 4-1-4-1 zurückwechselte – oder per 4-3-3 den Kontrahenten so richtig einheizt. Die Offensiv-Abteilung wäre identisch mit der vom EM-Finale: Xavi und Iniesta, die beiden genialen Zwillige vom FC Barcelona, dazu kommt ihr möglicher künftiger Mannschaftskollege Fàbregas (der heute 23-Jährige ist schon seit zwei Jahren Arsenal-Kapitän).

Und auch an David Silva, dem auch erst 24-jährigen Zauberer auf der linken Seite, hat der katalonische Großklub bereits Interesse bekundet. Dass der wunderbare Einfädler noch lange beim finanzmaroden Valencia spielt, glaubt niemand so wirklich. Der große Faustpfand von Del Bosque im Mittelfeld: Sollte einer der vier Weltklasse-Offensivspieler ausfallen, kann er immer noch ohne Qualitäts- und Offensivgeist-Verlust einen zweiten Sechser bringen, oder aber genauso auch eine zweite Sturmspitze. Und der große Faustpfand der Spanier in Zukunft: Mit Kader-Alternativen Javi Martínez (21), Juan Mata (22) und vor allem Jesús Navas (24) ist man auch in den nächsten Jahren stark aufgestellt.

Wie auch in der Abteilung Attacke. Liverpools Fernando Torres, goldener Torschütze im EM-Finale gegen Deutschland, sollte seine Knieblessur rechtzeitig auskurierten. Und selbst, wenn „El Niño“, der mit 26 auch schon sein viertes großes Turnier absolviert, nicht auflaufen kann: Kein Problem, es gibt ja immer noch David Villa. Der eiskalte Goalgetter von Valencia ist ja schließlich auch nur Torschützenkönig der letzten Europameisterschaft. Beide dürfen Del Bosque allerdings nicht ausfallen, denn als Alternative gibt es dann nur noch den international wenig erfahrenen Fernando Llorente von Bilbao; Pedro Rodríguez von Barcelona, die Entdeckung der abgelaufenen Saison, ist ein klassischer Flügelstürmer.

Was nichts daran ändert, dass man an den Spaniern erst einmal vorbei muss. Ohne Frage, wenn der Europameister sein Leistungspotential in jedem Spiel abruft, gibt es keine Mannschaft, die Spanien schlagen kann; wohl nicht einmal Brasilien. Aber wehe, das Team von Del Bosque erlaubt sich, vor allem in der K.o.-Phase, auch nur einen schwachen Tag! Frag nach bei all den gescheiterten Topfavoriten der letzten Turniere. Es geht schnell, und es heißt wieder: „Ja, diese Spanier, schon eine gute Mannschaft – aber mit dem Druck können sie nicht umgehen!“

Den Europameister-Titel kann Spanien keiner mehr nehmen. Die Rolle als WM-Favorit aber auch nicht. Mit allen Konsequenzen, die das mit sich bringt.

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SPANIEN
rotes Trikot, blaue Hose, adidas – Platzierung im ELO-Ranking: 2.

Spiele in Südafrika:
Schweiz (Nachmittagsspiel Mi 16/06 in Durban)
Honduras (Abendspiel Mo 21/06 in Johannesburg/S)
Chile (Abendspiel Fr 25/06 in Pretoria)

TEAM: Tor: Iker Casillas (29, Real Madrid), Pepe Reina (27, Liverpool), Víctor Váldes (28, Barcelona). Abwehr: Raúl Albiol (24, Real Madrid), Álvaro Arbeloa (27, Real Madrid), Joan Capdevila (32, Villarreal), Carlos Marchena (30, Valencia), Gerard Piqué (23, Barcelona), Carles Puyol (32, Barcelona), Sergio Ramos (24, Real Madrid). Mittelfeld: Xabi Alonso (28, Real Madrid), Sergi Busquets (22, Barcelona), Cesc Fàbregas (23, Arsenal), Andres Iniesta (26, Barcelona), Javi Martínez (21, Bilbao), Juan Mata (22, Valencia), Jesús Navas (24, Sevilla), David Silva (24, Valencia), Xavi Hernández (30, Barcelona). Angriff: Fernando Llorente (25, Bilbao), Pedro Rodríguez (22, Barcelona), Fernando Torres (26, Liverpool), David Villa (29, Valencia).

Teamchef: Vicente del Bosque (59, Spanier, seit August 2008)

Qualifikation: 1:0 gegen Bosnien, 4:0 gegen Armenien, 3:0 in Estland, 2:1 in Belgien, 1:0 gegen und 2:1 in der Türkei, 5:0 gegen Belgien, 3:0 gegen Estland, 2:1 in Armenien, 5:2 in Bosnien.

Endrundenteilnahmen: 12 (1934 Viertelfinale, 50 Vierter, 62 und 68 Vorrunde, 78 Vorrunde, 82 Zwischenrunde, 86 Viertelfinale, 90 Achtelfinale, 94 Viertelfinale, 98 Vorrunde, 2002 Viertelfinale, 06 Achtelfinale)

>> Ballverliebt-WM-Serie
Gruppe A: Südafrika, Mexiko, Uruguay, Frankreich
Gruppe B: Argentinien, Nigeria, Südkorea, Griechenland
Gruppe C: England, USA, Algerien, Slowenien
Gruppe D: Deutschland, Australien, Serbien, Ghana
Gruppe E: Holland, Dänemark, Japan, Kamerun
Gruppe F: Italien, Paraguay, Neuseeland, Slowakei
Gruppe G: Brasilien, Nordkorea, Côte d’Ivoire, Portugal
Gruppe H: Spanien, Schweiz, Honduras, Chile

* Die Platzierung im ELO-Ranking bezieht sich auf den Zeitpunkt der Auslosung

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Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.