Das war 2022/23, Teil 3: Trent Alexander-Achter

Truth be told: Die Saison von Liverpool war furchtbar. Natürlich, andere Vereine wären froh über einen fünften Platz und letztlich muss das Liverpool, über weite Strecken eher gegen Platz zehn rangierend, auch irgendwie sein. Einem 2:2 gegen Arsenal im April folgten sechs Siege in Folge, die zumindest die Europa League retteten. Nur: Was war danach anders als vorher und was heißt das für die nächste Saison?

Die Geschichte von 2022/23 bei Liverpool ist jedenfalls auch die Geschichte von Trent Alexander-Arnold.

Ja, wo isser denn?

„Wenn wir hoch pressen, ist oft – nicht immer, aber oft – Trent der am höchsten positionierte Spieler der Abwehrkette, das heißt: Wenn wir hoch pressen, ist er vorne. So spielen wir Fußball! Jetzt kann man sagen, ja, verteidigt halt besser. Aber man kann nicht alles haben. Wenn man pressen will, braucht man Spieler in bestimmten Positionen. Also entweder schickt man einen Stürmer Richtung Außenbahn, um den Rückraum abzusichern. Oder man schickt das Mittelfeld etwas höher. Oder wir sichern die letzte Linie mit drei Spielern ab, plus Fabinho oder wer auch immer gerade auf der Sechs spielt, und schiebt die nach vorne. Wenn wir aber den Ball nicht sofort hoch zurückgewinnen, spielt der Gegner den ersten Ball lang genau auf diese Seite. Nun muss Joel, Joey oder Ibou – wer auch immer rechter Innenverteidiger spielt – das abdecken und das ist okay. Das ist das Risiko, das wir eingehen. Das ist kein verrücktes Risiko, in neun von zehn Fällen gewinnen wir den Ball zurück. Aber in dem einen Mal, wenn nicht, schreien die Leute: Wo ist Trent? Und das ist eine Frage, die ich nicht verstehe! Wir schauen doch alle zu viel und so lange, um dann ernsthaft zu sagen, ja, verteidigen wäre doch seine Hauptaufgabe…“

Das sagte ein sichtlich animierter Jürgen Klopp nach einem 3:3 in Brighton im Herbst 2022, als Alexander-Arnold bei allen drei Gegentoren, nun ja, nicht besonders nachdrücklich verteidigt hat. Gerade im Vorfeld der WM überlagerte die Diskussion über seine defensiven Schwächen die Wahrnehmung der für Liverpool sehr enttäuschenden ersten Saisonhälfte.

Die Ausgangslage

Was das große Liverpool der letzten Jahre ausmachte, war der Umstand, dass die Außenverteidiger – Andy Robertson links und Trent Alexander-Arnold rechts – die eigentlichen Spielmacher waren, während das Mittelfeld-Zentrum eher die Drecksarbeit erledigte; das extrem eingespielte Angriffs-Trio mit Salah, Mane und Firmino sorgte für die Treffer.

Aber wie das eben so ist mit Teams, die über Jahre hinweg praktisch unverändert bleiben: Irgendwann sind Schlüsselspieler über dem Zenit, fallen ein paar Puzzlesteine heraus, und das Gebilde bricht bis zu einem gewissen Grad in sich zusammen. Mané wurde verkauft, Firmino war viel verletzt, Thiago genauso, der mittlerweile 32-jährige Henderson war nicht mehr jede Woche auf der Höhe seines Potenzials.

Die Folge: Das Gegenpressing, auf exakteste Abläufe aufgebaut, offenbarte immer mehr Löcher, die von den Gegnern mit Vorliebe in Form von Kontern hinter Alexander-Arnold genützt wurden. Liverpool kassierte eine ungekannte Menge an Gegentoren, während vorne das Werk lahmte: Darwin Núñez musste sich erst reinfinden, Luis Díaz fehlte lange verletzt, das Mittelfeld sah plötzlich Elliott, Jones und Bajcetic viele Minuten bekommen.

Das Spiel gegen Arsenal

Als es am 9. April zum Aufeinandertreffen mit Arsenal kam, lag Liverpool mit acht Punkten Rückstand auf den fünften Platz am Zipfel der Conference-League-Plätze. Es gab einzelne Highlights wie das 7:0 gegen Manchester United und daheim blieb man zumeist immerhin ungeschlagen, zur Wahrheit gehörten aber auch ein 0:1 in Bournemouth, ein 0:0 bei Palace sowie drei Auswärtspleiten in Folge in Brentford, Brighton und Wolverhampton und zwei erschütternd blutleere 0:0 gegen ein Team von Chelsea, das sich noch viel zielloser durch die Saison schleppte.

Knapp eine halbe Stunde war gegen Arsenal also gespielt, als Sky-Co-Kommentator René Adler erstmals auf Trent Alexander-Arnold hinwies: „Man sieht auch, dass Trent sich viel im Zentrum vor der Abwehr aufhält!“

Liverpool – Arsenal 2:2 (1:2)

Es war ein großartiges, schnelles, intensives Spiel mit vielen Chancen, in der ersten Hälfte für Arsenal, in der zweiten für Liverpool, es endete 2:2 und unter dem Bewundern der Qualität ging Alexander-Arnolds Rolle ein wenig unter. Ja, war wohl eine Reaktion auf Zinchenko, der bei Arsenal das gleiche macht, Gleichstand im Mittelfeld herstellen. Aber waren das jetzt zwei verlorene Punkte für Arsenal im Titelkampf oder doch ein gewonnener?

