Mehr als ein kleiner Bruder?

WM-SERIE, Teil 9: SLOWAKEI | Eigentlich sind die Slowaken ja eher dafür bekannt, den Nachbarn aus Tschechien im Eishockey einzuheizen. Jetzt schicken sie sich an, im Fußball einen historischen Irrtum aufzuzeigen. Einen Irrtum aus dem Jahre 1976.

Als Uli Hoeneß den entscheidenden Elfmeter in den Nachthimmel von Belgrad jagte und Antonín Panenka seinerseits die Kugel an Sepp Maier vorbei zentral ins Tor lupfte, war es geschafft: Die Tschechoslowakei hat nach zwei verlorenen WM-Finals erstmals in ihrer Geschichte einen großen Titel eingefahren. Das Team war Europameister von 1976. Ein Titel, der heute, siebzehn Jahre nach der Trennung der beiden Staaten, gemeinhin der tschechischen Nationalmannschaft zugeschlagen wird. Eine eigentlich ungeheuerliche Fehleinschätzung.

Denn wieviele Tschechen waren im Finale gegen die Bundesrepublik Deutschland tatsächlich auf dem Feld – neun? zehn? Nein – es waren nur vier! Sieben der elf Akteure vom Europameister waren Slowaken. Und doch würde niemand auf die Idee kommen zu sagen, die Slowakei hätte einen Europameistertitel auf der Habenseite. Eine Haltung, die natürlich auch dadurch so richtig Traktion bekommen hat, weil sich die Tschechen nach der Trennung schnell als fixe Größe im Weltfußball etabliert hatte, die Slowaken international aber lange nicht so richtig Fuß fassen konnten. Nicht, was den Vereinsfußball angeht, nicht was den Export von potentiellen Superstars angeht – und so natürlich auch nicht, was die Nationalmannschaft angeht. Aber damit soll jetzt Schluss sein.

Aus slowakischer Sicht kann man die Sache nämlich auch anders herum sehen. Sie sind mit dem Gruppensieg in der Qualifikation (in einer zugegeben recht schwachen Gruppe) nun erstmals bei einer WM-Endrunde dabei – und haben somit genauso viele Teilnahmen auf dem Konto wie der westliche Nachbarstaat, mit dem man so lange vereint war. Denn so sehr die Tschechen auch bei diversen EM-Endrunden aufzeigten, sie waren seit der Trennung 1993 nur ein einziges Mal bei einer Weltmeisterschaft dabei. Vor vier Jahren. Und dieses Abenteuer endete schnell, schon nach der Vorrunde.

Die Erfolgsgeschichte der Slowakei hat ihren Grundstein im Jahr 2000. Das Eishockey-Team, dass sich (anders als das der Tschechen, das diskussionslos bei der A-WM bleiben durfte) von ganz unten nach oben arbeiten musste, stieß erstmals ins WM-Finale vor. Man unterlag dort zwar ausgerechnet Tschechien, war aber in der Weltspitze endgültig angekommen. Und ebenfalls in diesem Jahr wurde Vladimír Weiss, mit der ČSSR bei der Fußball-WM 1990 aktiv, mit gerade 35 Jahren Trainer von Mittelständler Artmedia Bratislava. Von nun an sollte es bergauf gehen – wenn auch die Puckjäger damit schneller waren. Sie feierten 2002 ihr „Wunder von Göteborg“ feierten und wurden erstmals Weltmeister.

Die Fußballer brauchten da noch etwas. Sie landeten in den Qualifikationen für WM und EM konstant auf den Plätzen drei oder vier, etablierten sich als Mittelklassemannschaft. Einmal reichte es für’s Playoff, im November 2005 stand man gegen Spanien aber auf verlorenem Posten. Doch der Aufwärtstrend war unverkennbar: In diesem Herbst qualifizierte sich Artmedia, mittlerweile dank Trainer Weiss zu Meisterehren gekommen, sensationell für die Champions League, düpierte dort den FC Porto und ließ die Glasgow Rangers hinter sich. Weiss wechselte daraufhin in die russische Liga – und wurde nach der deutlich verpassten Qualifikation für die Euro 2008 slowakischer Teamchef. Ein logischer Schritt, für beide Seiten.

Die Slowaken hatten natürlich auch Glück mit ihrer Gruppe. Die nach einer schrecklichen Euro ausgebrannten Polen, die vermeintlich irrelevanen Slowenen, die biederen Nordiren. Und die schwächelnden Tschechen – ausgerechnet. Teamchef Weiss fand ähnliche Verhältnisse vor, wie bei Artmedia: Im Grunde eine No-Name-Truppe. Seine Spieler in der Nationalmannschaft standen zum Großteil bei allen möglichen europäischen Leichtgewichten unter Vertrag. Dazu eine Handvoll viel versprechender Talente, wie Trainersohn Vladímir junior oder Marek Hamšík. Und der Teamchef machte daraus eine zwar wenig spektakuläre, aber gut aufeinander abgestimmte Einheit, die sich auf die Gegner hervorragend einstellt und als Mannschaft besser ist als die Summer der Einzelteile. So wird man nationaler Meister. Und so führt man auch einen Underdog wie die Slowakei zu einer WM-Endrunde.