Die positiven Effekte

Es dauerte eine Woche bis zum überragenden 6:1 auswärts (!) in Leeds, bis einem dämmern konnte: Hoppla, der turnt ja wieder nur im Mittelfeld herum. Und hey, das funktioniert ja richtig gut. Bleibt das jetzt etwa so?

Tatsächliche Positionen bei Leeds-Liverpool (17.4.2023). Alexander-Arnold (Nr. 66) spielt deutlich erkennbar im Mittelfeldzentrum neben Fabinho (Nr. 3). Quelle: whoscored.com

Ja, es war „nur“ Leeds, ein körperlich und geistig kaputtes Team auf dem Weg zum Abstieg. Aber: Alexander-Arnold kam im Mittelfeld-Zentrum auf 151 Ballkontakte – so viel wie nie zuvor in seiner Premier-League-Karriere, dazu kamen zwei Assists. Es folgten Siege gegen Nottingham, West Ham, Tottenham, Fulham, Brentford und Leicester.

Auffällig war in diesen Spielen, dass – bis auf jenes gegen Fulham – stets die linke Seite die nach vorne aktivere war, üblicherweise war es davor die rechte von Alexander-Arnold gewesen. Dessen offensive Zahlen waren trotz der fehlenden Ergebnisse bis dahin eigentlich gut gewesen – 0,33 Expected Assists pro 90 Minuten, nach dem es in den Jahren davor 0,40 (2022) sowie 0,25 (2021) und 0,32 (2020) gewesen sind. In seinen Spielen als einrückender RV schnellte diese Zahl plötzlich auf 0,56 pro 90 Minuten nach oben, ein Wert, der ligaweit nur von Kevin de Bruyne überboten wurde.

Auch war Alexander-Arnold noch mehr im Spielaufbau involviert. Aus seinen 94 Ballkontakten pro 90 Minuten vor dem Switch wurden 108 Ballkontakte danach. In den zehn Spielen vor dem Switch verzeichnete Liverpool 1,7:1,5 Expected Goals pro Spiel, danach waren es 2,5:1,0 pro Match.

Die Fragezeichen, die bleiben

Nun ist es längst nicht mehr ungewöhnlich, dass Außenverteidiger zur Konterabsicherung in den Sechserraum rücken; Guardiola hat das bei den Bayern schon vor fast einem Jahrzehnt eingeführt. Alexander-Arnold fühlt sich bekanntermaßen am Ball wohl, er kann einen Sechser (der es in der Praxis ja eher war) bzw. einen Achter (der besser in das zugegeben billige Wortspiel im Titel dieses Artikel passt) wohl problemlos langfristig spielen.

Aber.

Schon gegen Arsenal blieb seine rechte Abwehrseite komplett verwaist; Gabriel Martinelli hatte hier viel Raum, Ibrahima Konaté musste immer wieder weit nach außen rücken. Gerade in der ersten Halbzeit taumelte Liverpool so in diverse defensive Verlegenheiten, kassierte zwei Gegentore, es hätten noch mehr sein können. Und dann war ja noch dieses wilde Spiel gegen Tottenham, als Alexander-Arnold nach vorne bei so gut wie jeder Aktion seine Füße im Spiel hatte, die verwaiste rechte Seite von den Spurs aber mit Erfolg angebohrt wurde.

Konaté ist ein Innenverteidiger, der ein Spiel lesen kann, sich nicht aufzurücken scheut und auch die nötige körperliche Robustheit für solche Zweikämpfe mitbringt – mehr als Alexander-Arnold. Es ist halt ein Hochrisiko-Spiel und es fühlt sich so an, als wäre das jetzt mal ein erster Schritt gewesen, um in einer verloren scheinenden Saison zu retten, war zu retten war. Oder, um ohne ganz große Gefahr auch einfach mal was ausprobieren zu können.

Bleibt das so?

Liverpool ist in einer Phase des Umbruchs und in diesem Sommer stehen viele personelle Weichenstellungen an. Für diese Entscheidungen braucht es Klarheit, welche Spielertypen welche Positionen wie ausfüllen können müssen. Das Experiment „Trent Alexander-Achter“ hat Potenzial, das haben die letzten zwei Monaten gezeigt, es wirft aber Fragen anderswo auf.

Bleibt Klopp beispielsweise beim 4-3-3? Im Winter hat er immer wieder mit anderen Systemen kokettiert, einem 4-4-2 etwa, um Rollen für Gakpo UND Núñez zu finden. Wenn Alexander-Arnold im Mittelfeld bleibt, soll dann ein anderer den Rechtsverteidiger spielen – oder deckt Klopp dann die Breite mit einer Dreierkette ab? Was passiert mit dem halbrechten Achter, wo soll der hin, ohne zwischen Alexander-Arnold und Salah im dichten Raum herumzustehen und wäre es nicht besser, diesen nach rechts zu schieben – und wäre dann nicht erst recht wieder ein echter Außenspieler besser? Oder traut es Klopp beispielsweise Harvey Elliott zu, einen Zehner im Zentrum zu spielen? Und in welcher Rolle genau wird Neuzugang Alexis Mac Allister seinen Platz im Team finden?

Die Entscheidung von Jürgen Klopp, Alexander-Arnold ins Zentrum zu schieben, hat also durchaus die eine oder andere Frage beantwortet. Sie hat aber wohl noch mehr neue Fragen aufgeworfen.

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Über Philipp Eitzinger

Journalist, Statistik-Experte und Taktik-Junkie. Kein Fan eines bestimmten heimischen Bundesliga-Vereins, sondern von guter Arbeit. Und voller Hoffnung, dass irgendwann doch noch alles gut wird.