Einen Underdog, in dessen Mannschaft nur wenige einen internationalen Namen haben. Einer derjenigen, die noch am ehesten auf dem Radar aufscheinen, ist Abwehrchef Martin Škrtel. Der 1.91m-Hüne hat sich bei Liverpool in der ersten Mannschaft festgespielt und soll auch im slowakischen Team als knochentrockener Abräumer schon vor Schlussmann Ján Mucha abräumen. Eine Mammut-Aufgabe, denn der zweite Mann vorm Torwart von Legia Warschau ist mit Ján Ďurica eher ein Unsicherheitsfaktor. Hier gibt es aber kaum Alternativen, weswegen der Verteidiger von Hannover seinen Platz sicher haben dürfte.

Ebenso wie Peter Pekarík auf der rechten Seite, obwohl dieser bei Wolfsburg kaum Spielpraxis bekommt. Der einzige, der sonst noch auf halbwegs internationalem Niveau rechts hinten spielen könnte, ist Radoslav Zabavník – der hat aber erstens seinen Platz eher auf der linken Seite. Und selbst von dort kann der 29-Jährige eigentlich nur noch verdrängt werden, wenn er keinen Verein findet, nachdem sein Vertrag beim russischen Mittelständler Terek Groznyi nicht verlängert wurde. Signale deuten auf einen Wechsel in die polnische Liga. Die Abwehrreihe steht im Normalfall, hier hat Weiss zuletzt kaum gewechselt, wenn es nicht durch Verletzungen oder Sperren notwendig wurde.

Etwas umkämpfter ist die Position im defensiven Mittelfeld. Zuletzt hatte dort der 33-jährige Zdeno Štrba von Xanthi bessere Karten, aber sein gleich alter Konkurrent Miroslav Karhan hat beinahe hundert Länderspiele auf dem Buckel. Er ist damit slowakischer Rekord-Teamspieler und hat zudem gegenüber Štrba (der erst 2009 die Slowakei verlassen hat) den Vorteil, seit über zehn Jahren dank Stationen in der Türkei, Spanien und Deutschland durchwegs in starken Ligen engagiert zu sein. Seine Erfahrung ist auf dem Niveau einer Weltmeisterschaft ein nicht zu unterschätzender Faktor.

Der eigentliche Star der Mannschaft ist, trotz dem Liverpooler Škrtel, aber Marek Hamšík. Der offensive Mittelfeldmann von Napoli ist der Kapitän der Mannschaft, und das mit gerade einmal 22 Jahren. Er führt die Riege der jungen, aufstrebenden Mittelfeld-Akteure im slowakischen Mannschaft Team an; bei seinem Debut in der Serie A (noch für Brescia) war er noch keine 18 Jahre alt. Er kann auch über die Flanken kommen, spielt aber eher in der Mittelfeldzentrale. Sollten die Slowaken mit zwei Sechsern agieren, würde Hamšík auf die linke Seite ausweichen.

Dorthin, wo sich zwei weitere aus der jungen Generation um den Platz streiten. Zum einen ist dies der Salzburger Dušan Švento, der bei den Bullen eine durchaus ansprechende Saison spielt. Im Laufe der Qualifikation setzte sich aber eher der 20-jährige Miroslav Stoch fest – der Nachfolger von Marko Arnautovic bei Twente Enschede. Das Riesentalent gehört an sich Chelsea und hatte für die Blues auch schon den einen oder anderen Einsatz, bevor er nach Holland verliehen wurde. Ein ähnliches Duell gibt es auf der rechten, ebenso offensiv ausgelegten Mittelfeldseite: Hier wurde der routinierte Ján Kozák von Trainersohn Vladimír Weiss junior verdrängt. Der 20-jährige ist zwar zweifellos talentiert, konnte sich jedoch bei Manchester City überhaupt nicht durchsetzen und wechselte im Winter zu den Bolton Wanderers.

In der Spitze hat Teamchef Weiss ebenso einige Alternativen, aus denen er sich sein Sturmduo zusammen basteln kann. Da wäre zum einen Stanislav Šesták, der seit Jahren beständig für Bochum in der deutschen Bundesliga seine Tore schießt. Er bildet zusammen mit Robert Vittek das wahrscheinliche Duo vor dem gegnerischen Tor. Da Vittek aber bei Lille nur Joker ist und so nicht auf die erhoffte Einsatzzeit kommt, könnte auch von Erik Jendrišek zu Zug kommen. Dieser spielt bei Kaiserslautern zwar „nur“ in der zweiten deutschen Liga, das aber dafür regelmäßig und durchaus erfolgreich. Zudem hat Weiss mit Martin Jakubko einen regelmäißgen Turschützen aus der russischen Liga zur Verfügung und, wenn alle Stricke reißen, mit Filip Hološko noch einen Stürmer von Beşiktaş. Über den Status als Alternative ist Letzterer im Nationalteam aber, trotz zahlreicher Einsätze, nie wirklich hinausgekommen.

Die Situation ist durchaus mit der zu vergleichen, wie sie die Tschechen vor der Euro 1996 vorfanden: Nicht wirklich beachtet, zwar mit Talent, aber ohne die großen Namen. Und so wie es damals Karel Poborský und Pavel Nedvěd waren, die aus der No-Name-Truppe herausstachen und in der Folge zu Superstars wurden, ist es durchaus realistisch, dass sich nun auch aus der slowakischen Mannschaft einige Spieler in den Vordergrund spielen. Neben den jetzt schon bekannten Hamšík und Škrtel sind es vor allem Stoch und Weiss junior, auf die es ein Auge zu werfen gilt.

Zudem hat es die Auslosung gut mit dem WM-Debütanten gemeint, denn mit Paraguay und den Neuseeländern bekommen es die Slowaken neben den favorisierten Italienern mit zwei Gegnern zu tun, vor denen man sich nicht fürchten muss. Das wird sich aber im ersten Spiel auch der Kontrahent aus Neuseeland denken, weshalb es wichtig ist, schnell etwaige Nervosität abzulegen. Die Slowaken haben keinen Druck, alleine mit der direkten Qualifikation wurde schon mehr erreicht, als man sich wohl selbst realistischerweise zugedacht hätte.

Hinzu kommt, dass die beiden Spiele gegen die schlagbaren Gegner in kleineren Stadien zur Mittagszeit ausgetragen werden, die Gefahr in diesen Spielen also nicht übermäßig groß ist, weit weg von der Heimat von einer allzu dichten WM-Atmosphäre erdrückt zu werden. Die Slowaken können eigentlich nur positiv überraschen.

Und dem Nachbarn zeigen, dass er nicht das Monopol auf guten Fußball hat. Wie damals, 1976.

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SLOWAKEI
ganz in weiß, adidas – Platzierung im ELO-Ranking: 48.

Spiele in Südafrika:
Neuseeland (Mittagsspiel Di 15/06 in Rustenburg)
Paraguay (Mittagsspiel So 20/06 in Bloemfontein)
Italien (Nachmittagsspiel Do 24/06 in Johannesburg/E)

TEAM: Tor: Ľuboš Kamenár (23, Nantes), Ján Mucha (27, Legia Warschau), Štefan Senecký (30, Ankaragücü). Abwehr: Marek Čech (27, West Bromwich), Marián Čišovký (30, Timişoara), Ján Ďurica (28, Hannover), Peter Pekarík (23, Wolfsburg), Martin Petráš (30, Cesena), Kornel Saláta (25, Slovan Bratislava), Martin Škrtel (25, Liverpool), Radoslav Zabavník (29, zuletzt Terek Groznyi). Mittelfeld: Marek Hamšík (22, Napoli), Miroslav Karhan (34, Mainz), Kamil Kopúnek (26, Trnava), Ján Kozák (30, Slovan Bratislava), Marek Sapara (27, Rosenborg), Miroslav Stoch (20, Twente Enschede), Zdeno Štrba (34, Xanthi), Dušan Švento (24, Salzburg), Vladímir Weiss (20, Bolton). Angriff: Filip Hološko (26, Beşiktaş), Martin Jakubko (30, FK Moskau), Erik Jendrišek (23, Kaiserslautern), Stanislav Šesták (27, Bochum), Robert Vittek (28, Lille).

Teamchef: Vladimír Weiss (45, Slowake, seit Juli 2008)

Qualifikation: 2:1 gegen Nordirland, 1:2 in Slowenien, 3:1 in San Marino, 2:1 gegen Polen, 2:1 in Tschechien, 7:0 gegen San Marino, 2:2 gegen Tschechien, 2:0 in Nordirland, 0:2 in Slowenien, 1:0 in Polen.

Endrundenteilnahmen: keine

>> Ballverliebt-WM-Serie
Gruppe A: Südafrika, Mexiko, Uruguay, Frankreich
Gruppe B: Argentinien, Nigeria, Südkorea, Griechenland
Gruppe C: England, USA, Algerien, Slowenien
Gruppe D: Deutschland, Australien, Serbien, Ghana
Gruppe E: Holland, Dänemark, Japan, Kamerun
Gruppe F: Italien, Paraguay, Neuseeland, Slowakei
Gruppe G: Brasilien, Nordkorea, Elfenbeinküste, Portugal
Gruppe H: Spanien, Schweiz, Honduras, Chile

* Anm.: Die Platzierungen im ELO-Ranking beziehen sich auf den Zeitpunkt der Auslosung.

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Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.